Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 24. August 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Skrdla als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Misko S*****, AZ 9 HR 297/09v des Landesgerichts Wels, über den Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Text
Gründe:
Aufgrund kriminalpolizeilicher Mitteilungen über einen Haftbefehl des Gerichts 1 in Skopje vom 29. Juni 2009 (ON 2) und über Hinweise auf einen inländischen Aufenthaltsort des Verdächtigen wurde der mazedonische Staatsangehörige Misko S***** über gerichtlich bewilligte Anordnung der Staatsanwaltschaft am 9. Oktober 2009 festgenommen (ON 5) und mit Beschluss des Einzelrichters im Ermittlungsverfahren vom 11. Oktober 2009 mangels Vorliegens von Haftgründen enthaftet (ON 1 S 4, ON 7 S 7).
Das von der Festnahme verständigte Justizministerium der Republik Mazedonien ersuchte mit Note vom 22. Oktober 2009 (ON 17) das österreichische Bundesministerium für Justiz aufgrund des Europäischen Auslieferungsübereinkommens um Auslieferung des Genannten zur Strafvollstreckung einer über ihn mit (Abwesenheits-)Urteil des Amtsgerichts Skopje 1 Skopje IV K. Nr 268/99 vom 18. Dezember 2002 (rechtskräftig seit dem 6. Mai 2003) wegen zweier Straftaten des schweren Diebstahls nach Art 236 Abs 1 Z 1 iVm Art 45 bzw 22 des mazedonischen StGB sowie vier Straftaten des Diebstahls nach Art 235 Abs 1 (eine davon iVm Art 22) des mazedonischen StGB verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Mit Note vom 3. Dezember 2009 (ON 21) sicherten die mazedonischen Behörden zu, der betroffenen Person das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren zu gewährleisten, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden (Art 3 Abs 1 ZP-EuAlÜbk). Angeschlossen wurden Auszüge aus den entsprechenden Bestimmungen des mazedonischen Gesetzes über das Strafverfahren, wonach ein in Abwesenheit des Angeklagten geführtes Verfahren aufgrund eines innerhalb eines Jahres ab Zustellung des Abwesenheitsurteils an den Verurteilten eingebrachten Ersuchens zu wiederholen ist, soferne dieser für das Gericht erreichbar ist und erklärt, an der Verhandlung teilzunehmen und bis zur rechtskräftigen Beendigung des Strafverfahrens erreichbar zu bleiben (Art 424 des mazedonischen Gesetzes über das Strafverfahren iVm ON 21 S 13).
Nach dem Inhalt des Schuldspruchs des dem Auslieferungsbegehren zugrundeliegenden Urteils hat Misko S***** (zusammengefasst) zwischen 2. Mai und 21. Juni 1998 in insgesamt sieben Fällen, teils gemeinsam und nach vorheriger Verabredung mit einem Mittäter anderen (im Urteil namentlich genannten) Personen fremde bewegliche Sachen im Wert von insgesamt 161.800 MKD (entsprechend etwa 2.700 Euro) in der Absicht weggenommen, sich diese rechtswidrig anzueignen, wobei er die Diebstähle in drei Fällen durch Einbruch (in ein Einfamilienhaus und eine Baracke) beging (ON 17 S 17 ff).
Mit Beschluss des Einzelrichters des Landesgerichts Wels vom 13. Jänner 2010, GZ 9 HR 297/09v-23, wurde die Auslieferung der betroffenen Person zur Strafverfolgung wegen der im erwähnten Urteil des Amtsgerichts Skopje beschriebenen Straftaten „bzw für den Fall, dass binnen einem Jahr ab Zustellung des Abwesenheitsurteils vom Beschuldigten kein Antrag auf neuerliche Durchführung des Strafverfahrens in seiner Anwesenheit gestellt“ wird, zur Strafvollstreckung der mit diesem Urteil über ihn verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten für zulässig erklärt (ON 23).
