Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 16. November 2010 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Mag. Hautz in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Koller als Schriftführer in der Strafsache gegen Behar P***** wegen mehrerer Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 2, Abs 3 Z 1 und Z 2, Abs 4 erster Fall FPG über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 12. Mai 2010, GZ 37 Hv 36/10s-503, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Berufungen werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.
Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Text
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde Behar P***** mehrerer Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1, Abs 2, Abs 3 Z 1 und 2, Abs 4 erster Fall FPG (idF BGBl I 2009/122) schuldig erkannt.
Danach hat er in Wien, Vösendorf und anderen Orten Österreichs von 14. August 2009 bis 28. September 2009 die rechtswidrige Einreise und Durchreise Fremder in und durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union bzw Nachbarstaat Österreichs, und zwar insbesondere aus dem Kosovo über Serbien und Ungarn nach Österreich und von hier weiter in verschiedene Zielländer in Westeuropa, mit dem Vorsatz gefördert, sich oder Dritte durch ein dafür geleistetes Entgelt, und zwar Bargeld oder geldwerte Leistungen in einem bloßen Spesenersatz übersteigenden Ausmaß, unrechtmäßig zu bereichern, indem er in zumindest 31, im Urteilsspruch im Einzelnen angeführten Fällen deutlich mehr als 100 namentlich nicht bekannte Personen von diversen Übergabeplätzen abholte, sie in „Bunkerwohnungen“ unterbrachte und den Weitertransport in die jeweiligen Zielländer teilweise organisierte, teilweise selbst durchführte, wobei er die Tat nach § 114 Abs 1 FPG (idF BGBl I 2009/122) gewerbsmäßig (§ 70 StGB), in Bezug auf eine größere Zahl von Fremden sowie als Mitglied einer - aus zahlreichen weiteren abgesondert verfolgten, im Urteil namentlich genannten Mittätern - bestehenden, auf die gewinnbringende illegale Schleppung vorwiegend kosovarischer Staatsangehöriger spezialisierten kriminellen Vereinigung beging und überdies eine § 114 Abs 1 FPG (idF BGBl I 2009/122) entsprechende Verurteilung innerhalb der letzten fünf Jahre, nämlich des Amtsgerichts Laufen vom 8. August 2009, aufweist.
Rechtliche Beurteilung
Die dagegen aus den Gründen der Z 7, 9 lit c und 10 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten verfehlt ihr Ziel.
Weil die (von der Staatsanwaltschaft unbekämpft gelassene) Nichterledigung der Anklage (hinsichtlich weiterer Schleppungen im Zeitraum 1. Jänner bis Juli 2009) einem Freispruch gleichkommt und deshalb vom Angeklagten - zu seinem Nachteil - nicht geltend gemacht werden kann, bedarf das hiezu aus Z 7 erstattete Vorbringen keiner Erwiderung (RIS-Justiz RS0099646; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 526).
Ob die Anklage formgerecht erhoben wurde, ist aus Z 7 unerheblich (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 550).
Mit dem auf Z 9 lit c des § 281 Abs 1 StPO gestützten Vorwurf, die Anklage entspreche mangels Individualisierung und Konkretisierung sowie aufgrund des Umstands, dass sie „nicht erkennen lasse, ob und welche Anzahl von Personen dem Angeklagten für den Zeitraum … vom 14. August bis zum 29. September 2009 angelastet wurden“, nicht § 211 Abs 1 Z 2 StPO, wird ein Fehler in der Bedeutung des in Anspruch genommenen - ausschließlich das Verhältnis der öffentlichen zur Privatanklage betreffenden - Nichtigkeitsgrundes (RIS-Justiz RS0099717, Ratz, WK-StPO § 281 Rz 566) nicht dargetan, womit die Beschwerde die Ausrichtung am Verfahrensrecht verfehlt (Ratz, WK-StPO § 285d Rz 10).
