Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 11. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Holzweber als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll, Dr. Schwab, Dr. T. Solé und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bayer als Schriftführerin in der Strafsache gegen M***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten sowie über die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Steyr als Schöffengericht vom 20. Mai 2010, GZ 13 Hv 23/10t-20, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Linz zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde M***** des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB (1./) sowie des Vergehens des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nach §§ 15 Abs 1, 207b Abs 3 StGB (2./) schuldig erkannt.
Danach hat er am 13. März 2009 in K*****
„1./ eine wehrlose Person, nämlich die schlafende L*****, unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass er an ihr eine geschlechtliche Handlung vornahm, indem er mehrere Finger in ihre Vagina einführte;
2./ die am 8. Juni 1992 geborene L*****, somit einer Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, durch ein Entgelt zu verleiten versucht, eine geschlechtliche Handlung an ihm vorzunehmen, indem er sie aufforderte, gegen Bezahlung von 100 Euro einen Oralverkehr vorzunehmen, wobei die Tatvollendung aufgrund der Weigerung der L***** unterblieb“.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 5a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.
In der Verfahrensrüge (Z 4) kritisiert der Beschwerdeführer die Abweisung seines Antrags, „zum Beweis dafür, dass die Zeugin L***** sowohl zum Zeitpunkt der Tat als auch zum Zeitpunkt ihrer kontradiktorischen Einvernahme drogenabhängig und alkoholabhängig war, sowie unter Medikamenteneinfluss aufgrund ihrer Therapien stand und aus diesem Grund auch unmittelbar vor ihrer kontradiktorischen Einvernahme wegen eines Alkoholrückfalls ihre Therapie abgebrochen hat und sowohl zum Zeitpunkt der Tat als auch zum Zeitpunkt ihrer Aussagen vor der Polizei und dem Gericht psychisch erkrankt war, sowie Drogen, übermäßig Alkohol und Medikamente konsumiert hat und sowohl aufgrund dieser Umstände als auch aufgrund des Umstands, dass die Zeugin zum Zeitpunkt der Tat in Psychotherapie ging und erst kurz davor aus dem W***** Krankenhaus entlassen worden war sowie am 24. Juni wieder in eine Therapie ging, sowie aufgrund des Umstands, dass sie laut Aussage ihrer Mutter Phasen hatte, wo sie Sachen verdrehte oder nicht die Wahrheit gesagt hatte, ihre Wahrnehmung zum Zeitpunkt der Tat und auch später sowie ihr Erinnerungsvermögen beeinträchtigt waren und ihre Aussagen aufgrund der genannten Umstände nicht zuverlässig war und richtig und daher auch im Zusammenhalt mit den in ihren Aussagen enthaltenen zahlreichen Widersprüchen unglaubwürdig sind, die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens sowie eines Glaubwürdigkeitsgutachtens durch einen Sachverständigen aus dem Gebiet der Psychologie sowie die Einholung der Krankengeschichte der Zeugin bezüglich der Jahre 2008 und 2009.“
Durch die Abweisung dieses Begehrens wurden Verteidigungsrechte nicht beeinträchtigt:
Da ein Zeuge nicht verpflichtet ist, sich im Zuge einer Begutachtung durch einen Sachverständigen einer körperlichen Untersuchung zu unterziehen oder sonst an der Befundaufnahme mitzuwirken, wäre der Antragsteller verpflichtet gewesen darzulegen, warum anzunehmen ist, dass sich L***** dazu bereit finden würde (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 350). Überdies wäre im Beweisantrag darzulegen gewesen, weshalb auch die dazu notwendige Zustimmung der gesetzlichen Vertreterin (vgl RIS-Justiz RS0018956) zu erwarten wäre.
