Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 19. August 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher und Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fuchs und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bayer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Martin F***** und andere Angeklagte wegen Verbrechen des grenzüberschreitenden Prostitutionshandels nach § 217 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerden und die Berufungen der Angeklagten Sofia S***** und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 13. November 2008, GZ 22 Hv 144/05a-457, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.
Der Angeklagten Sofia S***** fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurden, soweit für das Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerden von Bedeutung, MMag. Dr. Ewald R***** freigesprochen (§ 259 Z 3 StPO) und Sofia S***** mehrerer Verbrechen des grenzüberschreitenden Prostitutionshandels nach § 217 Abs 1 StGB schuldig erkannt.
Der Freispruch des Erstgenannten „von der in der Hauptverhandlung am 10. November 2008 ausgedehnten Anklage der Staatsanwaltschaft Graz vom 15. Juli 2005“ (US 8) betraf die Vorwürfe (ON 218, S 101/XI, 186/XI), er habe
(A/I der Anklageschrift) in Graz und an anderen Orten zumindest ab März 2001 bis April 2004 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Sofia S***** als Mittäter in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, von der Staatsanwaltschaft namentlich genannte moldawische Frauen, mögen diese auch bereits der Prostitution nachgegangen sein, der Prostitution in einem anderen Staat als in dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besaßen oder in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, zugeführt oder hiefür angeworben und teilweise durch Täuschung über dieses Vorhaben verleitet, sich in einen anderen Staat zu begeben, indem er Bordellbetreibern in der Steiermark „anbot“, Mädchen aus Moldawien zur Ausübung der Prostitution zu „besorgen“, Sofia S***** die Mädchen in Moldawien anwarb, ihnen bei der Erlangung von Visa behilflich war, die Reise nach Österreich organisierte und unter seiner Mitwirkung vorfinanzierte, er die Frauen nach ihrer Ankunft abholte oder abholen ließ und gemeinsam mit Sofia S***** auf Bordelle aufteilte, und
(B) Mitte 2000 mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz Eniko P***** durch die Äußerung, wenn sie ihm die geforderten 25.000 S nicht zahle, würde er ihr ein paar Albaner schicken, dann würde sie schon sehen, was passiert, sohin durch gefährliche Drohung zur Bezahlung eines Geldbetrags von 25.000 S genötigt.
Dem Schuldspruch zufolge hat Sofia S***** in Graz und an anderen Orten von 2001 bis April 2004 in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen, im Urteil namentlich angeführte Frauen, mögen diese auch bereits der Prostitution nachgegangen sein, der Prostitution in einem anderen Staat als in dem, dessen Staatsangehörigkeit sie besaßen oder in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, angeworben und zugeführt, indem sie - zusammengefasst - mit ihnen in Moldawien in Kontakt trat, ihnen bei der Erlangung von Visa behilflich war und die Reise nach Österreich organisierte und vorfinanzierte.
Rechtliche Beurteilung
Die von der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch aus Z 5 und 9 lit a und von der Angeklagten Sofia S***** gegen den Schuldspruch nominell aus Z 5, 5a und 9 lit a, der Sache nach auch aus Z 9 lit b und 10 des § 281 Abs 1 StPO ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerden verfehlen ihr Ziel.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft
In Betreff des Freispruchs zum Vorwurf B der Anklageschrift (in Richtung des Verbrechens der Erpressung nach § 144 Abs 1 StGB) hat die Staatsanwaltschaft trotz uneingeschränkter Anfechtung des Urteils, soweit es den Angeklagten MMag. Dr. Ewald R***** betrifft (ON 467), gar keine Ausführungen erstattet. Demnach wird sie insoweit dem Gebot deutlicher und bestimmter Bezeichnung angeblich Nichtigkeit bewirkender Umstände (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO) nicht gerecht.
