TE OGH 2010/11/10 15Os118/10g

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Veröffentlicht am 10.11.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. November 2010 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schmucker als Vorsitzende sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek, Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Reichly als Schriftführerin in der Strafsache gegen Markus L***** wegen des Verbrechens der Unzucht mit Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB idF BGBl 60/1974 über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Schöffengericht vom 19. Jänner 2010, GZ 16 Hv 172/09a-20, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Markus L***** von der wider ihn erhobenen Anklage, er habe in B*****, Gemeinde F***** und W*****,

1.) an einem nicht mehr exakt feststellbaren Tag in den Jahren 1993 oder 1994 die am 18. Dezember 1985 geborene Barbara W***** dadurch sexuell missbraucht, dass er die Unmündige zunächst unter dem Vorwand, sie müsse baden, aufforderte, sich auszuziehen, ihr in weiterer Folge einen Zungenkuss gab, sie aufforderte, sich nach vorn über den Badewannenrand zu beugen und sein erigiertes Glied von hinten bis zum Samenerguss zwischen ihrem Gesäß und den Oberschenkeln rieb, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen;

2.) an zumindest drei nicht mehr exakt feststellbaren Tagen ab Sommer 1995 oder 1996 die am 10. August 1990 geborene Nicole U***** dadurch sexuell missbraucht, dass er in Gegenwart der Unmündigen onanierte, sie dazu veranlasste, ihm einen Zungenkuss zu geben und an seinem Glied zu lecken, sie im Scheidenbereich betastete und eine digitale Penetration vornahm, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft; sie ist im Recht.

Das Schöffengericht gründete seine Meinung, die Angaben der Zeuginnen Barbara W***** und Nicole U***** seien nicht glaubwürdig (US 3 f), ua darauf, dass diese anlässlich ihrer kontradiktorischen Vernehmungen mit ihrem Bildungsgrad nicht übereinstimmende Ausdrücke wie „Schamlippenbereich“, „Penis“, „ejakulieren“ (Zeugin W*****: US 10) oder „Glied“ (Zeugin U*****: US 12) verwendet hätten.

Die Zeugin Elisabeth van den H***** (Mutter der Zeugin Barbara W***** und Tante der Zeugin Nicole U*****) habe die beiden, zuvor genannten Belastungszeuginnen „instrumentalisiert“ und „indoktriniert“, gegen den Angeklagten belastende Angaben zu machen, weil sie in den Jahren 1987 oder 1988 (notariell) auf ihren Pflichtteil verzichtet habe, nunmehr aber auf eine erbrechtlich relevante Berücksichtigung dränge und zudem Hassgefühle gegen ihren Stiefvater hege (US 3 ff).

Die Darstellung der Zeugin van den H*****, sie sei im Alter von etwa 18 Jahren von ihrer Mutter und ihrem Stiefvater Emil Wa***** zu einer Erbverzichtserklärung bei Notar Dr. K***** gezwungen worden, sie wolle mit der Anzeige „einfach nur Gerechtigkeit“, erachteten die Tatrichter als unglaubwürdig, weil dem öffentlichen Notar Dr. K***** „nach persönlicher Kenntnis des Vorsitzenden“ nicht „zuzumuten“ sei, er würde von einer jungen Person einen, ihrem Willen nicht entsprechenden Erbverzicht entgegen nehmen (US 7).

Die Zeugin Nicole U***** sei zu den Tatzeitpunkten laut Anklage fünf oder sechs Jahre alt gewesen, wobei nach der im Verfahren AZ 14 Hv 138/09m des Landesgerichts Klagenfurt geäußerten „gesicherten wissenschaftlichen Ansicht“ des Sachverständigen Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller hinsichtlich eines Ereignisses in diesem Alter kein Erinnerungsvermögen eines Menschen bestehe (US 4). Im Rahmen der Wiedergabe der Aussage der Zeugin van den H***** verwies das Schöffengericht hinsichtlich der von ihr angegebenen Unzuchtshandlungen an der Zeugin Barbara W***** neuerlich auf die erwähnte Meinung des Sachverständigen und zog davon ausgehend das Erinnerungsvermögen des Tatopfers in Bezug auf im Alter von sechs Jahren Erlebtes in Zweifel (US 6).

Das Schöffengericht gründete bei dieser Beweiswürdigung seine Meinung, die Angaben der Tatopfer seien unglaubwürdig, somit nicht nur auf deren Körpersprache anlässlich der kontradiktorischen Vernehmungen und auf Widersprüche zu anderen Zeugenaussagen (Zeugin W*****: US 8 f; Zeugin U*****: US 11 f), sondern auch auf Erkenntnisquellen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren und somit keine verwertbaren Verfahrensergebnisse darstellen (§ 258 Abs 1 erster Satz StPO), nämlich auf den - nicht manifesten - Bildungsgrad der Tatzeuginnen, auf die - auf verfahrensfremde Kenntnisse des Vorsitzenden gestützte - Beurteilung dienstlicher Verrichtungen eines (nicht als Zeugen vernommenen) Notars und schließlich auf eine angeblich in einem nicht verlesenen Gerichtsakt enthaltene gutächtliche Äußerung eines Sachverständigen.

Nicht beweispflichtig sind bloß notorische Tatsachen, an denen vernünftigerweise niemand zweifeln kann (RIS-Justiz RS0098570). Als gerichtsnotorisch können nur Tatsachen gelten, die allen Mitgliedern des erkennenden Gerichts bekannt sind. Privates Wissen, aber auch dienstliches Wissen eines Richters über Inhalt und Ergebnisse anderer Verfahren zählen nicht hiezu (vgl Lendl, WK-StPO § 258 RZ 42; RIS-Justiz RS0096752).

Da sich das Urteil im entscheidungswesentlichen Bereich der Glaubwürdigkeitsbeurteilung der Tatopfer auch auf Umstände stützt, die in den vorliegenden Verfahrensergebnissen keine Deckung finden, ist es unzureichend begründet (vgl Lendl WK-StPO § 258 Rz 9; 12 Os 68/05z, 11 Os 55/04, 11 Os 142/01).

Das freisprechende Urteil war daher - in Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung des Verteidigers - in Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zu verweisen.

Schlagworte

Strafrecht

Textnummer

E95677

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0150OS00118.10G.1110.000

Im RIS seit

25.12.2010

Zuletzt aktualisiert am

25.12.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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