Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Unterbringungssache M***** S*****, geboren am *****, über den Revisionsrekurs der Patientenanwaltschaft *****, vertreten duch Mag. Nikolaus Weiser, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 23. Juni 2010, GZ 10 R 55/10f-13, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Tulln vom 3. Mai 2010, GZ 14 Ub 314/09f-10, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird als nichtig aufgehoben.
Der Rekurs des Abteilungsleiters ***** gegen den Beschluss des Erstgerichts wird zurückgewiesen.
Der Abteilungsleiter hat die Kosten der Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Der Patient war bis zum 7. 5. 2009 untergebracht. Er verweigerte - außer dem Medikament Dominal - jegliche Medikation. Nachdem man ihm am 30. 3. 2009 mitgeteilt hatte, dass er freiwillig eine Tablette Risperdal 1 mg einnehmen könne, ansonsten müsse ihm das Medikament zwangsweise verabreicht werden, nahm er die Tablette zu sich. Hätte der Patient die Medikation nicht oral eingenommen, wäre ihm zwangsweise eine Injektion verabreicht worden. Nach dieser Behandlung verlief die Medikamenteneinnahme problemlos ohne Druck. Der Patient war zum Zeitpunkt der Medikamenteneinnahme am 30. 3. 2009 aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht ausreichend einsichts- und urteilsfähig. Ein Sachwalter für den Patienten war nie bestellt. Die Patientenanwältin stellte den Antrag auf Unzulässigerklärung der durchgeführten Zwangsbehandlung; der Abteilungsleiter beantragte, die gemeldete Zwangsbehandlung für zulässig zu erklären.
Das Erstgericht erklärte die Verabreichung als besondere Heilbehandlung für unzulässig. Wenngleich die Folgen der Behandlung objektiv als positiv angesehen werden mögen, hätte dennoch weiter zugewartet werden müssen, bis der Patient einen ausreichenden Willen bilden hätte können oder etwa eine Gefährdung tatsächlich zu befürchten gewesen wäre, der nicht schon durch die Unterbringung ausreichend begegnet gewesen wäre.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Abteilungsleiters Folge und erklärte die (einfache) Heilbehandlung für zulässig. Die Verabreichung einer Oraldosis des Neuroleptikums Risperdal sei als einfache Heilbehandlung zu qualifizieren, die unter Abwägung der Risken und Vorteile medizinisch a priori indiziert gewesen sei.
Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil der Beurteilung einer Heilbehandlung als einfacher oder besonderer jedenfalls grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.
Rechtliche Beurteilung
Hierzu hat der Oberste Gerichtshof erwogen:
Aus Anlass der Erledigung des Rechtsmittels war die Entscheidung des Rekursgerichts in amtswegiger Wahrnehmung eines Nichtigkeitsgrundes aufzuheben und der Rekurs des Abteilungsleiters zurückzuweisen:
1. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist als spezifische Erscheinungsform des Rechtsschutzinteresses für die Anrufung einer höheren Instanz das Vorliegen von Beschwer. Die Beschwer muss zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels vorliegen und zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch fortbestehen; andernfalls ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0041770). Dies gilt auch im Außerstreitverfahren (RIS-Justiz RS0006598). Das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels im Zeitpunkt der Rechtsmittelentscheidung erforderliche Rechtsschutzinteresse fehlt, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme. Es ist nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen, über bloß theoretische Fragen abzusprechen (RIS-Justiz RS0002495).
2. Nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung kann dann, wenn eine Unterbringung bereits aufgehoben wurde, in Erledigung eines Rechtsmittels des Abteilungsleiters nur ausgesprochen werden, dass die Unterbringung weiterhin zulässig wäre. Eine Entscheidung, dass die weitere Unterbringung berechtigt gewesen wäre, wäre rein theoretischer Natur, sodass das Rechtsmittelrecht des Anstaltsleiters bzw Abteilungsleiters bei einer solchen Sachlage verneint wird (RIS-Justiz RS0007806, RS0075954, RS0076104 und RS0075987). Auch der Abteilungsleiter hat nach ständiger Rechtsprechung nur die Interessen der Patienten zu wahren. Im Verfahren nach dem UbG kommt ihm nicht etwa die Wahrung der Interessen des Krankenhausträgers oder der behandelnden Ärzte zu. Auch sein Rekursrecht dient nicht der Abwehr des durch eine gerichtliche Sachentscheidung gegen die Anstalt gerichteten Vorwurfs gesetzwidriger Vorgangsweise gegenüber einem Kranken. An diesen Grundsätzen hat der Oberste Gerichtshof auch in Ansehung der geplanten gesetzlichen Änderungen im Zusammenhang mit der Unterbringungs- und Heimaufenthaltsnovelle 2010 festgehalten (3 Ob 222/09g). Nach ebenfalls gesicherter Judikatur ist diese Rechtsprechung auch in jenen Fällen anzuwenden, in denen die Zulässigkeit während der Unterbringung angeordneter, aber nicht mehr aufrechter weitergehender Beschränkungen und Behandlungen (§§ 33 ff UbG) zu prüfen ist (RIS-Justiz RS0076104 [T5]).
3. Mit der Ub-HeimAuf-Nov 2010 (BGBl I 2010/18) wurde mit § 38a UbG eine spezielle Bestimmung für das Verfahren bei der nachträglichen Überprüfung eingefügt. Nach Abs 2 dieser Bestimmung kommt nunmehr dem Abteilungsleiter ein Rekursrecht gegen den Beschluss, mit dem eine ärztliche Behandlung für unzulässig erklärt wird, zu. Diese Regelung trat nach den Übergangsbestimmungen (§ 42 Abs 3 UbG) mit 1. 7. 2010 in Kraft. Im Hinblick darauf, dass die Rekursentscheidung bereits am 23. 6. 2010 ergangen ist, ist im vorliegenden Fall daher weiterhin die alte Rechtslage anzuwenden. Der vom Abteilungsleiter gegen den Beschluss des Erstgerichts erhobene Rekurs war daher unzulässig.
4. Das Rekursgericht hat den vom Abteilungsleiter erhobenen Rekurs jedoch nicht mangels Beschwer zurückgewiesen, sondern meritorisch über dieses Rechtsmittel entschieden. Entscheidet das Gericht zweiter Instanz über einen unzulässigen Rekurs meritorisch, so ist der Mangel der funktionellen Zuständigkeit für eine solche Erledigung vom Obersten Gerichtshof aus Anlass des gegen eine unzulässige Sachentscheidung erhobenen Revisionsrekurses als Nichtigkeit, die immer eine erhebliche Rechtsfrage aufwirft, wahrzunehmen; als Folge dessen ist der unzulässige Rekurs gegen den Beschluss erster Instanz zurückzuweisen, wobei dieser allgemeine Verfahrensgrundsatz nicht nur im Zivilprozess, sondern auch für eine vom Obersten Gerichtshof im Außerstreitverfahren zu treffende Entscheidung gilt (RIS-Justiz RS0115201, RS0042059; 5 Ob 24/10f).
5. Da somit der gegen die erstinstanzliche Entscheidung erhobene Rekurs des Abteilungsleiters zurückzuweisen ist, kommt es auf die vom Rekursgericht für erheblich erachtete Rechtsfrage nicht an.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden. Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsrekursbeantwortung gründet sich auf § 78 Abs 2 und Abs 3 AußStrG.
Textnummer
E95952European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0060OB00185.10I.1217.000Im RIS seit
13.01.2011Zuletzt aktualisiert am
04.07.2012