Auch die Anfechtung des übrigen Freispruchs entspricht nicht der Prozessordnung:
Indem die Staatsanwaltschaft aus Z 5 reklamiert, dass Feststellungen fehlen, und teils aus Z 5 sowie aus Z 9 lit a Konstatierungen „bekämpft“ und gegenteilige „begehrt“, verkennt sie, dass der erstgenannte Nichtigkeitsgrund nur Kritik an getroffenen Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen und der diesbezüglichen Beweiswürdigung - nach Maßgabe der von § 281 Abs 1 Z 5 StPO eröffneten Anfechtungskategorien - ermöglicht, und der zweitgenannte verlangt, ausgehend vom konstatierten Sachverhalt einen Rechtsfehler (mit anderen Worten eine verfehlte rechtliche Konsequenz) oder einen Feststellungsmangel aufzuzeigen (RIS-Justiz RS0122721, RS0119884; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 393, 397, 591, 600, 605, 611).
Feststellungsmängel geltend zu machen bedeutet, unter Hinweis auf einen nicht durch Feststellungen geklärten, jedoch indizierten Sachverhalt eine vom Erstgericht nicht gezogene rechtliche Konsequenz anzustreben (RIS-Justiz RS0118580; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 600). Dabei hat die Anfechtung eines Freispruchs (Z 9 lit a) übrigens auf alle Tatbestandsmerkmale abzustellen (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 607).
Auch daran ist das Beschwerdevorbringen der Staatsanwaltschaft nicht orientiert, soweit es mit dem Einwand vermeintlich fehlender Konstatierungen über die getroffenen (Negativ-)Feststellungen zur inneren Tatseite bei MMag. Dr. Ewald R***** (US 23) hinweggeht.
Einander widersprechende Feststellungen zur Frage, ob dieser Angeklagte vier im Urteil namentlich genannte Frauen in Ungarn oder in Wien abholte (US 13 f, 20; Z 5 dritter Fall), betreffen keine entscheidende Tatsache.
Zur Nichtigkeitsbeschwerde der Angeklagten Sofia S*****
Die auf Konstatierungen zur Gewerbsmäßigkeit bezogene Argumentation der Mängelrüge (Z 5 vierter Fall) vernachlässigt (zu den Punkten 1.d sowie 4.b und c der Beschwerde), dass die Tatrichter ihre Gewissheit über die wenigstens teilweise Glaubwürdigkeit der Zeuginnen Karina D***** und Paulina W***** aus der Übereinstimmung ihrer Angaben zum Verdienststreben der Angeklagten (vgl US 35 ff) mit dem als plausibel erachteten finanziellen Motiv des Handelns Letzterer gewannen (US 40, 104). Sie beachtet demnach nicht die Gesamtheit der Entscheidungsgründe (RIS-Justiz RS0119370).
Die Erwägungen des Schöffengerichts zur genannten Willensausrichtung der Angeklagten (US 104 f) sind unter dem Gesichtspunkt der Begründungstauglichkeit (Z 5 vierter Fall) nicht zu beanstanden. Das diesbezügliche Beschwerdevorbringen unternimmt eine Anfechtung der Beweiswürdigung nach Art einer im schöffengerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung.
Letzteres gilt auch für die Einwände betreffend Tereza G***** (vgl US 29), soweit sie an einer auch sie betreffenden Tatbegehung „erhebliche Zweifel“ geltend machen. Unzureichende Begründung (Z 5 vierter Fall) wird mit dem Hinweis auf die Aktenlage - der übrigens die den Feststellungen entsprechende Aussage der Zeugin Sofia Pu***** (S 51 f/V) umfasst - gerade nicht aufgezeigt (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 444).
Soweit die Angeklagte ohne Angabe der genauen Fundstelle im umfangreichen Aktenmaterial ungewürdigt gebliebene „Grenzübertrittsstempel“ in ihrem Reisepass ins Treffen führt (Z 5 zweiter Fall), wird sie dem Gebot deutlicher und bestimmter Bezeichnung angeblich Nichtigkeit bewirkender Umstände (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO) nicht gerecht (RIS-Justiz RS0124172). Sie bezieht sich insoweit auch nicht auf entscheidende Umstände, weil es für die Strafbarkeit nach § 217 Abs 1 StGB nicht darauf ankommt, ob die Angeklagte Frauen zu Botschaften begleitet hat. Zudem wurde das Verfahren betreffend Olga Pa***** und Marina M***** ausgeschieden (S 186/XI).
