TE OGH 2010/9/21 Bsw8400/07

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Veröffentlicht am 21.09.2010
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Szypusz gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 21.9.2010, Bsw. 8400/07.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Geschworenenberatung in Anwesenheit eines Dritten?

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (5:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist britischer Staatsbürger und ist zur Zeit in einem Gefängnis in Nottingham inhaftiert.

Am 30.5.2004 entbrannte zwischen dem Bf. und D. M. ein Streit in einer Wohnstraße. Eine halbe Stunde später schoss eine dritte Person, D. G., D. M. in den Hinterkopf. Das Opfer überlebte, erlitt jedoch dauerhafte Hirnschäden.

Der Bf. wurde aufgrund versuchten Mordes und wegen Morddrohungen angeklagt, da man davon ausging, dass er mit dem Handy eines Mitverdächtigen, M. H., den Schützen herbeibeordert habe. Im Strafverfahren wurde dies unter anderem durch Zeugenaussagen und insbesondere durch die Aufnahmen einer Videoüberwachungsanlage untermauert. Diese Aufnahmen wurden vor Gericht mehrmals gezeigt, wobei hierfür ein spezielles Abspielgerät benutzt wurde, um verschiedene Kameraeinstellungen und etwa Standbilder besser zeigen zu können. Das Gerät wurde vom Kriminalbeamten M. bedient, der diesbezüglich geschult und Teil des Ermittlungsteams im gegenständlichen Fall war.

Der Crown Court erlaubte es den Geschworenen, die Videoaufnahmen auch im Rahmen ihrer Beratung im Geschworenenzimmer anzusehen. Da das spezielle Abspielgerät jedoch dort nicht installiert werden konnte, schlug der Vertreter der Anklage vor, den Geschworenen die Aufnahmen im Gerichtssaal wieder vorzuspielen, wobei die Anwesenheit aller Personen, die nicht zu den Geschworenen zählten, ausgeschlossen sei. Ausnahmsweise sollte jedoch der Kriminalbeamte M. zugegen sein, um das Gerät zu bedienen. Der Richter und die Vertreter von D. G. und M. H. stimmten dem zu. Die Vertretung des Bf., von der nur der Nebenverteidiger (junior counsel) zugegen war, stimmte weder zu noch äußerte sie zunächst Einwände.

Die Geschworenen wurden angewiesen, keinerlei Kommunikation mit dem Kriminalbeamten M. zu führen, die über das Vor- und Zurückspulen der Aufnahmen hinausging, und die Beratungen darüber erst wieder im Geschworenenzimmer durchzuführen.

Während die Geschworenen etwa zwei Stunden alleine mit dem Kriminalbeamten M. die Aufnahmen ansahen, beantragte der Hauptverteidiger (leading counsel) des Bf., das Gericht wieder einzuberufen. Er brachte vor, dass es nicht zulässig sei, eine dritte Person, die nicht Geschworener ist, in das Geschworenenzimmer zu lassen, als dessen Erweiterung der Gerichtssaal in diesem Fall fungierte. Es müsse zumindest ein Gerichtsdiener anwesend sein, der überprüft, dass keine Kommunikation zwischen Geschworenen und Kriminalbeamten stattfindet. Im Ergebnis einigten sich das Gericht und die Parteienvertreter darauf, die Geschworenen fortan das Gerät selbst bedienen zu lassen, sodass keine weitere Person im Gerichtssaal anwesend sein musste.

Der Bf. wurde am 25.2.2005 des versuchten Mordes und der Morddrohungen für schuldig befunden und zu 25 Jahren Haft für den Mordversuch und zu drei Jahren Haft für die Morddrohungen verurteilt. M. H. wurde freigesprochen.

Der Bf. erhob Berufung beim Court of Appeal, da er die Integrität der Beratung der Geschworenen beeinträchtigt sah, jedoch erfolglos. Die Anwesenheit des Kriminalbeamten sei mit Zustimmung aller Beteiligten erfolgt und die Geschworenen seien entsprechend instruiert worden. Die völlige Abgeschiedenheit der Geschworenen gegenüber dritten Personen sei ferner ohnehin nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet, da sie Kontakt zu verschiedenen Personen, wie etwa Hotelpersonal, hätten. Es seien keine Anzeichen zu erkennen, dass die Beratung der Geschworenen tatsächlich von dritter Seite beeinflusst worden sei. Allerdings sei in Zukunft ein derartiges Vorgehen nicht wünschenswert. Da Videobeweise immer häufiger würden, müsse es ermöglicht werden, diese auch im Beratungszimmer der Geschworenen adäquat abzuspielen.

Eine Berufung an das House of Lords wurde nicht zugelassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet, in seinem Recht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) verletzt zu sein.

