Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Spenling als Vorsitzenden und den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner, sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Brenn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj A***** S*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger, Amt für Jugend und Familie Rechtsfürsorge, Bezirke 1 und 4 bis 9, 1060 Wien, Amerlingstraße 11, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Vaters W***** L*****, vertreten durch Mag. Clemens Wanha, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 30. Oktober 2009, GZ 45 R 414/09d-U51, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. Mai 2009, GZ 59 P 69/03m-U42, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die im Übrigen als rechtskräftig von dieser Entscheidung unberührt bleiben, werden im Umfang der Abweisung des Mehrbegehrens des Vaters auf Unterhaltsherabsetzung aufgehoben und die Rechtssache in diesem Umfang zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Text
Begründung:
Der Minderjährige befindet sich in Pflege und Erziehung der Mutter. Der Vater ist für einen weiteren, am ***** geborenen Sohn sorgepflichtig. Er war zuletzt - unter Anwendung des Anspannungsgrundsatzes - verpflichtet, ab 1. 6. 2005 einen Betrag von 255 EUR an monatlichem Unterhalt zu bezahlen (59 P 69/03m-65 des Erstgerichts).
Der Vater beantragte zunächst am 6. 3. 2007 die Herabsetzung der Unterhaltsverpflichtung auf monatlich 153 EUR ab 1. 3. 2007. Er habe seinen Arbeitsplatz als medizinisch-technische Fachkraft in Vorarlberg seit 15. 2. 2007 aufgegeben, weil sein Wohnsitz in Niederösterreich sei. Seine Lebensgefährtin werde einen landwirtschaftlichen Betrieb gründen; der Arbeitsplatz in Vorarlberg sei einfach zu weit weg. Er habe sich seither beworben, sei aber arbeitslos. Diesen Antrag wiesen die Vorinstanzen rechtskräftig ab. Ihrer Entscheidung lag die Feststellung zugrunde, dass der Kläger nach dem 1. 3. 2007 Arbeitslosengeld bezog (59 P 69/03m-U5).
Am 20. 5. 2008 beantragte der Vater neuerlich die Herabsetzung des Unterhalts ab 1. 8. 2007. Zu diesem Antrag brachte er insgesamt vor: Er sei seit 1. 8. 2007 wegen Bandscheibenvorfällen in Krankenstand und beziehe 30,29 EUR Krankengeld pro Tag. Er begehre daher die Herabsetzung seiner Unterhaltsverpflichtung auf monatlich 153 EUR. Die Verhältnisse hätten sich maßgeblich geändert, denn er sei seit 1. 8. 2007 arbeitsunfähig. Im April 2008 habe er einen Antrag auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension gestellt. Das Verfahren sei anhängig. Aufgrund seines Gesundheitszustands könne er kein höheres Einkommen erzielen. Ergänzend brachte der Vater vor, dass der Krankengeldbezug am 1. 8. 2008 (nur) wegen Erreichens der Höchstdauer geendet habe. Danach habe er bis 11. 9. 2008 Arbeitslosengeld und anschließend Notstandshilfe bezogen. Er sei weiterhin arbeitsunfähig. Sein Gesundheitszustand habe sich nicht verändert. Er habe daher weder seinen bisherigen Beruf als medizinisch-technische Fachkraft, noch die von einem berufskundlichen Sachverständigen im Lauf des Verfahrens genannten Tätigkeiten eines Boten oder Ordinationsgehilfen ausüben können. Dazu komme, dass er sich bei einem Unfall am 30. 12. 2008 eine Fraktur des rechten Sprunggelenks zugezogen habe, woraus sich ebenfalls Arbeitsunfähigkeit ergebe.