Soweit sie in diesem Zusammenhang mangelnde Konkretisierung der Feststellungen zur Anzahl der jeweils geschleppten Personen einwendet, weil „unter anderem hauptsächlich“ von „mehreren Personen“ gesprochen werde (der Sache nach Z 10), lässt die - das Wesen einer (zulässigen) bloß pauschalen Individualisierung mehrerer, zu einer gleichartigen Verbrechensmenge zusammengefasster Taten ignorierende - Rüge nicht erkennen, welcher über die Urteilsannahmen, nach denen anlässlich einzelner Tathandlungen jeweils mehrere insgesamt jedenfalls aber deutlich mehr als 100 Personen geschleppt wurden (US 6-10), hinausgehender Ausführungen es zur Verdeutlichung bedurft hätte (vgl zur verfehlten Subsumtion unter § 114 Abs 3 Z 2 FPG idgF im Übrigen gleich unten).
Aus dem Nichtigkeitsgrund der Z 3 des § 281 Abs 1 StPO ist ein Schuldspruch wegen einer gleichartigen Verbrechensmenge (zum Begriff siehe Ratz, WK-StPO § 281 Rz 291) hinwieder nicht zu beanstanden, weil - der Beschwerdeauffassung zuwider - aus der pauschalen Individualisierung resultierende Zweifel im Fall einer nachfolgenden Verurteilung für die Annahme von Tatidentität und somit für das Vorliegen des Verfolgungshindernisses des ne-bis-in-idem streiten (Lendl, WK-StPO § 260 Rz 24; RIS-Justiz RS0119552, RS0098795).
Die Subsumtionsrüge (Z 10) vermisst in Betreff der Qualifikation des § 114 Abs 4 erster Fall FPG idgF (§ 114 Abs 5 erster Fall FPG idF vor BGBl I 2009/122) einzelne Feststellungen zur subjektiven Tatseite, ohne dabei an der Gesamtheit der Entscheidungsgründe Maß zu nehmen (US 5), und verfehlt solcherart den gerade darin gelegenen Bezugspunkt des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 584).
Aus welchem Grund es zur vorgenommenen Subsumtion erforderlich gewesen wäre, zusätzliche Konstatierungen dazu treffen, dass der Angeklagte Kenntnis von einer aus einer „größeren Anzahl von Personen“ bestehenden „kriminellen Organisation“ hatte, erklärt die Beschwerde - die ersichtlich verkennt, dass die in Frage gestellte Qualifikation (bloß) die Begehung der Tat als Mitglied einer kriminellen Vereinigung (also eines auf längere Zeit angelegten Zusammenschlusses von mehr als zwei Personen [§ 278 Abs 2 StGB; vgl dazu erneut US 5]) erfordert - nicht.
Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufungen (§ 285i StPO).
Bleibt anzumerken, dass die dem Angeklagten angelasteten Straftaten der Schlepperei rechtsirrig unter § 114 Abs 1, Abs 2, Abs 3 Z 1 und Z 2, Abs 4 FPG in der Fassung des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2009 (BGBl I 2009/122) subsumiert wurden, weil § 125 Abs 12 dieses Gesetzes normiert, dass § 114 FPG in der (früheren) Fassung des BGBl I 2009/29 für strafbare Handlungen, die - wie hier - vor dem 1. Jänner 2010 begangen wurden, weiter gilt. Die Annahme der - erst mit BGBl I 2009/122 eingeführten - Qualifikation der Begehung der Tat in Bezug auf eine größere Anzahl von Fremden nach § 114 Abs 3 Z 2 FPG (idgF) auf das hier zu beurteilende, vor Inkrafttreten dieser Bestimmung gesetzte Täterverhalten widerspricht zudem auch dem verfassungsgesetzlich vorgegebenen (Art 7 Abs 1 MRK) Rückwirkungsverbot des § 1 Abs 1 StGB.
