Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden und den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner, sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj D***** T*****, geboren am *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs 1. der väterlichen Großmutter G***** P*****, 2. der Mutter N***** T*****, und 3. des Vaters R***** P*****, alle vertreten durch Dr. Werner Goeritz, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 17. September 2009, GZ 44 R 351/09g-S46, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die im Umfang der Entziehung der Obsorge der Mutter N***** T***** im Bereich Pflege und Erziehung für den mj D***** T***** unangefochten in Rechtskraft erwachsen sind, werden im Übrigen aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
D***** T***** wurde am ***** als unehelicher Sohn von N***** T***** und R***** P***** geboren. Der Jugendwohlfahrtsträger beantragte am 19. 1. 2009, die Obsorge im Umfang der Pflege und Erziehung wegen Gefährdung des Kindeswohls an ihn zu übertragen. Das Kind sei nach der Geburt drogenabhängig gewesen, weil sich die Mutter während der Schwangerschaft in einem Substitutionsprogramm befunden habe. Es sei daher ein stationärer Entzug beim Kind notwendig gewesen. Die Mutter habe sich geweigert, die entsprechende stationäre Betreuung des Kindes sicherzustellen, weshalb die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger erforderlich sei. Auch der Vater befinde sich im Substitutionsprogramm. Beide Eltern seien arbeitslos, die Mutter beziehe Sozialhilfe, der Vater Notstandshilfe. Es müsse erst geklärt werden, ob eine Entlassung des Kindes in die Obhut der Eltern möglich sei. Darüber hinaus müsse dessen weitere medizinische Versorgung gewährleistet werden. In einer ergänzenden Stellungnahme führte der Jugendwohlfahrtsträger aus, dass weder die Eltern noch eine der beiden Großmütter die positive Entwicklung des Kindes unterstützen und gewährleisten könnten. Das Kind lebt seit 16. 2. 2009 bei einer Pflegemutter. Die Großmutter väterlicherseits, G***** P*****, beantragte im Zuge des Verfahrens die Übertragung der Obsorge für den Fall, dass der Mutter diese entzogen werden sollte.
Das Erstgericht entzog der Mutter die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung für das Kind. Es übertrug die Obsorge in diesem Umfang der Großmutter väterlicherseits und trug dieser auf, dem zuständigen Pflegschaftsgericht bis spätestens 1. 1. 2010 Bericht über die Entwicklung des Kindes zu erstatten. Den Antrag des Jugendwohlfahrtsträgers, ihn mit der Obsorge für das Kind zu betrauen, wies es ab.
Es stellte zusammengefasst fest, dass die Beziehung der Eltern seit etwa zweieinhalb Jahren besteht und diese seit etwa zwei Jahren zusammen in der Wohnung des Vaters leben. Beide Eltern sind ohne Erwerbseinkommen. Sie sind durch jahrelangen Drogenkonsum geschwächt und in ihrer Reaktion deutlich verlangsamt. Sie sind nur eingeschränkt psychisch belastungsfähig. Sie haben sich über die Schwangerschaft zwar gefreut und alles für das Kind vorbereitet, sind jedoch nicht in der Lage, einen Säugling verlässlich zu betreuen. Sie benötigen die regelmäßige Hilfe der väterlichen Großmutter. Beim Kind war unmittelbar nach der Geburt ein stationärer Entzug erforderlich, der erfolgreich durchgeführt wurde. Das Kind ist wegen der Entzugsproblematik aber auch in Zukunft in hohem Maß auf Fürsorge angewiesen. Die väterliche Großmutter lebt mit ihrem Gatten in einem Haus mit Garten. Die Wohnverhältnisse sind einfach aber geordnet. Für das Kind ist später ein eigenes Zimmer vorhanden, Kindergarten und Volksschule liegen in der Nähe. Die väterliche Großmutter ist Hausfrau und verfügt über ausreichend Zeit, sich um das Kind zu kümmern. Die Großeltern zogen neben dem Vater eine Tochter ohne Probleme auf. Der Vater kam erst nach seinem Auszug aus dem Elternhaus mit Drogen in Kontakt. Die Großmutter ist ebenso wie ihr Mann bereit, das Kind aufzunehmen. Die väterlichen Großeltern erfüllen die persönlichen, räumlichen und materiellen Voraussetzungen, um ein Kind zu versorgen und sind für die Betreuung des Kindes gut geeignet.
Rechtlich folgerte das Erstgericht daraus, dass der Mutter gemäß § 176 Abs 1 ABGB die Obsorge zu entziehen sei. Diese sei der väterlichen Großmutter, die zur Pflege und Erziehung des Kindes geeignet sei, zu übertragen. Die Eltern seien zwar nicht in der Lage, das Kind selbst zu erziehen, sie zeigten an ihm jedoch großes Interesse. Die Unterbringung des Kindes bei den väterlichen Großeltern ermögliche dem Kind ein Aufwachsen in familiärem Umfeld. Die Wiener Jugendgerichtshilfe habe die Übertragung der Obsorge an die väterliche Großmutter befürwortet.