Das Erstgericht setzte die Unterhaltsverpflichtung des Vaters auf folgende Beträge herab:
1. 8. 2007 bis 31. 12. 2007
210 EUR monatlich
1. 1. 2008 bis 31. 10. 2008
215 EUR monatlich
1. 11. 2008 bis 31. 12. 2008
205 EUR monatlich
1. 1. 2009 bis 31. 5. 2009
210 EUR monatlich
ab 1. 6. 2009
235 EUR monatlich
Das Mehrbegehren des Vaters wies das Erstgericht ab. Es traf zusammengefasst folgende Feststellungen:
Der Vater ist als medizinisch-technischer Assistent ausgebildet. Er ist gesundheitlich eingeschränkt. Aufgrund dieser gesundheitlichen Einschränkungen ist er nicht voll arbeitsfähig, auch die Vermittelbarkeit ist eingeschränkt. Aufgrund seines Alters und mangels freier Arbeitsplätze war es dem Vater nicht möglich, ab Herbst 2007 einen Arbeitsplatz als medizinisch-technische Fachkraft zu finden. Bei intensiver Arbeitsplatzsuche wäre es ihm jedoch möglich gewesen, ab 1. 9. 2007 einen Arbeitsplatz als Ordinationsgehilfe oder Botenfahrer in Wien oder Niederösterreich zu erlangen. Damit hätte er ein monatliches Durchschnittseinkommen von 1.239 EUR im Jahr 2007, von 1.272 EUR im Jahr 2008 und von 1.306 EUR ab 2009 erzielen können.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass der Vater nicht mehr auf sein bisheriges Einkommen als medizinisch-technische Fachkraft angespannt werden könne. Ihm wäre es allerdings möglich gewesen, ein Einkommen in den genannten Verweisungsberufen zu erzielen. Er sei nicht gänzlich arbeitsunfähig gewesen, bei ihm hätten nur gesundheitliche Einschränkungen bestanden. Auch aus einem vor dem Sozialgericht geführten Verfahren ergebe sich, dass dem Vater eine Tätigkeit im Labordienst weiter zumutbar wäre.
Das Rekursgericht gab einem gegen die Abweisung des Mehrbegehrens erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Für die Anwendbarkeit des Anspannungsgrundsatzes spiele keine Rolle, ob sich der Vater im Krankenstand befinde oder nicht. Dem Vater sei in den im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten medizinischen Gutachten Arbeitsfähigkeit ausdrücklich attestiert worden. Seine Behauptung, er befinde sich aufgrund seiner Arbeitsunfähigkeit im Krankenstand, stehe mit den Ergebnissen des Beweisverfahrens nicht im Einklang. Vom Beginn der Arbeitslosigkeit am 15. 2. 2007 bis zum behaupteten Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit am 1. 8. 2007 seien nahezu sechs Monate vergangen. Nach dem Gutachten der berufskundlichen Sachverständigen wäre es dem Vater in diesem Zeitraum möglich gewesen, entsprechende Arbeitsstellen in den Verweisungsberufen zu finden. Zu einer behaupteten Verletzung vom 30. 12. 2008 sei nicht vorgebracht worden, weshalb aus ihr dauernde Arbeitsunfähigkeit resultiere, sodass darauf nicht eingegangen werden müsse.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei. Eine erhebliche Rechtsfrage liege darin, dass die Verschuldensproblematik im Hinblick auf einen durchgehenden Krankenstand des Vaters thematisiert werde, wobei die grundsätzliche Erwerbsfähigkeit des Vaters erst während des bereits laufenden Krankenstands objektiviert worden sei.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit dem Begehren, seinem Unterhaltsherabsetzungsantrag Folge zu geben.