Abgesehen davon stellte das Erstgericht in Übereinstimmung mit dem Beweisantrag fest, dass L***** zwischen Ende 2008 und Anfang 2009 wegen Suizidgedanken behandelt wurde und Drogen konsumierte, weshalb sie auch Schlaftabletten mit leicht antidepressiver Wirkung - und zwar auch am Tattag - nehmen musste (US 3 f). Des Weiteren ging das Schöffengericht davon aus, dass L***** (wegen des dem Schuldspruch zugrunde liegenden Vorfalls) wiederum im W***** Krankenhaus stationär aufgenommen wurde und danach einen Suchtgiftrückfall hatte, der eine suchttherapheutische Behandlung zwischen Juni und Dezember 2009 erforderlich machte (US 5).
Weshalb aufgrund dieser Drogenabhängigkeit und des mehrfachen Alkoholmissbrauchs auf eine sowohl konkret zum Tatzeitpunkt als auch genau zu den Vernehmungsterminen vor Polizei und Gericht bestehende vollständige Wahrnehmungs- und Wiedergabeunfähigkeit dieser Zeugin (zu den damit nicht in Zusammenhang stehenden, allein den Tatrichtern zukommenden sonstigen Beweiswerterwägungen über die Verlässlichkeit einer Aussage vgl Kirchbacher, WK-StPO § 155 Rz 31) zu schließen wäre, wurde hingegen im Beweisbegehren nichts ausgeführt.
Desgleichen fehlen für die vorliegende Antragstellung notwendige Bezugspunkte zu einer notorischen Lügenhaftigkeit der Zeugin oder zu konkreten Anhaltspunkten für eine Falschaussage zum Tatgeschehen, weil aus den Angaben der Mutter des Tatopfers, wonach L***** Phasen hatte, wo sie Sachen verdrehte und nicht die Wahrheit gesagt hatte, keineswegs Indizien für eine krankhafte Realitätsverweigerung oder eine habituelle Falschbezichtigungstendenz abzuleiten sind (vgl Schroll/Schillhammer, AnwBl 2006, 448; 15 Os 54/05p).
Gleiches gilt für das begehrte aussagepsychologische Gutachten. Das methodische Grundprinzip eines aussagepsychologischen Gutachtens (im Sinn eines „Glaubwürdigkeitsgutachten“) besteht darin, den zu überprüfenden Sachverhalt, also die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage, so lange zu negieren, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der Sachverständige arbeitet dabei zunächst mit der Unwahrannahme als sogenannte Nullhypothese. Zu deren Prüfung hat er weitere Hypothesen zu bilden. Ergibt seine Prüfstrategie, dass die Unwahrhypothese mit den erhobenen Fakten nicht mehr in Übereinstimmung stehen kann, so wird sie verworfen, und es gilt dann die Alternativhypothese, dass es sich um eine wahre Aussage handelt (zur vergleichbaren Ausgangslage in der Bundesrepublik Deutschland vgl BGH 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746; siehe auch Nack, AnwBl 2010, 251 ff und Haller, Möglichkeit und Grenzen der Glaubwürdigkeitsbegutachtung, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz Band 143, 67 ff).
Bei der Begutachtung werden regelmäßig die Angaben des Begutachteten unter Heranziehung bestimmter Kriterien (zB logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Angeklagten, deliktsspezifische Aussageelemente) auf ihre inhaltliche Konsistenz zu prüfen sein (Inhaltsanalyse). Das so gefundene Ergebnis ist in der Regel im Wege der Konstanz-, der Fehlerquellen- sowie der Kompetenzanalyse zu überprüfen. Im Rahmen der Fehlerquellenanalyse wird es in Fällen, bei denen (auch unbewusst) fremdsuggestive Einflüsse in Erwägung zu ziehen sind, grundsätzlich erforderlich sein, die Entstehung und Entwicklung der Aussage aufzuklären (Aussagegenese). Mit der Kompetenzanalyse ist schließlich zu prüfen, ob die Aussage etwa durch Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Dazu bedarf es der Beurteilung der persönlichen Kompetenz der aussagenden Person, insbesondere ihrer allgemeinen und sprachlichen intellektuellen Leistungsfähigkeit sowie ihrer Kenntnisse in Bezug auf den Bereich, dem der erhobene Tatvorwurf zuzurechnen ist. Bei Sexualdelikten wird daher grundsätzlich die Durchführung einer Sexualanamnese in Betracht zu ziehen sein. Dies gilt zumindest bei Zeugen, bei denen - etwa aufgrund ihres Alters - entsprechendes Wissen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann (vgl BGH 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164).