Das Oberlandesgericht Linz gab der dagegen von Misko S***** erhobenen Beschwerde mit Beschluss vom 1. März 2010, AZ 10 Bs 47/10y, keine Folge (ON 31).
Rechtliche Beurteilung
Dagegen wendet sich die als „Grundrechtsbeschwerde“ bezeichnete, angesichts des Vorbringens, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten subjektiven Rechten nach Art 8 MRK verletzt worden zu sein, der Sache nach als Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens (§ 363a Abs 1 StPO, grundlegend 13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832; RIS-Justiz RS0116089, RS0123230) zu wertende Eingabe des Misko S*****.
Dem Antrag kommt keine Berechtigung zu.
Es trifft zwar zu, dass unter bestimmten Umständen der Schutz des Familienlebens einer Ausweisung oder Abschiebung entgegenstehen kann (EGMR 2. 8. 2001, 54273/00, Boultif gg Schweiz; EGMR 18. 10. 2006, 46410/99, Üner gg Niederlande; EGMR 12. 1. 2010, 47486/06, Khan gg Vereinigtes Königreich), nämlich dann, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch eine Auslieferung beeinträchtigt würden (Meyer-Ladewig, EMRK² Art 8 Rz 25). Ein Eingriff begründet dann eine Verletzung von Art 8 MRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist oder kein legitimes Ziel verfolgt oder nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann (EGMR 28. 6. 2007, 31753/02, Kaya gg Deutschland).
Bei der zufolge Art 8 Abs 2 MRK erforderlichen Notwendigkeits- und Verhältnismäßigkeitsprüfung einer solchen das Familienleben beschränkenden Maßnahme ist insbesondere darauf abzustellen, ob den im ersuchten Staat wohnenden Familienmitgliedern zugemutet werden kann, der betroffenen Person in den Heimatstaat zu folgen und sich dort niederzulassen. Dies ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn begründete Aussicht besteht, dass sich die Familie relativ rasch in die Gesellschaft des ersuchenden Staates wird integrieren können (Villiger, EMRK² § 24 Rz 580; vgl auch Grabenwarter, EMRK³ § 22 Rz 43 f; Wildhaber in Karl, Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Art 8 Rz 424).
Auch die Auslieferung einer betroffenen Person zur Strafverfolgung oder -vollstreckung stellt einen Eingriff in den Schutzbereich des Art 8 MRK dar, der nur unter den Voraussetzungen des Art 8 Abs 2 MRK zulässig ist. Bei der damit ebenso notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung muss in Betreff des dabei anzulegenden Maßstabs im Blick behalten werden, dass den Interessen der betroffenen Person nicht (nur) - wie in Fällen der Ausweisung und Abschiebung - das öffentliche Interesse des ausweisenden Staates an der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung von künftigen Straftaten, sondern (auch) dasjenige des ersuchenden Staates an der Verfolgung bereits begangener Straftaten und der Vollstreckung dafür verhängter Sanktionen gegenübersteht (vgl auch EKMR 8. 12. 1997, 27279/95, Launder gg Vereinigtes Königreich, wonach die Auslieferung einer Person, um für bestimmte Straftaten vor Gericht gestellt zu werden, nur unter außergewöhnlichen Umständen ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig ist; in diesem Sinn auch EKMR 4. 9. 1995, 25342/94, Raidl gg Österreich; EGMR 18. 4. 2002, 72032/01, Aronica gg Deutschland; vgl dagegen aber [im Ergebnis Andersartigkeit der Sachverhalte verneinend] Murschetz, Auslieferung 219 f).
