TE OGH 2010/11/11 3Ob209/10x

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Veröffentlicht am 11.11.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Prückner als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Neumayr, die Hofrätin Dr. Lovrek und die Hofräte Dr. Jensik und Mag. Ziegelbauer als weitere Richter in der Sachwalterschaftssache der am ***** K*****, vertreten durch Mag. Gernot Stitz, Rechtsanwalt in Voitsberg, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Betroffenen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 13. August 2010, GZ 1 R 270/10y-24, womit über Rekurs der Betroffenen der Beschluss des Bezirksgerichts Voitsberg vom 20. Mai 2010, GZ 13 P 3/10m-17, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die 45-jährige Betroffene leidet seit vielen Jahren an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Im 19. Lebensjahr wurde sie erstmals stationär untergebracht. Wiederholt - zuletzt im April 2010 - kam es zu einer akuten Exacerbation der psychotischen Symptomatik, da die Betroffene ihre Medikamente eigenständig absetzte, weil sie diese nicht vertrug. Wiederholt kam es auch zu einer Verwahrlosung ihrer Person und ihrer Wohnung. Sie lebt allein.

Zum Zeitpunkt der im Auftrag des Erstgerichts vorgenommenen Begutachtung befand sie sich im offenen Bereich der Psychiatrie. Ihr psychischer Zustand war unter der neu eingeleiteten medikamentösen Therapie stabil. Sie war im Gespräch weitgehend einsichtig, auch bezüglich ihrer Krankheit. Sie betonte, ihre Medikamente weiterhin einnehmen zu müssen. Sie war sich bewusst, dass sie im Alltag hilfsbedürftig ist und dass sie nur dann in ihrer Wohnung wohnen kann, wenn sie Hilfsdienste annimmt. Sie war im Gespräch auch bereit, finanzielle und rechtliche Hilfestellungen anzunehmen.

Derzeit ist aus psychiatrischer Sicht unter der eingeleiteten antipsychotischen Therapie eine weitgehende stabile Situation bei bekannter Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis zu konstatieren.

Über Anregung der Mutter der Betroffenen vom 2. Februar 2010 leitete das Erstgericht ein Sachwalterschaftsverfahren ein. Die Mutter brachte vor, die Betroffene leide an Schizophrenie; ihre „Wohnfähigkeit“ sei nicht gegeben, sie brauche Hilfe im finanziellen Bereich; die Organisation von Hilfsdiensten sei notwendig. Die Mutter der Betroffenen erklärte, weder die Funktion des Verfahrenssachwalters, noch des einstweiligen oder des endgültigen Sachwalters übernehmen zu wollen.

Anlässlich ihrer Erstanhörung am 14. April 2010 gab die Betroffene Auskunft über ihren Lebenslauf, wobei sie zugestand, ihre Wohnung etwas vernachlässigt zu haben, weil sie für die Berufsreifeprüfung lerne, die für sie sehr wichtig sei.

Nach Bestellung einer Verfahrenssachwalterin für die Betroffene - die während des Verfahrens in einer Landesnervenklinik untergebracht war - holte das Erstgericht eine vorbereitende psychiatrische Befundaufnahme ein. Die Sachverständige erstattete in der vom Erstgericht am 17. Mai 2010 abgehaltenen Tagsatzung mündlich ein ergänzendes Gutachten.

Das Erstgericht bestellte B***** gemäß § 268 ABGB zur Sachwalterin für die Vertretung vor Gericht, Behörden und Sozialversicherungsträgern, zur Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten, für die Vertretung bei Rechtsgeschäften, die über die Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen und für die Personensorge. Das Erstgericht sprach aus, dass die Betroffene ihren letzten Willen nur mündlich vor Gericht oder vor einem Notar erklären könne und nahm vom Wirkungsbereich des Sachwalters die Bestimmung des Wohnorts und die Entscheidung über allfällige Heilbehandlungen aus.

Das Erstgericht stellte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt fest und traf die weitere „Feststellung“, dass die Bestellung eines Sachwalters aufgrund der psychischen Erkrankung notwendig sei. Die Betroffene sei jedoch in der Lage ihren Wohnort selbst zu bestimmen; sie könne auch eine Zustimmung zu allfälligen Heilbehandlungen erteilen.