Der Jugendwohlfahrtsträger beantragt, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
1. Gemäß § 140 Abs 1 ABGB haben die Eltern zur Deckung der ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse des Kindes unter Berücksichtigung seiner Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten nach ihren Kräften anteilig beizutragen. Den Unterhaltspflichtigen trifft daher die Obliegenheit im Interesse seiner Kinder, alle persönlichen Fähigkeiten, insbesondere seine Arbeitskraft, so gut wie möglich einzusetzen. Unterlässt er dies, so wird er nach dem Anspannungsgrundsatz so behandelt, als bezöge er Einkünfte, die er bei zumutbarer Erwerbstätigkeit hätte erzielen können (RIS-Justiz RS0047686; Gitschthaler, Die Anspannungstheorie im Unterhaltsrecht - 20 Jahre später, ÖJZ 1996, 553 [554]). Maßstab hiefür ist stets das Verhalten eines pflichtgemäßen rechtschaffenen Familienvaters (RIS-Justiz RS0047495; Hopf in KBB³ § 140 Rz 16). Der Anspannungsgrundsatz dient als eine Art Missbrauchsvorbehalt, wenn schuldhaft die zumutbare Erzielung deutlich höherer Einkünfte versäumt wird (RIS-Justiz RS0047495 [T4]), sodass der angemessene Unterhalt des Berechtigten nicht mehr gewährleistet ist (RIS-Justiz RS0047511 [T2]). Die Anspannungsbeurteilung hat immer die realen Erwerbschancen auszuloten; Sie darf sich nicht in unbegründeten Fiktionen erschöpfen (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht5, 60; RIS-Justiz RS0047686 [T16]).
2. Die - grundsätzlich auch für die Vergangenheit zulässige - Herabsetzung des auf Basis eines fiktiven Einkommens bemessenen Unterhalts ist nur möglich, wenn die Voraussetzungen für eine Anspannung des Unterhaltspflichtigen weggefallen sind. Dies war hier aber nach den Verfahrensergebnissen objektiv der Fall:
2.1 Zutreffend weist der Vater darauf hin, dass ihm aufgrund der Umstände des konkreten Falls subjektiv nicht vorwerfbar war, eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit (insbesondere in den im Sachverständigengutachten genannten Verweisungsberufen) auszuüben.
2.2 Der Vater befand sich ab 1. 8. 2007 aufgrund von Bandscheibenvorfällen im Krankenstand, nachdem er zuvor arbeitslos war. Dem Begriff des „Krankenstands“ (der vereinzelt in Gesetzen verwendet wird, vgl zB § 21a Abs 6 BUAG, § 16 Abs 1 Z 6 lit c EStG) kommt insbesondere im Arbeitsrecht und im Sozialrecht Bedeutung zu. Er umfasst im arbeitsrechtlichen Sinn die Dienstverhinderung des Arbeitnehmers wegen Krankheit (vgl § 1154b Abs 1 ABGB). Der Oberste Gerichtshof hat in seiner arbeitsrechtlichen Judikatur mehrfach ausgeführt, dass der vom Arzt in den Krankenstand genommene Arbeitnehmer grundsätzlich auf die Richtigkeit der ärztlichen Bescheinigung des Arztes vertrauen kann. Dieser Grundsatz gilt allerdings dann nicht, wenn der Arbeitgeber beweist, dass der Arbeitnehmer trotz Vorlage einer Krankenstandsbescheinigung arbeitsfähig war und davon auch Kenntnis hatte oder nach den Umständen des Falls offenbar haben musste (RIS-Justiz RS0028875). Diese Rechtsprechung lässt sich für den vorliegenden Fall, in dem ebenfalls zu beurteilen ist, ob dem Vater das Unterlassen einer Erwerbstätigkeit vorwerfbar ist, sinngemäß anwenden.
2.3 Die Besonderheit im konkreten Fall liegt darin, dass der Kläger nach den Ergebnissen des Vorverfahrens im Zeitpunkt des Beginns seines Krankenstands am 1. 8. 2007 arbeitslos war und Arbeitslosengeld bezog. Im Akt erliegt eine Bestätigung der NÖGKK, aus der sich der Bezug von Krankengeld seit dem 4. 8. 2007 ergibt. Die von der Gebietskrankenkasse angenommene Arbeitsunfähigkeit des Klägers bezog sich daher nicht auf eine zum Zeitpunkt des Beginns des Krankenstands ausgeübte Arbeitstätigkeit: Vielmehr ist während der Dauer des Arbeitslosengeldbezugs gemäß § 8 Abs 1 AlVG der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nach den Verweisungsbestimmungen des pensionsrechtlichen Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitsbegriffs zu bestimmen (10 ObS 166/09y; 10 ObS 291/01v). Im konkreten Fall bedeutete daher die Annahme der Arbeitsunfähigkeit des Klägers durch die Gebietskrankenkasse, dass diese iSd § 8 Abs 1 AlVG von einer Berufsunfähigkeit des Klägers ausging.
