Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Verlassenschaftssache des am 10. Juni 2009 verstorbenen J***** G***** über den Revisionsrekurs der Noterben 1. Dr. M***** S*****, Deutschland, 2. C***** K*****, Deutschland, beide vertreten durch Dr. Ralph Forcher, Rechtsanwalt in Graz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt als Rekursgericht vom 23. April 2010, GZ 37 R 57/10x-26, mit dem der Rekurs der Noterben gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Neusiedl am See vom 25. Jänner 2010, GZ 2 A 282/09a-21, zurückgewiesen wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben.
Text
Begründung:
J***** G***** ist am 10. 6. 2009 verstorben. Er hinterließ 4 volljährige eheliche Kinder, von denen 3 jeweils Pflichtteilsverzichtserklärungen abgaben. Das vierte dieser Kinder, F***** G*****, erklärte sich am 7. 7. 2009 aufgrund testamentarischer Erbfolge bedingt als Erbe zum gesamten Nachlass.
Am 8. 7. 2009 erließ der Gerichtskommissär das Edikt zur Einberufung der Verlassenschaftsgläubiger, bereits am 7. 7. 2009 war ein Inventar erstellt worden; dieses weist an Aktiva 22,50 EUR und keine Passiva auf.
Am 11. 8. 2009 erörterte der Gerichtskommissär mit den Kindern des Erblassers, dass es möglicherweise eine weitere (uneheliche) Tochter des Erblassers in Deutschland geben solle; näheres war den Kindern jedoch nicht bekannt.
Am 21. 9. 2009 teilte ein (anonymer) „Beobachter“ dem Erstgericht mit, dass der Verstorbene Besitzer dreier Sparbücher gewesen sei; obwohl diese im Verlassenschaftsverfahren nicht erwähnt worden seien, habe es am 15. 6. 2009 Behebungen daraus gegeben.
Zu ON 20 erliegt im Verlassenschaftsakt ein deutscher Erbschein vom 31. 12. 1986; daraus ist ersichtlich, dass M***** S*****, die Halbschwester der genannten vier Kinder, am 21. 11. 1986 verstorben ist und - neben ihrem Ehegatten - die beiden Rechtsmittelwerber als ihre Kinder hinterlassen hat.
Das Erstgericht erließ zu ON 21 den Einantwortungsbeschluss, mit dem es die Verlassenschaft zur Gänze F***** G***** einantwortete. Diesen Beschluss stellte das Erstgericht unter anderem den genannten vier Kindern und den beiden Rechtsmittelwerbern zu.
Das Rekursgericht wies den Rekurs der beiden Rechtsmittelwerber zurück und sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands zwar 30.000 EUR nicht übersteige, der Revisionsrekurs jedoch zulässig sei; es fehle Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage der Rekurslegitimation von nicht erbantrittserklärten Noterben gegen den Einantwortungsbeschluss.
In der Sache selbst vertrat das Rekursgericht die Auffassung, nach § 164 AußStrG sei es übergangenen Erben verwehrt, den Einantwortungsbeschluss zu bekämpfen; Personen, die noch keine Erbantrittserklärung abgegeben haben, seien überhaupt von jeder Einflussnahme auf den Gang des Verlassenschaftsverfahrens ausgeschlossen. Damit stehe übergangenen Noterben kein Rekursrecht gegen den Einantwortungsbeschluss zu.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig; er ist auch berechtigt.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Rechtslage vor dem Inkrafttreten des Außerstreitgesetzes BGBl I Nr. 111/2003 waren Noterben mit Rücksicht auf ihre Rechte nach §§ 784, 804 (Errichtung eines Inventars, wobei Noterben der Schätzung beiwohnen dürfen) und § 812 (Nachlassseparation) ABGB dem Verlassenschaftsverfahren beizuziehen (RIS-Justiz RS0006519, RS0006500, zuletzt 6 Ob 105/06v; 6 Ob 215/08y). Dies entspricht auch der seit 1. 1. 2005 geltenden Rechtslage (3 Ob 229/09m iFamZ 2010/80 [Tschugguel]), ordnet doch (außerdem) § 176 Abs 1 AußStrG ausdrücklich an, dass alle Personen, denen an der Verlassenschaft andere erbrechtliche Ansprüche zustehen als die eines Erben, vor der Einantwortung nachweislich von diesen zu verständigen sind; dazu gehören auch die Noterben (Feil/Marent, Außerstreitgesetz [2004] § 176 Rz 1; Likar-Peer in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht [2007] 397; Scheuba in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht und Vermögensnachfolge [2010] 99). Nach § 178 Abs 5 AußStrG ist der Einantwortungsbeschluss den Parteien zuzustellen, zu denen ebenfalls die Noterben gezählt werden (Bittner in Rechberger, AußStrG [2006] § 176 Rz 11; Scheuba aaO).
2. Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Rechtslage vor dem 1. 1. 2005 war der Noterbe selbst dann zum Rekurs gegen die Einantwortungsurkunde legitimiert, wenn er dem Verlassenschaftsverfahren nicht zugezogen worden war (RIS-Justiz RS0006479). Wenn der Noterbe nach der Aktenlage im Verlassenschaftsverfahren bereits bekannt gewesen war, hatte dies die Nichtigkeit des Verlassenschaftsverfahrens zur Folge (RIS-Justiz RS0005734).
3. Inwieweit diese Rechtsprechung im Hinblick auf § 153 Abs 1 AußStrG auch unter der neuen Rechtslage des Außerstreitgesetzes BGBl I Nr. 111/2003 aufrecht zu erhalten ist, ließ der Oberste Gerichtshof in der noch zur alten Rechtslage des AußStrG 1854 ergangenen Entscheidung 6 Ob 215/08y dahingestellt. Likar-Peer (aaO 398), Scheuba (aaO FN 449), Egger (in Schwimann, ABGB-TaKomm [2010] § 784 Rz 4) und Apathy (in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB³ [2010] § 784 Rz 2) bejahen dies.
3.1. Für diese Ansicht spricht, dass - wie die Entscheidung des Rekursgerichts zeigt, das den Rekurs der übergangenen Noterben gegen den Einantwortungsbeschluss zurückgewiesen hat - der Noterbe ansonsten die ihm zustehenden Rechte nach §§ 784, 804 und 812 ABGB im Verlassenschaftsverfahren nicht mehr wahrnehmen und diese auch in einem Verfahren über die Erbschaftsklage gemäß § 823 ABGB nicht geltend machen könnte, strebt er doch die Erbenstellung gerade nicht an. Dass § 164 Satz 2 AußStrG spätere (nach Bindung des Verlassenschaftsgerichts an seinen Einantwortungsbeschluss) „erbrechtliche“ Ansprüche auf eine Geltendmachung mit Klage verweist, steht dem nicht zwingend entgegen, ist diese Bestimmung doch Teil des Verfahrens über das Erbrecht nach §§ 160 bis 164 AußStrG und meint damit nicht zwingend auch Pflichtteilsklagen.
3.2. Der Oberste Gerichtshof hat erst jüngst einem Vermächtnisnehmer, der (naturgemäß) keine Erbantrittserklärung abgegeben hatte, die Rechtsmittellegitimation gegen einen Einantwortungsbeschluss mit der Begründung abgesprochen, es sei nicht Aufgabe der Verlassenschaftsabhandlung, Streitigkeiten zwischen Erben und Vermächtnisnehmer zu entscheiden (8 Ob 120/09v). Diese Entscheidung steht nicht in Widerspruch zur in der Literatur vertretenen Auffassung, kommt dem Vermächtnisnehmer im Verlassenschaftsverfahren doch lediglich das Recht zu, gemäß § 812 ABGB Nachlassseparation zu begehren, weitere Rechte hingegen nicht (Fritsch in Ferrari/Likar-Peer, Erbrecht [2007] 272). Damit ist seine Stellung nicht mit derjenigen eines Noterben vergleichbar.
3.3. Das Rekursgericht hat an sich zutreffend darauf hingewiesen, dass es seit dem Inkrafttreten des Außerstreitgesetzes BGBl I Nr. 111/2003 dem übergangenen Erben nicht mehr zusteht, den Einantwortungsbeschluss mit Rekurs zu bekämpfen und darin geltend zu machen, das Erstgericht habe es verabsäumt, ihm die Gelegenheit zur rechtzeitigen Abgabe einer Erbantrittserklärung zu geben. Dieser potenzielle Erbe ist gemäß § 164 Satz 2 AußStrG auf die Erbschaftsklage verwiesen (1 Ob 86/08s; 5 Ob 24/09d; abw 4 Ob 50/08v).