Der im Rahmen der Mängelrüge (Z 5) erhobene Einwand, der im Urteilsspruch genannte Tatzeitraum ergebe sich nicht aus den Entscheidungsgründen, bezieht sich auf keine für die Subsumtion entscheidende Tatsache und entspricht daher auch mit Blick auf die Erfordernisse einer Rechtsrüge (Z 9 lit a oder 9 lit b) nicht der Prozessordnung (siehe zum Beginn des Tatzeitraums im Übrigen US 11).
Weshalb für die Annahme von Gewerbsmäßigkeit (§ 217 Abs 1 zweiter Strafsatz StGB) - nominell aus Z 5, der Sache nach aus Z 10 vermisste - Feststellungen über den Verdienst der Angeklagten, das Abrechnungsverhältnis mit einem anderen Angeklagten, die Höhe der wechselseitig begründeten Forderungen, die sich daraus ergebenden Defizite oder Überschüsse und die Höhe der tatsächlich erzielten Einnahmen zu treffen gewesen wären, leitet die Beschwerde (zu 4.b bis d) nicht aus dem Gesetz ab (vgl Jerabek in WK² § 70 Rz 2, 13).
Soweit sich die Beschwerde - abermals ohne Angabe der Fundstellen im umfangreichen Akt (RIS-Justiz RS0124172) - auf Aussagen von fünf Zeuginnen beruft, aus denen sich nicht ergebe, dass die Angeklagte selbst für die Mitwirkung am Grenzübertritt eine Belohnung in Anspruch genommen habe (demnach aber auch nicht das Gegenteil), rekurriert sie auf Angaben ohne erkennbare Eignung, die dem Gericht durch die Gesamtheit der übrigen Beweisergebnisse vermittelte Einschätzung vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer entscheidenden Tatsache maßgeblich zu verändern (Z 5 zweiter Fall; RIS-Justiz RS0116877).
Indem die Angeklagte auf jene Erwägungen der Entscheidungsgründe hinweist, mit denen die Feststellung ihrer Kenntnis von der Rechtswidrigkeit ihres Verhaltens fundiert wurde (Punkt 5.a; US 105 iVm 79 f), räumt sie selbst ein, dass von fehlender Begründung (Punkt 5.e; Z 5 vierter Fall) keine Rede sein kann. Sie legt aber (zu 5.d) auch nicht deutlich und bestimmt dar (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO), weshalb diese Erwägungen im Sinn des § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO offenbar unzureichend sein sollen (vgl RIS-Justiz RS0118317, RS0116732, RS0108609). Auf die Angaben des Zeugen Dr. K***** kam es - wovon auch die Beschwerde ausgeht (Punkt 5.g) - bei der Argumentation des Schöffengerichts nicht an, weshalb das darauf bezogene Vorbringen ins Leere geht (US 105).
Mit dem Einwand, es sei „unrichtig“, dass sich die Angeklagte in Moldawien in Haft befand, orientiert sich die Beschwerde abermals nicht an den Anfechtungskategorien des Nichtigkeitsgrundes nach § 281 Abs 1 Z 5 StPO. Die Entscheidungsgründe lassen zudem erkennen, dass das Erstgericht dem Hinweis auf ein Strafverfahren gegen die Angeklagte in Moldawien nur illustrative Bedeutung zumaß (siehe US 79 f mit Bezugnahme auf ON 343, wonach ein entsprechendes Verfahren erst seit 1. April 2004 anhängig gewesen sein soll), sodass auch die auf jenes Verfahren bezogenen weiteren Einwände nicht zielführend sind.