Davon ausgehend bestehen gegen die Auslieferung des Betroffenen nach Mazedonien auch im Licht des Art 8 MRK keine Bedenken:
Die gesetzlichen Grundlagen der Maßnahme bilden im vorliegenden Fall das zufolge BGBI 1999/186 und 1999/187 im Verhältnis zwischen Österreich und Mazedonien geltende Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 BGBl 1969/320 samt dem 2. Zusatzprotokoll vom 17. März 1978 BGBl 1983/297 der - das Europäische Auslieferungsübereinkommen laut dessen Art 28 Abs 2 bloß ergänzende und gemäß BGBl 1997/92 im Verhältnis zu Mazedonien weiterhin geltende - Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Auslieferung vom 1. Februar 1982 BGBl 1983/546 sowie subsidiär das ARHG (s dessen § 1).
Das Oberlandesgericht maß bei der umfassend vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung mit Blick auf die Schwere der dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden - nach österreichischem Recht als (richtig:) Verbrechen des durch Einbruch begangenen Diebstahls nach §§ 127, 129 Z 1 StGB zu beurteilenden - Straftaten und die massiv einschlägige, wenngleich länger zurückliegende wiederholte Vermögensdelinquenz des auch von früheren Strafvollzügen (unter anderem wegen des Verbrechens des Raubes) unbeeindruckt gebliebenen Beschwerdeführers, dessen privaten Interessen mit der Begründung kein höheres Gewicht als jenen der Öffentlichkeit an der Auslieferung bei, dass seinen Familienangehörigen durchaus zumutbare Verkehrsverbindungen zum Häftlingsbesuch in Mazedonien offen stünden und eine ausreichende medizinische Behandlung seiner an paranoider Schizophrenie erkrankten Ehefrau und seines an zystischer Fibrose leidenden Sohns „unter Zuhilfenahme diverser Familienhilfe- bzw Sozialeinrichtungen auch ohne die physische Anwesenheit“ der betroffenen Person gewährleistet sei (ON 31 S 5 f).
Der Erneuerungswerber weist dazu auf die nach seiner Ansicht geringe Höhe des durch die Auslieferungstaten entstandenen Schadens, die zwischen Verurteilung und Auslieferungsbegehren verstrichene Zeit und weiters auf die mit der regelmäßigen Anreise seiner Familienmitglieder nach Mazedonien auf dem (alleine zumutbaren) Luftweg verbundenen hohen Kosten sowie den Umstand hin, dass die notwendige Therapie seines Sohnes (Inhalation, Krankengymnastik und Verabreichung von Medikamenten) „verlässlich und regelmäßig“ von ihm durchgeführt werde, und behauptet, dass eine Übersiedlung seiner Familie nach Mazedonien „im Hinblick auf die notwendige medizinische Versorgung“ „nicht ratsam“ sei, ohne darauf einzugehen, weshalb eine Übernahme der medizinischen Betreuung von Ehefrau und Kind durch soziale Einrichtungen unmöglich oder deren Niederlassung in Mazedonien (trotz dort zur Verfügung stehender Unterkunft [ON 7 S 1]) unzumutbar sein sollte. Damit wird eine Fehlbeurteilung durch das Oberlandesgericht nicht aufgezeigt.
In Anbetracht der Art und Schwere der - keineswegs mit „geringfügigem“ Schaden verbundenen - Auslieferungstaten und des erst vor wenigen Jahren (2002) und in Kenntnis des anhängigen Strafverfahrens begründeten (ON 33 S 3; ON 21 S 35 ff) Wohnsitzes in Österreich ist die Entscheidung, den Erneuerungswerber zur Strafverfolgung oder - bloß bei Unterbleiben einer (nach eigenen Angaben jedoch bereits erfolgten [ON 22 S 8 f]) Antragstellung auf Wiederholung des Strafverfahrens in seiner Anwesenheit - zur Strafvollstreckung auszuliefern, gegenüber den damit verfolgten Zielen nicht unverhältnismäßig.
Der Erneuerungsantrag war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung des Antragstellers gemäß § 363b Abs 1 und Abs 2 Z 3 StPO bereits in nichtöffentlicher Sitzung als offenbar unbegründet zurückzuweisen.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E95013European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0140OS00087.10S.0824.000Im RIS seit
03.10.2010Zuletzt aktualisiert am
03.10.2010