Allerdings ist der vom Rekursgericht daraus gezogene Größenschluss, dann könne ein übergangener Noterbe den Einantwortungsbeschluss erst recht nicht anfechten, im Hinblick auf die zu 3.1. dargelegten Erwägungen nicht zwingend. Der Nachteil für den Noterben wird insbesondere in einem Verlassenschaftsverfahren deutlich, in dem der Erbe eine unbedingte Erbantrittserklärung abgegeben hat und der Noterbe nicht minderjährig ist oder aus anderen Gründen einen gesetzlichen Vertreter benötigt. Nach § 165 Abs 1 Z 1 und 2 AußStrG kam es dann nämlich im Verlassenschaftsverfahren nicht zur Errichtung eines Inventars; gerade dieses verschafft dem Noterben aber die Grundlagen für die Berechnung seines Pflichtteils und kann schon in diesem Stadium des Verfahrens einer allfälligen Verkürzung seiner Rechte vorbeugen (RIS-Justiz RS0006519).
Dass auch der übergangene Erbe die dem Noterben im Verlassenschaftsverfahren zustehenden Rechte nicht mehr geltend machen kann und damit aufgrund der vom erkennenden Senat vertretenen Auffassung dem übergangenen Noterben eine bessere Position eingeräumt werde als dem übergangenen Erben - worauf das Rekursgericht implicite hingewiesen hat -, überzeugt nicht: Der Noterbe kann mit Pflichtteilsklage lediglich ein Geldleistungsbegehren stellen; im Pflichtteilsprozess hat er als Vorfrage den Umfang und Wert des Nachlasses zu beweisen. Der übergangene Erbe erreicht jedoch im Erbschaftsklageverfahren mit Rechtskraft des stattgebenden Urteils den Übergang der Verlassenschaft ex tunc auf ihn (vgl die zahlreichen Nachweise bei Kühnberg in Gruber/Kalss/Müller/Schauer, Erbrecht und Vermögensnachfolge [2010] 372), er wird also Rechtsnachfolger des Erblassers (Kühnberg aaO). Diese Position ist jedoch gegenüber jener des Noterben jedenfalls insoweit eine viel stärkere, als etwa Banken dem Erben gegenüber verpflichtet sind, auch über den Todeszeitpunkt des Erblassers hinaus Auskunft über den Stand von Konten und Wertpapierdepots und über Einzelheiten der Geschäftsbeziehung zu geben (4 Ob 36/01z ÖBA 2001/994; 6 Ob 287/08m EF-Z 2010/51 [Dullinger]). Dem Noterben stehen derartige Möglichkeiten (unter Einschaltung des Gerichtskommissärs) nur im Verlassenschaftsverfahren zu (7 Ob 292/06a ecolex 2008/187 [Verweijen]; 6 Ob 287/08m).
4. Die Rechtsmittelwerber - dass diese Noterben nach dem Verstorbenen sind, ist im Rechtsmittelverfahren nicht strittig - haben bereits in ihrem Rekurs darauf hingewiesen, dass es ihnen aufgrund ihrer Nichtbeiziehung durch das Erstgericht verwehrt gewesen ist, der Schätzung des Nachlasses beizuwohnen und eine Nachlassseparation zu beantragen. Abgesehen davon, dass diese Rechte den Noterben unbedingt zustehen (vgl Sailer in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB³ [2010] § 804 Rz 2), lassen es gerade die Besonderheiten des vorliegenden Falls (vgl etwa die Mitteilung eines „Beobachters“ über allfällige, dem Nachlass entzogene Sparbücher des Verstorbenen) durchaus angezeigt erscheinen, den Rechtsmittelwerbern als Noterben die Möglichkeit einer Beteiligung am Verlassenschaftsverfahren einzuräumen; nur so sind sie nämlich in der Lage, ihre Pflichtteilsansprüche berechnen zu können (vgl Sailer aaO).
5. Damit haben die Vorinstanzen aber die beiden Rechtsmittelwerber in dem ihnen zustehenden rechtlichen Gehör unter der Voraussetzung verletzt, dass sie tatsächlich zum Personenkreis der §§ 762, 763 ABGB gehören. Das Erstgericht wird diese Frage zu klären und bejahendenfalls das Verlassenschaftsverfahren unter Beiziehung der Rechtsmittelwerber fortzuführen haben.
Schlagworte
ZivilverfahrensrechtTextnummer
E96181European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0060OB00153.10H.1217.000Im RIS seit
16.02.2011Zuletzt aktualisiert am
27.07.2011