Davon ausgehend nahm das Erstgericht die Notwendigkeit einer Sachwalterbestellung für den dargelegten Aufgabenkreis an und führte aus, dass sich die Betroffene selbst gegen die Bestellung eines nahen Angehörigen zum Sachwalter ausdrücklich ausgesprochen habe. Es sei daher die dem Gericht als erfahrene und im Sozialbereich engagierte Sachwalterin zu bestellen.

Das Rekursgericht gab dem dagegen von der Betroffenen selbst erhobenen Rekurs - in welchem sie darauf verwies, dass sie in der Lage sei, ein eigenständiges Leben zu führen; sie sei derzeit in regelmäßiger Betreuung und habe eine neue, für sie positive Medikamenteneinstellung erhalten -, nicht Folge und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Das Rekursgericht ging rechtlich davon aus, dass die psychische Erkrankung der Betroffenen eine Sachwalterbestellung erforderlich mache, weil sich der Zustand der Betroffenen durch eigenständiges Absetzen der notwendigen Medikation verschlechtere. Auch wenn die Betroffene derzeit medikamentös gut eingestellt sei, sie ihre Medikamente nehme und sie auch zum Zeitpunkt der Begutachtung in einem stabilen psychischen Zustand gewesen sei, sei jedoch aufgrund der Vorgeschichte mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass es bei der Betroffenen wieder zu einem akuten Schub komme.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Betroffenen ist zulässig und im Sinne seines Eventualantrags auf Aufhebung auch berechtigt.

Die in der Rechtsprechung vertretenen Grundsätze zu den Voraussetzungen einer Sachwalterbestellung sind wie folgt zusammenzufassen:

1. Die Bestellung eines Sachwalters hat subsidiären Charakter und darf nur dann erfolgen, wenn der Betroffene nicht anders, nämlich durch die im § 268 Abs 2 ABGB erwähnten Möglichkeiten, in die Lage versetzt werden kann, seine Angelegenheiten im erforderlichen Ausmaß zu besorgen (Hopf in KBB³ § 268 Rz 4; RIS-Justiz RS0049088).

2. Die Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters für eine behinderte Person müssen konkret und begründet sein. Sie müssen sich sowohl auf die psychische Krankheit oder geistige Behinderung als auch auf die Schutzbedürftigkeit beziehen. Die Sachwalterbestellung setzt voraus, dass überhaupt Angelegenheiten zu besorgen sind (3 Ob 208/06v mwN).

3. Die Bestellung eines Sachwalters ist dann unzulässig, wenn der Betroffene sich der Hilfe anderer in rechtlich einwandfreier Weise bedienen kann, beispielsweise durch Vollmachtserteilung oder durch Genehmigung einer Geschäftsführung (RIS-Justiz RS0048997).

4. Die Hilfe durch einen Vertreter ist nur dann möglich, wenn die behinderte Person noch zu eigenem Handeln fähig ist, also noch über ein bestimmtes Maß an Einsichtsfähigkeit und Urteilsfähigkeit verfügt (RIS-Justiz RS0049004).

5. Eine Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ist mangels konkreter Feststellungen, welche Angelegenheiten die Betroffene zu besorgen hat und wegen der Ergänzungsbedürftigkeit der getroffenen Feststellungen zur Einsichtsfähigkeit der Betroffenen derzeit noch nicht möglich:

5.1. Ob die Betroffene einen Sachwalter benötigt, setzt die Kenntnis voraus, welche Angelegenheiten sie zu besorgen hat. Das Erstgericht hat keine Feststellungen über die Einkommens- und Vermögenslage der Betroffenen getroffen. Ob überhaupt über die Alltagsgeschäfte hinausgehende Angelegenheiten zu besorgen sind, ist ebenso wenig geklärt wie die Frage, ob Verfahren vor Ämtern, Behörden und Gerichten schon anhängig oder doch zu erwarten sind. Die Frage der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen kann daher wegen der fehlenden Tatsachenfeststellungen nicht überprüft werden.