Ein aussagepsychologisches Gutachten wäre daher nur dann geboten, wenn durch Beweisergebnisse aktenmäßig belegte Ansatzpunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage, insbesondere etwa für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von unmündigen oder psychisch kranken Personen vorliegen. Ein Suchtgift- oder Alkoholmissbrauch ohne sonstige, das Aussageverhalten beeinflussende, für ein aussagepsychologisches Gutachten im dargelegten Sinn relevante Begleiterscheinungen bietet daher keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Einholung einer derartigen Expertise.
Desgleichen unterließ der Angeklagte eine gebotene Konkretisierung seines Beweisbegehrens, weshalb aus den angeforderten Krankengeschichten eine die Wahrnehmungsfähigkeit und die wahrheitsgemäße Schilderung eines Geschehens unmöglich machende psychische Beeinträchtigung von L***** genau am Tattag und just an den Vernehmungsterminen vor Polizei und Gericht abgeleitet werden könnte.
Auf die in der Beschwerde darüber hinausgehend vorgebrachten, im Beweisantrag nicht enthaltenen Argumente (die teils unter Verweis auf anlässlich der Rechtsmittelausführung ausgedruckte Internetrecherchen untermauert werden) war nicht weiter einzugehen, bildet doch allein das in der Hauptverhandlung gestellte Begehren (samt den dazu vorgelegten Materialien) den Gegenstand der Entscheidung des Schöffengerichts, dessen Berechtigung der Oberste Gerichtshof daher stets auf den Antragszeitpunkt bezogen überprüft (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 325; RIS-Justiz RS0099618).
Die Mängelrüge (Z 5) behauptet mehrfach eine Aktenwidrigkeit, wobei aber aus den Aussagen der Zeugen lediglich Schlüsse zugunsten des Rechtsmittelwerbers gezogen werden, die zu jenen der Tatrichtern in einem diametralen Gegensatz stehen. Damit wird der vorgebrachte Nichtigkeitsgrund nicht zur Darstellung gebracht, stellt dieser doch einzig und allein darauf ab, dass zwischen den Angaben in den Entscheidungsgründen über den Inhalt einer Aussage und dem entsprechenden Protokoll selbst ein erheblicher Widerspruch besteht.
Der Einwand einer unvollständigen oder offenbar unzureichenden Begründung betreffend einen massiven Drogenkonsum unmittelbar vor der kontradiktorischen Einvernahme von L***** geht schon deswegen ins Leere, weil diesbezüglich nur eine genau gegenteilige Feststellung des Erstgerichts vorliegt (vgl US 7 f). Diese Beschwerdebehauptung bezieht sich daher lediglich auf eine spekulative Schlussfolgerung des Nichtigkeitswerbers, die er als entsprechend zu begründende, vom erkennenden Gericht indes nicht getroffene Konstatierung reklamiert.
Soweit der Rechtsmittelwerber unter Hervorhebung seiner eigenen Einlassung die Feststellungen zum Tathergang selbst als aktenwidrig, unvollständig bzw als offenbar unzureichend begründet kritisiert, zeigt er wiederum keinen Mangel iSd § 281 Abs 1 Z 5 StPO auf.
Gleiches gilt für die Behauptung eines inneren Widerspruchs, zumal der Beschwerdeführer nur aus seiner Verantwortung andere Schlüsse zieht, als die Tatrichter.
