Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter ADir. Brigitte Augustin (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D*****, vertreten durch die Sachwalterin Dr. Ingeborg Reuterer, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Invaliditätspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 25. Juni 2010, GZ 9 Rs 62/10v-24, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 28. Jänner 2010, GZ 13 Cgs 335/08m-21, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen der Klagevertreterin die mit 185,76 EUR (darin enthalten 30,96 EUR Umsatzsteuer) bestimmten anteiligen Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die am 3. 5. 1973 geborene Klägerin hat zwischen 1990 und 1994 43 Beitragsmonate der Pflichtversicherung als Mechanikerlehrling erworben; diese Lehre hat sie abgeschlossen. Danach war sie zeitweilig beschäftigt, dies im Jahr 1995 im Ausmaß von drei Monaten im Rahmen einer Umschulung, weiters im Jahr 1996 von 22. 5. bis 29. 8. bei der Firma M*****. Ihre berufliche Tätigkeit bei der Firma M***** bestand darin, als Regalbetreuerin und an der Kassa tätig zu sein. Darüber hinaus war die Klägerin kurzzeitig (unter drei Monaten) bei der Firma A***** als Fließbandarbeiterin mit der Aussortierung von ungenießbarem Gemüse beschäftigt, sowie bei der Firma S***** bei der Aussortierung beschädigter Elektronikteile.
Insgesamt hat die Klägerin bis zum 1. 11. 2009 120 Beitragsmonate erworben, davon 60 in der Pflichtversicherung nach dem ASVG und 60 in der Teilversicherung nach dem APG.
Die Klägerin steht seit 1992 unter Sachwalterschaft. Bei ihr besteht eine frühkindliche Persönlichkeitsstörung; weiters liegen Hinweise für eine manisch-depressive Erkrankung vor. Sie ist psychisch deutlich retardiert mit noch nicht ausreichend entwickeltem Realitätsbezug bei begabungsmäßig offenbar eher nur knapp durchschnittlicher bis leicht unterdurchschnittlicher intellektueller Befähigung. Bereits vor dem Jahr 1990 war eine Integration in eine normale Arbeitsumwelt nicht möglich; die Klägerin war als arbeitsunfähig am allgemeinen Arbeitsmarkt anzusehen.
Mit Bescheid vom 16. 9. 2008 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung einer Invaliditätspension ab 1. 5. 2008 ab.
Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin den Zuspruch der Invaliditätspension ab 1. 5. 2008 mit dem Vorbringen, sie sei nicht imstande, einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Außerdem stehe ihr die Invaliditätspension gemäß § 255 Abs 7 ASVG zu, da sie zum 1. 11. 2009 die erforderlichen 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben habe.
Die beklagte Partei bestritt das Vorliegen von Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG. Im Übrigen seien die von der Klägerin erworbenen Beitragsmonate nach dem APG keine Beitragsmonate im Sinn des § 232 Abs 1 ASVG und daher auch nicht im Sinn des § 255 Abs 7 ASVG.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin ab dem (neuen) Stichtag 1. 11. 2009 die Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und wies das auf Gewährung der Invaliditätspension auch für den Zeitraum vom 1. 5. 2008 bis 31. 10. 2009 gerichtete Mehrbegehren ab.