Als verfehlt erweist sich schließlich auch die rechtliche Unterstellung des festgestellten Sachverhalts unter die - mit § 114 Abs 3 FPG idF vor BGBl I 2009/122 idente - Bestimmung des § 114 Abs 2 FPG idgF, weil diese Qualifikation - für vor und nach dem 1. Jänner 2010 begangene Taten gleichermaßen - nur dann erfüllt ist, wenn der Täter innerhalb der letzten fünf Jahre schon einmal wegen mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz begangener Schlepperei verurteilt worden ist (vgl § 114 Abs 3 FPG idF vor BGBl I 2009/122 „im Sinne des Abs 2“ sowie § 114 Abs 3 FPG idgF des BGBl I 2009/122 „im Sinne des Abs 1“), wovon die Tatrichter hier zu Recht gerade nicht ausgingen (US 4 iVm US 13). Der Angeklagte wurde nämlich mit dem zur Begründung für die Subsumtion unter die genannte Gesetzesstelle herangezogenen Urteil des Amtsgerichts Laufen vom 7. August 2008, AZ 1 Ds 280, Js 16174/08, (bloß) des Einschleusens von Ausländern in Tateinheit mit drei rechtlich zusammentreffenden Vergehen der Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt in Tateinheit mit unerlaubter Einreise und unerlaubtem Aufenthalt nach §§ 52, 56 des deutschen Strafgesetzbuches, § 4 Abs 1, § 14 Abs 1 Nr 2, § 95 Abs 1 Nr 2, Nr 3, § 96 Abs 1 Nr 1b deutsches AufenthG (und nicht nach § 96 Abs 1 Nr 1a des deutschen AufenthG, der alleine das Einschleusen von Ausländern gegen einen dafür erhaltenen oder versprochenen Vorteil pönalisiert) schuldig erkannt (vgl auch die - in der Hauptverhandlung einverständlich vorgetragene - Auskunft aus dem deutschen Zentralregister ON 414a S 5; ON 502 S 3).
Weil die - hier zu Recht als verwirklicht erachtete - mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung begangene Förderung der rechtswidrigen Einreise oder Durchreise eines Fremden in oder durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder Nachbarstaat Österreichs sowohl nach § 114 Abs 5 erster Fall FPG in der bis 31. Dezember 2009 geltenden, von BGBl I 2009/29 unverändert gebliebenen Fassung des BGBl I 2005/100, als auch nach § 114 Abs 4 erster Fall FPG in der neuen Fassung des BGBl I 2009/122 mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen ist, hat sich die verfehlte Subsumtion insoweit nicht zum Nachteil des Angeklagten ausgewirkt.
Die rechtlich verfehlte Annahme der Qualifikationen nach § 114 Abs 2 und Abs 3 Z 2 FPG idgF bietet ebenfalls keinen Anlass für eine amtswegige Maßnahme nach § 290 Abs 1 zweiter Satz StPO. Stellen nämlich diese Subsumtionsfehler per se keinen Nachteil im Sinne der genannten Bestimmung dar (Ratz, WK-StPO § 290 Rz 23), so ist andererseits dem durch die - von diesen ausgelöste - aggravierende Wertung der „vierfachen Qualifikation der Tat“ (US 14) hergestellten Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 11 zweiter Fall StPO im Rahmen der Berufungsentscheidung Rechnung zu tragen (Ratz, WK-StPO § 290 Rz 29; zum Ganzen 13 Os 64/07x, 11 Os 34/06v; RIS-Justiz RS0090885). Dabei besteht keine dem Berufungswerber zum Nachteil gereichende Bindung des Oberlandesgerichts an den Ausspruch des Erstgerichts über das anzuwendende Strafgesetz nach § 295 Abs 1 erster Satz StPO (RIS-Justiz RS0118870; Ratz, WK-StPO § 290 Rz 27a).
Die Kostenersatzpflicht beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E95836European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0140OS00117.10B.1116.000Im RIS seit
10.01.2011Zuletzt aktualisiert am
10.01.2011