Die unterschiedlichen Angaben der Zeuginnen R***** und L***** zur Bezeichnung des vom Tatopfer eingenommenen Medikaments (von dessen Einnahme das Erstgericht ausging - vgl US 3 f) betreffen keinen entscheidungswesentlichen Umstand und waren daher der Beschwerde zuwider nicht weiter erörterungsbedürftig, zumal die divergierenden Namensnennungen tatsächlich eingenommener Medikamente nicht geeignet ist, die zur Feststellung entscheidender Tatsachen anzustellende Beweiswürdigung maßgeblich zu beeinflussen (vgl Ratz, WK-StPO § 281 Rz 409).
Mit dem nach der Tat zwischen M***** und R***** stattgefundenen E-Mail-Verkehr setzten sich die Tatrichter umfassend auseinander (US 5 und US 9). Die Kritik des Nichtigkeitswerbers erschöpft sich in der Schlussfolgerung, dass nach dem Inhalt dieser (nach den schöffengerichtlichen Erwägungen bloß zum Zweck der Ausforschung des der Mutter des Opfers aufgrund von Internetkontakten nur unter dessen Pseudonym bekannten Angeklagten versendeten) E-Mails sowie aus seiner im Verfahren eingenommenen Verantwortung die Angaben der Zeuginnen R***** und L***** nicht zu überzeugen vermögen.
Die Einwände des Beschwerdeführers in der Mängelrüge stellen daher zusammengefasst lediglich den Versuch dar, die im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht anfechtbare Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts zu bekämpfen.
Auf das auch in der Mängelrüge thematisierte Vorbringen, welches sich auf nach der Urteilsfällung vorgenommene Internetrecherchen stützt, war mit Blick auf das im Verfahren zur Entscheidung über die Nichtigkeitsbeschwerde geltende Neuerungsverbot (vgl Ratz, WK-StPO Vor § 280 Rz 14; Fabrizy StPO10 § 281 Rz 2) nicht weiter einzugehen.
Die Tatsachenrüge (Z 5a) wiederholt im Wesentlichen die bereits zur Verfahrens- und Mängelrüge dargestellten Argumente; insoweit ist der Rechtsmittelwerber auf die Ausführungen zu diesen Nichtigkeitsgründen zu verweisen.
Mit der Behauptung, das Erstgericht hätte die Wirkung des von L***** vor dem Schlafen gehen eingenommene Medikaments „Nocinan“ ermitteln und über einen Sachverständigen prüfen müssen, ob und unter welchem Medikamenteneinfluss die Zeugin tatsächlich stand und inwieweit dadurch ihre Wahrnehmungsfähigkeit beeinflusst war, übergeht der Beschwerdeführer zum einen, dass das Erstgericht die Wirkung dieser Tabletten auf L***** feststellte (US 3 f und US 6). Zum anderen legt die Rüge nicht dar, weshalb der Nichtigkeitswerber gehindert gewesen wäre, ein diesem Begehren entsprechendes Sachverständigengutachten dahingehend zu beantragen, dass das von L***** eingenommene Medikament „Nocinan“ gar kein starkes Schlafmittel sei und L***** dazu daher falsche Angaben gemacht habe und zum Tatzeitpunkt gar nicht mehr unter der einschläfernden Wirkung dieses Medikaments gestanden habe (vgl Ratz, WK-StPO, § 281 Rz 480; Lässig, ÖJZ 2006, 409; RIS-Justiz RS0115823, RS0114036).
Auch mit der pauschalen Kritik, das Erstgericht habe die Beweisergebnisse nicht nachvollziehbar bzw unvertretbar gewürdigt, wird eine Tatsachenrüge nicht prozessordnungsgemäß dargestellt.
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO).
Daraus folgt die Kompetenz des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung der Staatsanwaltschaft (§ 285i StPO).
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 390a Abs 1 StPO.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E95883European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0120OS00121.10A.1111.000Im RIS seit
12.01.2011Zuletzt aktualisiert am
12.01.2011