Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Mag. Hetlinger, Dr. Bachner-Foregger und Dr. Nordmeyer als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Fries als Schriftführer, in der Strafsache gegen Dr. Christoph B***** wegen Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen, AZ 16 Hv 41/05s des Landesgerichts Krems an der Donau, über den Antrag des Verurteilten auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO in Bezug auf die Verfügung der Vorsitzenden vom 28. Juni 2006, GZ 16 Hv 41/05s-99, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Dem Erneuerungsantrag wird Folge gegeben.
Dr. Christoph B***** wurde durch die Verfügung der Vorsitzenden vom 28. Juni 2006, GZ 16 Hv 41/05s-99, mit der die Vernichtung verwahrter Gegenstände angeordnet wurde, in dem durch Art 1 des 1. ZP zur MRK geschützten Grundrecht verletzt.
Text
Gründe:
Im Strafverfahren AZ 16 Hv 41/05s des Landesgerichts Krems an der Donau kam es aufgrund einer Anzeige gegen Dr. Christoph B***** wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs eines Unmündigen (ON 2 und 3) am 17. Dezember 2004 zu einem Hausdurchsuchungsbefehl (ON 5). Noch am selben Tag wurden in der Wohnung des Beschuldigten und in seinem Zimmer in seinem Elternhaus unter anderem ein Notebook, Fototaschen samt Farbfotos und „zwei Alben mit Aktfotos“, ein PC und mehrere Kuverts mit Lichtbildern (ua nicht genauer genannte „Nacktaufnahmen“) sichergestellt (S 225, 229 ff/I).
Nach Ausbau der insgesamt drei Festplatten zur Auswertung wurden die Computer zurückgestellt (S 179, 183, 239/I). Die übrigen sichergestellten Gegenstände kamen in gerichtliche Verwahrung (ON 22, 29).
Die kriminaltechnische Untersuchung ergab, dass von den sichergestellten Festplatten zwei „physikalisch nicht mehr ansprechbar und daher auch nicht einlesbar“ waren. Auf der dritten (Marke Hitachi) wurden Bilddateien gefunden, von denen sich ein Ausdruck im Akt befindet (ON 28).
In der Hauptverhandlung erklärte der Angeklagte Dr. B***** auf Befragen durch die Vorsitzende „zu den sichergestellten Gegenständen“, „dass er die Sachen nach Beendigung des Verfahrens wieder haben möchte“ (S 361/II). Mit Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Schöffengericht vom 30. Juni 2005, GZ 16 Hv 41/05s-48, wurde er mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB, mehrerer Vergehen des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen nach § 207b Abs 3 StGB und mehrerer Vergehen nach § 27 Abs 1 und Abs 2 Z 1 SMG schuldig erkannt. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel des Angeklagten blieben ohne Erfolg (vgl 12 Os 126/05d; ON 81, 96).
Eine Einziehung von Gegenständen (§ 26 StGB) sprach das Landesgericht nicht aus.
Am 28. Juni 2006 erteilte die Vorsitzende (unter gleichzeitigem Ausfolgungsauftrag hinsichtlich der übrigen Verwahrnisse, darunter auch der zwei „nicht einlesbaren“ Festplatten) durch die Verfügung „StPOForm Verz 5 an hg. Verwahrungsstelle hins. ON 29 1 Festplatte Hitachi und ON 22 PZ 4, 13“ (ON 99) den Auftrag zur Vernichtung jener Festplatte und von insgesamt acht Fototaschen. Der Inhalt der Fototaschen ist weder in der Verfügung noch im davon betroffenen Verzeichnis der in Verwahrung genommenen Beweisgegenstände („Standblatt“ ON 22, vgl dort Zahl 4 und 13) näher beschrieben.
Hievon wurde der Verurteilte aufgrund seiner Anfrage zum Verbleib der ihm nicht ausgefolgten Verwahrnisse mit Schreiben vom 19. März 2009 (ON 108, zugestellt am 23. März 2009) und vom 14. April 2009 (ON 111) informiert.
Gegen die Verfügung der Vorsitzenden richtet sich der vorliegende, der Ansicht der Generalprokuratur zuwider rechtzeitige - die Sechsmonatsfrist des Art 35 Abs 1 MRK begann mit der Zustellung der nicht anfechtbaren Entscheidung auf Vernichtung der Verwahrnisse (EGMR E 30. 3. 2010, Kimeswenger gg Österreich, Nr 87/06; Frowein/Peukert, MRK3 Art 35 Rz 39; Meyer-Ladewig, MRK2 Art 35 Rz 21) - und zulässige (13 Os 135/06m, EvBl 2007/154, 832 = JBl 2008, 62 = SSt 2007/53; vgl dazu Karl/Schöpfer, ZÖR 2010, 396; 14 Os 25/09x, EvBl-LS 2009/104, 618 = JBl 2010, 261; 14 Os 75/09z, 14 Os 96/09p, 14 Os 97/09k, 14 Os 98/09g, 14 Os 99/09d, 14 Os 100/09a, 14 Os 101/09y, EvBl 2009/162, 1073) Erneuerungsantrag (§ 363a StPO).
Rechtliche Beurteilung
Dieser zeigt zutreffend eine Verletzung des in Art 1 des 1. ZP zur MRK verankerten Grundrechts auf. Eine Rechtfertigung für die Anordnung der Vernichtung der Verwahrnisse durch das Landesgericht Krems an der Donau ist nicht zu ersehen (vgl EGMR U 13. 7. 2010, Tendam gg Spanien, Nr 25.720/05, NLMR 2010, 227; vgl 13 Os 16/09s, EvBl 2009/77, 512, mwN zur Bindungswirkung der Feststellung einer Grundrechtsverletzung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren).
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E95708European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0110OS00198.09S.1116.000Im RIS seit
30.12.2010Zuletzt aktualisiert am
30.01.2013