Dieser Beschluss erwuchs - soweit damit der Mutter die Obsorge entzogen wurde - unangefochten in Rechtskraft. Hingegen wurde die Übertragung der Obsorge an die väterliche Großmutter vom Jugendwohlfahrtsträger mit Rekurs bekämpft.
Das Rekursgericht änderte aufgrund dieses Rekurses den erstgerichtlichen Beschluss dahin ab, dass es dem Jugendwohlfahrtsträger die Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung übertrug. Gemäß § 145 Abs 1 ABGB sei, wenn beiden Eltern die Obsorge nicht zukomme, zu entscheiden, ob ein Großelternpaar (Großelternteil) oder ein Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) mit der Obsorge zu betrauen sei. Die grundsätzlich für die Ausübung der Obsorge für das Kind geeignete väterliche Großmutter sei durch die Drogenabhängigkeit ihres Sohnes, die sie nicht wahrhaben wolle, sowie durch die Ablehnung des Sohnes seitens ihres Gatten emotional schwer belastet. Sie vertrete darüber hinaus die Ansicht, dass die Gegenwart des Kindes und dessen Betreuung durch die Eltern deren Lebenssituation verbessern würde; daher sei anzunehmen, dass sie einen regelmäßigen Kontakt der Eltern zum Kind einschließlich einer zumindest zeitweiligen Überlassung zur Pflege und Betreuung zulassen würde. Dies würde das Kleinkind erheblich gefährden. Eine weitere Gefahr bestehe für das Kind durch die mit dem Obsorgewechsel verbundene Trennung von den Pflegeeltern, zu welchen eine intensive Bindung entstanden sei. Das sensible und nicht robuste Kind würde einen Pflegewechsel nicht problemlos verkraften. Im konkreten Fall überwiege das vitale Interesse des Kindes an einem Verbleib in der Obhut der Pflegeeltern die sonst vom Gesetz vermutete, im allgemeinen vorteilhafte Beziehung zu den leiblichen Eltern oder Großeltern.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Eltern und der väterlichen Großmutter (dass im Rubrum des Rechtsmittels der für die Mutter einschreitende Verfahrenshelfer statt dieser die mütterliche Großmutter als Rechtsmittelwerber angegeben hat, beruht auf einem offenkundigen Irrtum).
Der Jugendwohlfahrtsträger machte von der ihm freigestellten Möglichkeit zur Erstattung einer Beantwortung des Revisionsrekurses nicht Gebrauch.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil der bislang festgestellte Sachverhalt die Beurteilung des Rekursgerichts nicht trägt. Er ist im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
1. Zentrales Leitziel im Kindschaftsrecht und daher auch im Obsorgeverfahren ist das Kindeswohl (§ 178a ABGB). Dies wird etwa in § 176b ABGB betont, wonach in die elterliche Obsorge nur soweit eingegriffen werden darf, wie dies zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich ist (Thunhart in Klang³ §§ 176, 176b Rz 4).
2. Die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger darf gemäß § 213 ABGB nur erfolgen, wenn sich dafür nicht Verwandte oder andere nahe stehende oder sonst geeignete Personen (§ 187 ABGB) finden lassen. Die Eltern, Großeltern und Pflegeeltern haben auch nach § 145 ABGB Vorrang vor Dritten (Barth in Klang³ § 145 Rz 2). Der Jugendwohlfahrtsträger soll vom Gericht daher nur subsidiär mit der Obsorge betraut werden (7 Ob 38/08a; Kathrein in Klang³ § 213 Rz 8; vgl auch RIS-Justiz RS0048707). In Entsprechung des Grundsatzes der Familienautonomie soll den Familienmitgliedern die Obsorge solange gewahrt bleiben, als sich das mit dem Kindeswohl verträgt (RIS-Justiz RS0048712).
3. Im konkreten Fall steht selbst nach Ansicht des Rekursgerichts eine zur Pflege und Erziehung des Kindes grundsätzlich geeignete Großmutter zur Verfügung. Dieser kommt in einem solchen Fall gemäß den §§ 145, 187 und 213 ABGB grundsätzlich der Vorrang vor dem Jugendwohlfahrtsträger zu. Dass das Kind bei Dritten oder in sozialen Einrichtungen besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seiner Großmutter, kann für sich allein einen Eingriff in die - hier: großelterliche - Obsorge nicht rechtfertigen (Thunhart aaO §§ 176, 176b Rz 11; RIS-Justiz RS0048704). Der Revisionsrekurs weist im Ergebnis daher zutreffend darauf hin, dass die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger hier nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn die begründete Aussage getroffen werden kann, dass andernfalls eine ernsthafte Gefahr für das Kindeswohl besteht.