5.2. Von der Art der zu besorgenden Geschäfte hängt aber auch das Maß der Einsichtsfähigkeit der Betroffenen ab, das vorliegen muss, damit sie mit Hilfe bevollmächtigter Dritter ihre Angelegenheiten ohne Bestellung eines Sachwalters selbst besorgen kann. Die bisher vom Erstgericht getroffenen Feststellungen lassen den Schluss auf eine derzeit bestehende mangelnde Einsichtsfähigkeit in Wahrheit nicht zu, stellte doch das Erstgericht ausdrücklich fest, dass die Betroffene weitgehend einsichtsfähig ist; ihr ist bewusst, dass sie im Alltag der Hilfe bedarf. Sie ist auch bereit, diese Hilfe anzunehmen.

5.3. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass die Mutter der Betroffenen dem Erstgericht am 3. September 2010 mitteilte, dass ihre Tochter ihre Wohnung bereits gekündigt habe; sie werde nach Ablauf der Kündigungsfrist zur Mutter ins Haus ziehen. Mit Unterstützung des behandelnden Arztes habe sich ihre Tochter bereits bestens erholt; sie gehe zur regelmäßigen Kontrolle beim Arzt. Durch den geplanten Einzug der Betroffenen in ihre Wohnung sei sie ständig unter ihrer Aufsicht; es sei nicht mehr notwendig, einen Sachwalter hinzuzuziehen.

Unter Zugrundelegung dieser Äußerung und der Stellungnahme der mit dem angefochtenen Bestellungsbeschluss bestellten Sachwalterin, die den Antrag der Mutter befürwortete, wird sich das Erstgericht konkret mit der derzeitigen Situation der Betroffenen auseinanderzusetzen haben (vgl auch 3 Ob 250/06w).

5.4. Das Erstgericht hat überdies keine Feststellungen getroffen, die beurteilen ließen, ob die Betroffene die subjektive Fähigkeit zur Prüfung der Eignung eines Bevollmächtigten aufweist. Dabei ist insbesondere darauf zu verweisen, dass das Erstgericht selbst - den Ausführungen der bestellten Sachverständigen folgend - von einem derzeit stabilen psychischen Zustand unter der neu eingeleiteten medikamentösen Therapie ausgeht. Selbst wenn daher das fortgesetzte Verfahren ergeben sollte, dass die psychische Erkrankung der Betroffenen ihre Einsichtsfähigkeit derart mindert, dass sie allfällige - vom Erstgericht näher festzustellende (s 5.1.) - Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann, wird zu prüfen sein, ob die immerhin nach den Feststellungen des Erstgerichts ausdrücklich zu bejahende Krankheitseinsicht der Betroffenen nicht soweit reicht, dass ihr auch die Fähigkeit zur Auswahl eines geeigneten Bevollmächtigten zuzusprechen ist.

5.5. Im Übrigen wird zu beachten sein, dass selbst bei Bejahung der Notwendigkeit einer Sachwalterbestellung im fortgesetzten Verfahren sich nun die Mutter der Betroffenen ausdrücklich bereit erklärt hat, diese Funktion zu übernehmen. Sollten gegen eine Bestellung der Mutter auch von der Betroffenen keine triftigen Gründe ins Treffen geführt werden, wird bei der Auswahl des zu bestellenden Sachwalters zu prüfen sein, ob die Mutter der Betroffenen in der Lage und nach wie vor Willens ist, diese Aufgabe zu übernehmen.

6. Zusammengefasst ergibt sich daher für das fortgesetzte Verfahren, dass folgende Erhebungen durchzuführen und Feststellungen zu folgenden Themen zu treffen sein werden:

a) über die Art der zu besorgenden Angelegenheiten und das Einkommen und allfällige Vermögenswerte der Betroffenen

b) über ihre Einsichtsfähigkeit im Allgemeinen und die Einsichtsfähigkeit im Besonderen bei der Auswahl eines Vertreters

c) über die derzeitige Wohnsituation der Betroffenen und darüber, ob ihr Vorbringen, sie unterziehe sich einer gut wirkenden neuen medikamentösen Therapie, zutrifft.

Textnummer

E95881

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0030OB00209.10X.1111.000

Im RIS seit

12.01.2011

Zuletzt aktualisiert am

06.03.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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