TE OGH 2010/10/19 10Ob70/10g

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Veröffentlicht am 19.10.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen N*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirk 10, 1100 Wien, Van der Nüll Gasse 20), über den Revisionsrekurs des Kindes, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 1. Juli 2010, GZ 43 R 352/10y und 43 R 353/10w-65, womit infolge Rekurses des Kindes die Beschlüsse des Bezirksgerichts Favoriten vom 26. April 2010, GZ 2 PU 189/01s-101 und 2 PU 189/01s-102, bestätigt wurden, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die Minderjährige und ihre Eltern sind österreichische Staatsangehörige. Seit Dezember 2007 lebt sie bei ihrem Onkel in Polen, der auch mit der Obsorge für sie betraut ist. Die Eltern haben ihren Aufenthalt in Wien.

Mit Beschlüssen vom 26. 4. 2010 stellte das Erstgericht aufgrund eines vom durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien vertretenen Bund gestellten Antrags die dem Kind aufgrund von Unterhaltstiteln gegen Vater und Mutter gewährten Unterhaltsvorschüsse (s 10 Ob 55/09z) mit Ablauf des 30. 4. 2010 ein.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes nicht Folge. Die mit 1. 5. 2010 in Kraft getretene neue Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 sei auf Unterhaltsvorschüsse nicht anzuwenden. Damit bestehe auch die bisher geltende „Exportverpflichtung“ nicht mehr. Auch wenn keine Übergangsbestimmung bestehe, die einen Wegfall eines bis zum Inkrafttreten der neuen Koordinierungsverordnung bestehenden Anspruchs auf Unterhaltsvorschuss vorsehe, gebühre der Unterhaltsvorschuss nach Ansicht des Rekursgerichts nicht über den 30. 4. 2010 hinaus. Da zur Frage der sogenannten Exportverpflichtung im Zusammenhang mit der „neuen Wanderarbeitnehmerverordnung“ noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege, erklärte das Rekursgericht den Revisionsrekurs gegen seine Entscheidung für zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der unbeantwortet gebliebene Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Weitergewährung der Unterhaltsvorschüsse ab 1. 5. 2010.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, aber nicht berechtigt.

Die Revisionsrekurswerberin führt aus, Unterhaltsvorschüsse seien vom Anwendungsbereich der „neuen“ Wanderarbeitnehmerverordnung ausgenommen. Ob dadurch allerdings der beabsichtigte Wegfall der Exportverpflichtung bewirkt werden könne, sei fraglich, setze sich doch der Europäische Gerichtshof unter Berufung auf die Grundfreiheiten und die Freizügigkeits-VO über Ausnahmebestimmungen in Anhängen hinweg oder lasse er die in der Wanderarbeitnehmerverordnung gesetzten Grenzen der Sozialrechtskoordinierung im Hinblick auf die Unionsbürgerschaft außer Acht.

Dem ist zu erwidern:

 Im vorliegenden Fall ist nicht strittig, dass die Minderjährige aufgrund der VO (EWG) 1408/71 bis 30. 4. 2010 Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hatte. Mit 1. 5. 2010 wurden die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I der neuen Koordinierungsverordnung sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden. Dies bedeutet - wie der Oberste Gerichtshof bereits ausgesprochen hat -, dass seit dem 1. 5. 2010 Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen sind (10 Ob 45/10f; 10 Ob 25/10i; 10 Ob 14/10x). Die vom Europäischen Gerichtshof für den österreichischen Unterhaltsvorschuss in der Rs-Humer (vgl EuGH 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205) nach der VO (EWG) 1408/71 statuierte Exportverpflichtung für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, besteht aufgrund der Unanwendbarkeit des Koordinierungsrechts nicht mehr (10 Ob 45/10f; Felten/Neumayr, Die neue Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, iFamZ 2010, 164 ff [165 f]; Pfarrhofer, Verpflichtung zum Export von Unterhaltsvorschussleistungen ist entfallen, Zak 2010/395, 229; Spiegel, Die neue europäische Sozialrechtskoordinierung in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU 9 ff [24], Marhold, Neuordnung der Koordinierung der Familienleistungen in Marhold [Hrsg], Das neue Sozialrecht der EU 55 ff [57] ua). Es liegt im Anlassfall aber auch keine Konstellation vor, bei der allenfalls aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (ex-Art 12 EG) oder aus der VO (EWG) 1612/68 ein Anspruch des Kindes auf österreichischen Unterhaltsvorschuss abgeleitet werden könnte (vgl Felten/Neumayr aaO iFamZ 2010, 166 ff). Dem Kind steht daher aufgrund der seit 1. 5. 2010 geltenden Rechtslage ein Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse nicht (mehr) zu.

Nach ständiger Rechtsprechung hat das Gericht auf eine Änderung der Rechtslage in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind. Es ist daher grundsätzlich nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen, ob eine Rechtsänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist (RIS-Justiz RS0031419). Sofern der Rechtssetzer nicht ausdrücklich anderes verfügt oder wenn der besondere Charakter einer zwingenden Norm nicht deren Rückwirkung verlangt, ist sie insoweit nicht anzuwenden, als der zu beurteilende Sachverhalt vor Inkrafttreten der neuen Bestimmung endgültig abgeschlossen ist. Bei Dauerrechtsverhältnissen ist im Fall einer Rechtsänderung mangels abweichender Übergangsregelung der in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Gesetzes reichende Teil des Dauertatbestands nach der Rechtslage nach dem Inkrafttreten der Änderung zu beurteilen (10 Ob 45/10f; 10 Ob 14/10x, 6 Ob 263/04a ua).

Die neue VO (EG) 883/2004 enthält in ihrem Art 87 keine spezielle Übergangsbestimmung für bereits bewilligte Unterhaltsvorschüsse, die aufgrund der alten VO (EWG) 1408/71 in das EU-Ausland exportiert werden. Bei Ansprüchen nach der VO (EWG) 1408/71 handelt es sich in der Regel um Ansprüche, die erst durch das Unionsrecht entstanden sind. Es steht daher dem europäischen Gesetzgeber auch zu, diese Ansprüche zu ändern (vgl Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht5 Teil 2 Art 87 Rz 4). Da der Unterhaltsvorschussantrag in die Zukunft gerichtet ist, ist die Änderung der Rechtslage mit 1. 5. 2010 zu berücksichtigen und es ist für die Perioden ab dem 1. 5. 2010 demnach bereits die neue Rechtslage anzuwenden (10 Ob 45/10f; 10 Ob 14/10x mwN).

Schlagworte

Unterhaltsrecht,Europarecht

Textnummer

E95396

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0100OB00070.10G.1019.000

Im RIS seit

14.12.2010

Zuletzt aktualisiert am

20.03.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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