4. Die Entscheidung über die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger bedarf daher einer diese Aspekte berücksichtigenden fundierten Sachverhaltsgrundlage. Die bisher getroffenen Feststellungen genügen dafür nicht. Die darauf beruhenden rechtlichen Wertungen des Rekursgerichts ermöglichen insbesondere nicht die Beurteilung der Frage, ob das Kindeswohl im Fall der Übertragung der Obsorge an die väterliche Großmutter gefährdet wäre.
5. Das Rekursgericht begründet seine Entscheidung mit den Stellungnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers, die aber im Widerspruch zum Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe (ON S-23) stehen, auf den sich das Erstgericht gestützt hat.
Auf diesen Bericht nimmt das Rekursgericht aber nur insofern Bezug, als es einerseits die väterliche Großmutter als „grundsätzlich für die Ausübung der Obsorge“ geeignet ansieht, andererseits aber ausführt, dass das Kind den Pflegewechsel nicht problemlos verkraften würde. Die Ansicht des Rekursgerichts, dass das Kind durch einen Pflegewechsel „seelisch Schaden nehmen“ würde, findet weder in den Feststellungen noch im Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe eine Grundlage. Auch in einem vom Jugendwohlfahrtsträger vorgelegten Patientenbrief (ON S-38) wird ein Pflegewechsel grundsätzlich für möglich gehalten, wenn er möglichst bald und mit begleitetem Übergang stattfindet. Zudem setzt sich das Rekursgericht in diesem Zusammenhang nicht mit dem Umstand auseinander, dass nach der Rechtsprechung die mit einem Wechsel der Betreuung regelmäßig verbundene, meist aber vorübergehende Belastung des Kindes grundsätzlich in Kauf zu nehmen ist (RIS-Justiz RS0047765). Ob die hier für das Kind zu erwartende Belastung im Falle eines Pflegewechsels dieses Maß übersteigen würde, wurde aber bislang nicht geklärt.
6. Auch der Schluss des Rekursgerichts, die väterliche Großmutter sei infolge der emotionalen Belastung im Zusammenhang mit der Drogensucht ihres Sohnes nicht zur Übernahme der Obsorge geeignet, beruht auf den Stellungnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers. Er kann sich aber weder auf entsprechende Feststellungen noch auf objektive Verfahrensergebnisse stützen.
Insbesondere steht dieser Beurteilung wiederum der Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe entgegen, der ein differenziertes Bild zeichnet: Danach hätten die Drogenprobleme des Sohns erst begonnen, als er das elterliche Haus verließ. Die väterliche Großmutter habe ihn bis dahin aber ohne große Probleme aufgezogen. Zwar habe die Großmutter die Drogenprobleme des Sohnes ihrem Gatten und der Verwandtschaft gegenüber verschwiegen. Beide Großeltern hätten jedoch den Sohn unterstützt, die Großmutter habe sich regelmäßig um seine Wohnung gekümmert. Sie sei daher zur Übernahme der Obsorge geeignet.
7. Das Rekursgericht nimmt schließlich an, dass das Kind erheblich gefährdet wäre, weil davon auszugehen sei, dass die Großmutter es zeitweilig den Eltern überlassen werde. Das Rekursgericht begründet diese Annahme lediglich damit, dass die väterliche Großmutter die Ansicht vertrete, die Gegenwart des Kindes würde die Lebenssituation der Eltern verbessern.
Auch in diesem Zusammenhang fehlen jedoch objektive Verfahrensergebnisse und Feststellungen als Grundlage der Beurteilung einer Gefährdung des Kindeswohls. Die vom Rekursgericht vermutete Gefährdung des Kindes lässt sich aus dem Bericht der Wiener Jugendgerichtshilfe nicht nachvollziehen.
8. Aus diesen Gründen erweisen sich Verfahren und Feststellungen als ergänzungsbedürftig und damit der Revisionsrekurs als berechtigt.
Im fortzusetzenden Verfahren werden auf Basis einer fachlich fundierten Grundlage (allenfalls unter Beiziehung von Sachverständigen) Feststellungen zu treffen sein, aus denen sich klar ergibt, ob die Übertragung der Obsorge an die Großmutter mit einer ernsthaften Gefährdung des Kindeswohls verbunden ist. Nur wenn dies zu bejahen ist, kommt die Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger in Betracht. Eine solche Maßnahme ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur Sicherung des Kindeswohls unumgänglich ist (RIS-Justiz RS0124884 [EGMR]).
Schlagworte
FamilienrechtTextnummer
E95931European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0080OB00014.10G.1123.000Im RIS seit
13.01.2011Zuletzt aktualisiert am
14.06.2012