2.4 Ein Hinweis darauf, dass der Vater nicht auf das Vorliegen seiner Erwerbsunfähigkeit hätte vertrauen dürfen, ergibt sich aus dem Akteninhalt nicht. So legte er eine an die PVA gerichtete ärztliche Bescheinigung eines gerichtlichen Sachverständigen für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie vom 17. 10. 2007 vor. Danach litt er aufgrund einer sehr schmerzhaften Lumboischialgie seit langem an beträchtlichen und belastungsabhängigen Beschwerden sowie Bewegungseinschränkungen. Diese Beschwerden hatten sich deutlich verschlechtert. Der Vater stellte in weiterer Folge auch einen Antrag auf Zuerkennung einer Berufsunfähigkeitspension. Auch die im sozialgerichtlichen Verfahren erstellten medizinischen Sachverständigengutachten, die vom Oktober und November 2008 (daher nach der Antragstellung in diesem Verfahren) stammen, attestieren dem Vater zwar in eingeschränktem Umfang Arbeitsfähigkeit, ergeben aber ebenfalls massive gesundheitliche Beeinträchtigungen des Vaters. Die berufskundliche Sachverständige gelangte insbesondere zu dem Ergebnis, dass dem Vater ab Herbst 2007 eine Tätigkeit in seinem eigentlichen Beruf als medizinisch-technische Fachkraft nicht mehr möglich war. Aus dem Akt ergibt sich weiters, dass dem Vater letztlich ab 1. 7. 2009 tatsächlich eine Berufsunfähigkeitspension zuerkannt wurde (U 50).
2.5 Bei einer Gesamtbetrachtung kann dem Vater im konkret zu beurteilenden Einzelfall (RIS-Justiz RS0113751) daher nicht vorgeworfen werden, dass er seine Verpflichtung, alle seine persönlichen Fähigkeiten einzusetzen, um seine Unterhaltspflicht zu erfüllen, fahrlässig oder vorsätzlich verletzt hätte (Hopf aaO § 140 Rz 16; 7 Ob 205/03b). Die Anspannung darf nicht zu fiktiven Ergebnissen führen: Der Vater durfte hier auf den Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit gerade im Hinblick auf den während der Zeit des Arbeitslosengeldbezugs von der Gebietskrankenkasse akzeptierten Krankenstand vertrauen; die - erst im Nachhinein - objektivierte Möglichkeit der Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit als Botenfahrer oder Ordinationsgehilfe ändert daran nichts, sodass dieser Umstand allein nicht zur Anspannung des Vaters - dem letztlich ja auch eine Berufsunfähigkeitspension zuerkannt wurde - führen kann.
3. Dem Revisionsrekurs war daher im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags Folge zu geben. Das Erstgericht wird den Unterhaltsherabsetzungsantrag neuerlich und ohne Anwendung des Anspannungsgrundsatzes zu beurteilen haben (über den vom Jugendwohlfahrtsträger gestellten Erhöhungsantrag ab 1. 7. 2009 hat das Erstgericht bisher noch nicht entschieden). In diesem Zusammenhang werden Feststellungen über die genaue Höhe der dem Kläger geleisteten Zahlungen an Krankengeld und (nach seinem Vorbringen in weiterer Folge) Arbeitslosengeld und Notstandshilfe zu treffen sein. Das Verfahren erweist sich daher als ergänzungsbedürftig, um die Höhe der Unterhaltsleistungen bestimmen zu können.
Textnummer
E95995European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2010:0080OB00027.10V.1221.000Im RIS seit
19.01.2011Zuletzt aktualisiert am
14.06.2012