Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 11. August 2010 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek, Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Mechtler als Schriftführer in der Strafsache gegen Hans Georg L***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen Vorgänge in der Hauptverhandlung und das Urteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 21. September 2009, GZ 9 U 238/08z-18, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:
Spruch
Im Verfahren AZ 9 U 238/08z des Bezirksgerichts Innsbruck verletzen
1./ die Verhandlung und Urteilsfällung vom 21. September 2009 in Abwesenheit des Angeklagten § 427 Abs 1 StPO,
2./ die in dieser Verhandlung erfolgte Verlesung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. La***** § 252 Abs 1 Z 4 StPO iVm § 458 letzter Satz StPO.
Das Abwesenheitsurteil vom 21. September 2009 und der gemeinsam mit diesem Urteil ergangene Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO werden aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck verwiesen.
Die Staatsanwaltschaft wird mit ihrer Berufung auf diese Entscheidung verwiesen.
Text
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Innsbruck legte Hans Georg L***** im Verfahren AZ 9 U 238/08z des Bezirksgerichts Innsbruck mit Strafantrag vom 24. Juni 2008 das Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zur Last (ON 4).
Weil dem Angeklagten die Ladung zur Hauptverhandlung nicht zugestellt und sein Aufenthalt nicht eruiert werden konnte, wurde er zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben (ON 7) und das Verfahren gemäß § 197 Abs 1 StPO abgebrochen (ON 8).
Am 30. September 2008 wurde eine Neuanzeige samt weiterem Strafantrag der Staatsanwaltschaft Innsbruck vom 29. September 2008 gegen Hans Georg L***** wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB gemäß § 37 StPO einbezogen (ON 10, ON 1/S 2).
Nachdem eine Ladungsanschrift des Angeklagten bekannt geworden war, wurde er am 6. August 2009 von einem Rechtspraktikanten beim Bezirksgericht Innsbruck „gemäß § 48 StPO als Beschuldigter“ - „nAv“ (= nach Anleitung von), aber ersichtlich ohne Anwesenheit eines Richters - ausschließlich zum Gegenstand des (ersten) Strafantrags vom 24. Juni 2008 vernommen (ON 12). Über Auftrag des Bezirksgerichts vom 6. August 2009 erstattete der Sachverständige Univ.-Prof. Dr. Werner La***** ein schriftliches Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten (ON 13).
Zur Hauptverhandlung vom 21. September 2009 erschien der Angeklagte nicht (ON 17), wobei seine persönliche Ladung durch Hinterlegung ausgewiesen war (Zustellnachweis auf ON 4). Die Bezirksrichterin fasste den Beschluss auf Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten gemäß § 427 Abs 1 StPO und verlas ua „gemäß § 252 Abs 1 Z 4 StPO“ das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dr. La***** (ON 17).
Mit Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 21. September 2009 wurde der Angeklagte der Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB (1./) und der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (2./) schuldig erkannt (ON 18). Beschlussmäßig sah die Bezirksrichterin überdies gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO vom Widerruf der bedingten Entlassung zum AZ 37 BE 26/07i des Landesgerichts Innsbruck ab und verlängerte gemäß Abs 6 leg cit die Probezeit auf fünf Jahre.
Während der Angeklagte das Urteil unbekämpft ließ, führte die Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten eine auf § 468 Abs 1 Z 1 iVm § 281 Abs 1 Z 1 StPO gestützte Berufung wegen Nichtigkeit aus (ON 20). Das Rechtsmittelverfahren ist derzeit beim Landesgericht Innsbruck (AZ 21 Bl 175/10h) anhängig.
Rechtliche Beurteilung
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, stehen die Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten sowie die Verlesung des Sachverständigengutachtens Dris. La***** mit dem Gesetz nicht im Einklang.
Gemäß § 427 Abs 1 StPO darf die Hauptverhandlung ua nur dann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und in dieser ein Urteil gefällt werden, wenn der Angeklagte zuvor gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen wurde. Nur eine dem Abwesenheitsverfahren vorangegangene, den gesamten Anklagevorwurf erfassende förmliche Vernehmung des Angeklagten als Beschuldigtem iSd §§ 164, 165 StPO trägt dem durch Art 6 MRK auf Verfassungsebene gehobenen Grundsatz des beiderseitigen Gehörs hinreichend Rechnung (vgl Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 8).
Vorliegend wurde der Angeklagte zum Vorwurf in Richtung Diebstahl weder durch die Kriminalpolizei, noch durch die Staatsanwaltschaft, noch durch einen Richter, sondern bloß durch einen Rechtspraktikanten ohne Bestätigung der Angaben vor einem vernehmungsbefugten Organ vernommen (dazu RIS-Justiz RS0096113), sodass eine den Kriterien der §§ 164, 165 StPO gleichkommende Vernehmung (Beispiele hiefür Bauer/Jerabek, WK-StPO § 427 Rz 8) nicht vorlag. Zum Vorwurf der Sachbeschädigung nach § 125 StGB wiederum wurde er überhaupt nicht vernommen.
Mangels vorheriger förmlicher Vernehmung zu den Anklagepunkten verstießen Verhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten gegen § 427 Abs 1 StPO.
Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen ua Gutachten von Sachverständigen in der Hauptverhandlung nur in den im Gesetz genannten Fällen (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO) verlesen werden. Weil hier keiner der aufgezählten Ausnahmetatbestände vorlag, war die Verlesung des Sachverständigengutachtens unzulässig. Eine einverständliche Verlesung iSd Z 4 leg cit konnte nicht stattfinden, weil aus dem Fernbleiben des gesetzeskonform geladenen Angeklagten von der Hauptverhandlung seine Verlesungszustimmung iSd § 252 Abs 1 Z 4 StPO nicht abgeleitet werden kann (RIS-Justiz RS0117012; Kirchbacher, WK-StPO § 252 Rz 103).
Die dargelegten Gesetzesverletzungen waren festzustellen und es waren gemäß § 292 letzter Satz StPO das zum Nachteil des Angeklagten wirkende Urteil und der gemeinsam mit diesem gefasste Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Innsbruck zu verweisen.
Die Staatsanwaltschaft war mit ihrer Berufung auf diese Entscheidung zu verweisen.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E94933European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0150OS00080.10V.0811.000Im RIS seit
29.09.2010Zuletzt aktualisiert am
29.01.2013