Z 5a des § 281 Abs 1 StPO will als Tatsachenrüge nur schlechterdings unerträgliche Feststellungen zu entscheidenden Tatsachen (das sind schuld- oder subsumtionserhebliche Tatumstände, nicht aber im Urteil geschilderte Begleitumstände oder im Rahmen der Beweiswürdigung angestellte Erwägungen) und völlig lebensfremde Ergebnisse der Beweiswürdigung durch konkreten Verweis auf aktenkundige Beweismittel (bei gleichzeitiger Bedachtnahme auf die Gesamtheit der tatrichterlichen Beweiswerterwägungen) verhindern. Tatsachenrügen, die außerhalb solcher Sonderfälle auf eine Überprüfung der Beweiswürdigung abzielen, beantwortet der Oberste Gerichtshof ohne eingehende eigene Erwägungen, um über den Umfang seiner Eingriffsbefugnisse keine Missverständnisse aufkommen zu lassen (RIS-Justiz RS0118780).
Mit den zur Gewerbsmäßigkeitsqualifikation vorgebrachten Hinweisen auf - im Urteil ohnedies erörterte - Widersprüche in den Aussagen der Zeuginnen Karina D***** und Paulina W***** werden keine sich aus den Akten ergebenden erheblichen Bedenken des Obersten Gerichtshofs gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde liegenden entscheidenden Tatsachen geweckt, ebenso wenig mit der Bezugnahme auf Zeugenaussagen, denen zufolge der Erstangeklagte auch selbst „den Umzug von Prostituierten“ organisierte.
Weil es für die in Rede stehende Qualifikation auf die Willensausrichtung der Angeklagten (vgl § 70 StGB), aber nicht auf tatsächliche Einnahmegewinnung ankommt (Jerabek in WK² § 70 Rz 13), bedurften Beweisergebnisse zu Letzterer der Beschwerde zuwider (nominell Z5a, der Sache nach Z5 zweiter und vierter Fall) keiner Erörterung.
Die in der Rechtsrüge (Z 9 lit a) vermissten Feststellungen zum „Zuführen“ finden sich - prozessordnungswidrig übergangen - auf US 13 bis 15.
Worin ein bloßer - sachverhaltsfreier (RIS-Justiz RS0119090, RS0098936) - Gebrauch von verba legalia liegen soll, macht die Beschwerde nicht deutlich (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO).
Bei Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes nach Z 9 lit a auf eine Betrachtung des Beweisverfahrens statt auf den festgestellten Sachverhalt abzustellen, entspricht nicht der Prozessordnung (RIS-Justiz RS0099810).
Weshalb es beim Tatbestand des § 217 Abs 1 StGB auf ein Abhängigkeitsverhältnis ankommen soll, leitet die Beschwerde zu Punkt 7.a gar nicht und zu Punkt 7.c - der just auf Sachverhalte abstellt, bei denen es nicht um gezielte Einflussnahme auf Tatopfer zur Verlagerung der gesamten Lebensführung als Prostituierte in einen fremden Staat geht - nicht methodengerecht aus dem Gesetz ab (vgl 13 Os 151/03, JBl 2004, 531 [Burgstaller] = SSt 2003/98; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 588; RIS-Justiz RS0116565).
Sie sagt auch nicht, welche Feststellungen zur inneren Tatseite über die getroffenen hinaus (US 15 f) sie für erforderlich hält, und weshalb es für die rechtliche Annahme von Gewerbsmäßigkeit bedingten Vorsatzes bedurft hätte (vgl § 70 StGB).
Die Beschwerdeargumentation betreffend das Vorliegen entschuldbaren Rechtsirrtums (§ 9 StGB; Z 9 lit b) geht an der diesbezüglichen Feststellung vorbei (US 12).
Die Nichtigkeitsbeschwerden waren daher bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Kompetenz des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen folgt (§ 285i StPO).
Die Kostenersatzpflicht der Angeklagten Sofia S***** beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E95007European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0130OS00087.09G.0819.000Im RIS seit
03.10.2010Zuletzt aktualisiert am
03.10.2010