In rechtlicher Hinsicht kam das Erstgericht zum Ergebnis, dass die Klägerin zum (neuen) Stichtag 1. 11. 2009 120 Beitragsmonate in der Pflichtversicherung erworben habe, sodass sie die von § 255 Abs 7 ASVG geforderten Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditätspension erfülle. Nach § 3 Abs 1 Z 2 APG seien Versicherungszeiten nach dem 31. 12. 2004 erworbene Zeiten einer Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG, nach § 3 Abs 3 GSVG, nach § 4a BSVG und nach Art II Abschnitt 2a AlVG, für die der Bund, das Bundesministerium für Landesverteidigung, das Arbeitsmarktservice oder ein öffentlicher Fonds Beiträge zu zahlen habe. Bei der Klägerin lägen solche Beitragszeiten seit 2004 vor, wobei es sich im Wesentlichen um Krankengeldbezug, Notstandshilfe bzw Pensionsvorschuss gehandelt habe. Durch die Formulierung „mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz“ habe der Gesetzgeber in § 255 Abs 7 ASVG zum Ausdruck gebracht, dass sämtliche Beitragszeiten unter diese Bestimmung fallen sollten, weshalb das Klagebegehren ab dem Stichtag 1. 11. 2009 berechtigt sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei Folge und änderte das Ersturteil im (gänzlich) klagsabweisenden Sinn ab. Es übernahm die erstgerichtlichen Feststellungen und berief sich in seiner rechtlichen Beurteilung auf die zur Frage der Ausübung einer (berufsschutzerhaltenden) Tätigkeit während der Dauer des Krankengeldbezugs ergangenen Entscheidungen 10 ObS 139/09b und 10 ObS 162/09k, nach denen die nach § 8 Abs 1 Z 2 lit c ASVG erworbenen Monate einer Pflichtversicherung nicht als Ausübung eines erlernten Berufs zu zählen seien. Auch wenn es sich dabei gemäß § 225 Abs 1 Z 1 ASVG um Beitragszeiten handle, mache § 232 Abs 1 ASVG deutlich, dass der Gesetzgeber in Bezug auf die Feststellung der Leistungen aus der Pensionsversicherung Zeiten einer Pflichtversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG nicht als Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit behandle.
§ 255 Abs 7 ASVG stelle darauf ab, ob der Versicherte trotz seiner Beeinträchtigungen mindestens 120 „Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz“ erworben habe. In den Gesetzesmaterialien zu dieser Bestimmung finde sich der Hinweis darauf, dass von dieser Regelung Personen erfasst werden sollen, die trotz ihrer gerichtlich festgestellten Arbeitsunfähigkeit viele Jahre hindurch aktiv dem Arbeitsmarkt und damit der Versichertengemeinschaft angehört und Versicherungszeiten erworben hätten. Damit werde deutlich, dass die Zeiten, in denen eine bloße Teilversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG bestanden habe (diese habe die früheren Ersatzzeiten abgelöst), bei der Ermittlung der für einen Anspruch nach § 255 Abs 7 ASVG erforderlichen 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung keine Berücksichtigung finden könnten.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob Zeiten einer Teilversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG zu den in § 255 Abs 7 ASVG genannten Beitragsmonaten der Pflichtversicherung zu zählen seien, eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nicht vorliege und die Beantwortung dieser Frage über den Einzelfall hinaus Bedeutung habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die beklagte Partei beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.
Die Revisionswerberin macht zusammengefasst geltend, dass die von der Klägerin nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG erworbenen Versicherungszeiten bei der Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 7 ASVG zu berücksichtigen seien. Dafür spreche insbesondere der Wortlaut der Bestimmung („mindestens 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz“).
Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen.
Grundsätzlich ist auf die inhaltlich zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts zu verweisen (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).