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Die Verletzung sei dem Bf. nach insofern erfolgt, als die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichts nicht ausreichend gesichert worden sei. Da der in seinem Fall eingesetzte Kriminalbeamte, der während des Verfahrens Kontakt zur Familie des Opfers gehabt habe, fast zwei Stunden lang allein mit den Geschworenen war, sei das Strafverfahren gegen ihn nicht fair gewesen.

Da die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK ist und auch keine anderen Gründe gegen deren Zulässigkeit sprechen, wird sie für zulässig erklärt (einstimmig).

Der GH merkt an, dass die Unparteilichkeit eines Gerichts, einschließlich der Geschworenen, sowohl von einem subjektiven als auch von einem objektiven Standpunkt aus gewährleistet sein muss. Die persönliche Unparteilichkeit eines Richters, also auch der Geschworenen, wird vermutet, solange nicht das Gegenteil bewiesen wurde. Vorliegend wird nicht bestritten, dass ein derartiger Beweis nicht erbracht wurde. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob ausreichende Garantien geschaffen wurden, um alle objektiven oder legitimen Zweifel an der Unparteilichkeit der Geschworenen ausschließen zu können. Die Bedenken des Bf. sind hierfür zwar relevant, jedoch nicht ausschlaggebend.

Der GH ist der Meinung, dass die Position des Kriminalbeamten M. und der Umstand, dass er zur Strafverfolgung des Bf. beitrug, unter den vorliegenden Umständen Grund für Zweifel an der Unparteilichkeit der Geschworenen sein könnten. Der GH hat nun zu prüfen, ob die verständlichen Bedenken des Bf. objektiv gerechtfertigt sind.

In früheren Fällen verlangte der GH stichhaltige Beweise für die Unparteilichkeit der Geschworenen, bevor er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK feststellte. So fand er etwa keine Konventionsverletzung in Fällen, in denen ein Geschworener im Unternehmen eines Zeugen der Anklage beschäftigt war (Anm.: EGMR 10.6.1996, Pullar/GB.), oder in denen ein Geschworener dem Richter eine Notiz zukommen ließ, in der er sich über die rassistische Gesinnung der Geschworenen beklagte (EGMR 25.2.1997, Gregory/GB, NL 1997, 53.).

Die Geschworenen mussten einen Eid bzw. eine eidesstattliche Erklärung darüber ablegen, den Bf. gewissenhaft zu beurteilen und anhand der vor Gericht vorgebrachten Beweise ein korrektes Urteil zu fällen. Außerdem wurden sie klar angewiesen, den Fall nicht mit Personen außerhalb ihres Kreises zu besprechen und insbesondere nicht mit dem Kriminalbeamten M. zu kommunizieren, insofern die Kommunikation nicht das Abspielen der Videoaufnahmen betraf, sowie alle darüber hinausgehenden Diskussionen im Beratungszimmer durchzuführen. Die Geschworenen wurden daher in keinem Zweifel gelassen, dass die Rolle des Beamten von rein technischer Natur war. Die Umstände zeigen auch keinen Grund, die Verlässlichkeit der Geschworenen in Bezug auf die Befolgung der Instruktionen anzuzweifeln.

Keiner der Geschworenen äußerte Bedenken in Bezug auf andere Mitgeschworene, nachdem die Videoaufnahmen gezeigt wurden. Der Kriminalbeamte M. wurde auch nicht angewiesen, spezielle Teile der Aufnahmen auszuwählen, um sie den Geschworenen erneut vorzuspielen. Ferner suchte der Richter das Einverständnis aller Parteienvertreter, wobei der Vertreter des Bf. keine Einwände äußerte.

Bezüglich der Äußerung des Court of Appeal, dass diese Vorgehensweise in zukünftigen Fällen nicht mehr verfolgt werden solle, betont der GH, dass es für ein Gericht nur natürlich ist, danach zu streben, künftige Strafverfahren derart zu gestalten, dass diese keinen Bedenken ausgesetzt werden. Da nicht jeder verfahrensrechtliche Fehler eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet, kann aus der Kritik an dem Vorgehen im Fall des Bf. nicht automatisch der Schluss gezogen werden, dass dies zur Unfairness des Verfahrens geführt habe.

Unter diesen Umständen stellt der GH fest, dass ausreichende Vorkehrungen getroffen wurden, um jeden sachlich gerechtfertigten oder legitimen Zweifel an der Unparteilichkeit der Geschworenen auszuschließen. Es ist keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festzustellen (5:2 Stimmen; Sondervotum von Richter Björgvinsson, gefolgt von Richter Garlicki).

Vom GH zitierte Judikatur:

Pullar/GB v. 10.6.1996, ÖJZ 1996, 874.

Gregory/GB v. 25.2.1997, NL 1997, 53; ÖJZ 1998, 194.

Sander/GB v. 9.5.2000.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 21.9.2010, Bsw. 8400/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 292) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_5/Szypusz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01028

Im RIS seit

17.01.2011

Zuletzt aktualisiert am

31.03.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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