Der Revision ist Folgendes zu entgegnen:
1. Das am 1. 1. 2005 in Kraft getretene Allgemeine Pensionsgesetz (APG) regelt - wie aus § 1 Abs 1 Z 3 APG folgt - nicht die Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditätspension. Diese sind weiter nach den §§ 254 f ASVG zu beurteilen (RIS-Justiz RS0125346). Durch das Pensionsharmonisierungsgesetz (BGBl I 2004/142), mit dem das APG erlassen und unter anderem das ASVG novelliert wurde, wurden die früheren Ersatzzeiten ab 1. 1. 2005 durch entsprechende Teilpflichtversicherungen in der Pensionsversicherung abgelöst (§ 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG). Personen, die - wie die Klägerin - nach dem 1. 1. 1955 geboren sind, können nach der seit 1. 1. 2005 geltenden Rechtslage keine Ersatzzeiten mehr erwerben. Die Zeiten, die früher als Ersatzzeiten qualifiziert wurden, werden bei der Berechnung der Pension wie Beitragszeiten mit einer Beitragsgrundlage behandelt und es müssen für sie auch Beiträge entrichtet werden, wenn auch nicht von der versicherten Person (bzw vom Dienstgeber), sondern vom Bund, vom Arbeitsmarktservice oder von einem öffentlichen Fonds (§ 3 Abs 1 Z 2 APG). Aus systematischen Gründen wird zwischen Zeiten einer Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung, die aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben wurden (§ 3 Abs 1 Z 1 APG), Zeiten einer Teilversicherung in der Pensionsversicherung, für die der Bund, das Arbeitsmarktservice oder ein öffentlicher Fonds Beiträge zu zahlen hat (§ 3 Abs 1 Z 2 APG), und Zeiten einer freiwilligen Versicherung in der Pensionsversicherung (§ 3 Abs 1 Z 3 APG) unterschieden (Teschner in Tomandl, SV-System [19. Erg-Lfg] 386/6 [2.4.3.1.3.]).
2. Zeiten einer Teilversicherung gemäß § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG sind als Zeiten der Pflichtversicherung gemäß § 225 ASVG „Beitragszeiten“ (Brodil/Windisch-Graetz, Sozialrecht in Grundzügen6 120). Wie § 232 Abs 1 ASVG zeigt, werden solche Zeiten einer Pflichtversicherung trotzdem nicht als Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit behandelt (RIS-Justiz RS0125347).
3. § 255 Abs 7 ASVG setzt voraus, dass der Versicherte, der schon bei Eintritt in das Erwerbsleben außer Stande war, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen, trotz seiner Beeinträchtigungen mindestens 120 „Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz“ erworben hat.
Nach den Gesetzesmaterialien sollen von dieser Bestimmung Personen erfasst werden, die trotz ihrer Arbeitsunfähigkeit viele Jahre hindurch aktiv dem Arbeitsmarkt und damit der Versichertengemeinschaft angehört und Versicherungszeiten erworben haben (RV 310 BlgNR 22. GP 18). In diesem Sinn liegt der Zweck der Bestimmung darin, dass Personen bevorzugt werden sollen, die trotz ihrer Beeinträchtigungen am Erwerbsleben teilgenommen haben. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmung mit 1. 1. 2004 (§ 610 Abs 1 Z 1 ASVG in der Fassung des 2. Sozialversicherungs-Änderungsgesetzes 2003, BGBl I 2003/145) lag das APG mit seinen Änderungen des ASVG noch in weiter Ferne; historisch betrachtet kann die Bezugnahme auf das ASVG oder ein anderes Bundesgesetz nicht Zeiten betreffen, die im Jahr 2004 Ersatzzeiten waren und erst durch die Umstellung des Pensionsrechts mit dem APG zu „besonderen“ Beitragszeiten mutierten, die nicht mit einer aktuellen Erwerbstätigkeit zusammenhängen.
4. In diesem Sinn sind Zeiten, die früher als Ersatzzeiten qualifiziert wurden und seit dem Inkrafttreten des APG der Teilversicherung nach § 8 Abs 1 Z 2 lit a bis g ASVG unterliegen, bei der Ermittlung der für einen Anspruch nach § 255 Abs 7 ASVG erforderlichen 120 Beitragsmonate der Pflichtversicherung nicht zu berücksichtigen.
Damit muss der Revision der Klägerin ein Erfolg versagt bleiben.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Da die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO abhängt, entspricht es der Billigkeit, der in angespannten Einkommensverhältnissen lebenden Klägerin die Hälfte ihrer Kosten im Revisionsverfahren zuzusprechen.
Schlagworte
12 Sozialrechtssachen,Textnummer
E95308European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:010OBS00145.10M.1019.000Im RIS seit
08.11.2010Zuletzt aktualisiert am
22.02.2013