TE OGH 2011/2/1 10Ob90/10y

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Veröffentlicht am 01.02.2011
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Dr. Schramm und die Hofrätin Dr. Fichtenau als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj S*****, geboren am *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung für den 1. und 4. - 9. Bezirk), 1060 Wien, Amerlingstraße 11, wegen Unterhaltsvorschuss, infolge Revisionsrekurses des Bundes vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 19. Oktober 2010, GZ 48 R 233/10k-63, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 15. April 2010, GZ 45 PU 82/09a-50, ersatzlos aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Rekursgerichts wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Mit Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 4. 9. 2006, GZ 16 P 58/03-U14, war dem Minderjährigen der Unterhaltsvorschuss gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG mit der Begründung bewilligt worden, dass die Führung der Exekution gegen den unterhaltspflichtigen Vater aussichtslos erscheine. Bereits zu diesem Zeitpunkt lebte der Minderjährige, der österreichischer Staatsbürger ist, in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Beschluss des Erstgerichts vom 8. 5. 2009 wurden die Unterhaltsvorschüsse gemäß den §§ 3, 4 Z 1 UVG für den Zeitraum 1. 5. 2009 bis 30. 4. 2012 weiter gewährt.

Am 8. 4. 2010 stellte der Präsident des Oberlandesgerichts Wien unter Hinweis auf die Durchführungsverordnung zur neuen Wanderarbeitnehmerverordnung (EG) Nr 883/2004 sowie die VO (EG) 987/2009 den Antrag, die Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des 30. 4. 2010 einzustellen. Als Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, beide Verordnungen seien seit 1. 5. 2010 wirksam. Aus der Verordnung 883/2004 ergebe sich, dass Unterhaltsvorschüsse vom Anwendungsbereich ausgeschlossen seien, weil sie nicht als Familienleistung gelten. Damit entfalle die Exportverpflichtung für Unterhaltsvorschüsse ab 1. 5. 2010.

Das Erstgericht ordnete - unter Hinweis auf den Wortlaut des § 7 Abs 1 iVm § 20 Abs 2 UVG die gänzliche Innehaltung der Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des Monats April 2010 an.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Minderjährigen Folge und hob den Beschluss des Erstgerichts ersatzlos auf. Es sprach aus, dass der Revisionsrekurs zulässig sei, weil Rechtsprechung zu der Frage fehle, ob und inwieweit das Inkrafttreten der Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und das Außerkrafttreten der Verordnung (EG) 1408/71 einen Einfluss auf bereits rechtskräftig bewilligte Unterhaltsvorschüsse habe. Rechtlich ging das Rekursgericht davon aus, dass die auf ein laufendes erstinstanzliches Herabsetzungs- oder Einstellungsverfahren gegründete Innehaltung anfechtbar sei. Der in § 16 Abs 2 UVG vorgesehene Rechtsmittelausschluss greife nur dann, wenn bereits über die Herabsetzung oder Einstellung entschieden und gegen diese Entscheidung Rekurs erhoben wurde. Da § 20 UVG durch das FamRÄG 2009, BGBl 2009/75, keine Änderung erfahren habe, sei diese Rechtsprechung fortzuschreiben. Die Änderung der Rechtslage durch den ab 30. 4. 2010 gegebenen Wegfall der „Exportverpflichtung“ bilde keinen Grund für den Wegfall einer der Voraussetzungen der Gewährung der Vorschüsse iSd § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG. Da der „Wegfall der Voraussetzungen“ im Sinne dieser Gesetzesstelle eine Änderung der Entscheidungsgrundlage gegenüber der Grundlage der Vorschussgewährung voraussetze, könnten bereits zum Zeitpunkt der Unterhaltsgewährung bekannte Tatsachen nicht im Nachhinein als Einstellungsgrund gewertet werden. Das Fehlen der Anordnung der rückwirkenden Anwendung der VO (EG) 883/2004 führe dazu, dass jene Unterhaltsvorschussbeschlüsse, die vor Inkrafttreten der neuen Koordinierungsverordnung in Rechtskraft erwachsen sind, nicht neuerlich überprüft werden könnten; dies auch nicht im Hinblick auf das Inkrafttreten der neuen Rechtslage.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs des Bundes vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien mit dem Antrag, den Rekurs des Kindes zurückzuweisen; in eventu dem Revisionsrekurs Folge zu geben und den Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen.

Revisionsrekursbeantwortung wurde keine erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinne des Antrags auf Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses berechtigt, da mittlerweile in mehreren, seit Beschlussfassung des Rekursgerichts ergangenen Entscheidungen des zuständigen Fachsenats für Unterhaltsvorschusssachen die Rechtsauffassung vertreten wurde, für die Perioden ab dem 1. 5. 2010 sei die durch das Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 geänderte Rechtslage bereits anzuwenden.

I. Zur Rekurslegitimation des Minderjährigen:

Die durch das FamRÄG 2009, BGBl I 2009/75, geänderte Fassung des UVG ist im Wesentlichen am 1. 1. 2010 in Kraft getreten (§ 37 UVG) und im Anlassfall bereits anzuwenden. Unverändert geblieben ist die Rechtslage insoweit, als die Innehaltung der Vorschussauszahlung (§ 16 Abs 2 iVm § 19 Abs 4 UVG) nach dem Zweck dieser Bestimmungen auch im Zuge eines  Einstellungs- oder Herabsetzungsverfahrens angeordnet werden darf. Allerdings gilt in diesem Fall der in § 16 Abs 2 letzter Satz UVG normierte Rechtsmittelausschluss gegen die Innehaltungsanordnung nur dann, wenn bereits über die Einstellung oder Herabsetzung entschieden und gegen die Entscheidung Rekurs erhoben wurde. Wie bereits das Rekursgericht erkannt hat, ist die auf ein laufendes erstinstanzliches Herabsetzungs- oder Einstellungsverfahren gegründete Innehaltung  (wie im Anlassfall) jedoch anfechtbar (10 Ob 36/10g; 10 Ob 67/10s; RIS-Justiz RS0076752).

II. Zur Frage, ob für die Perioden ab dem 1. 5. 2010 bereits die durch das Inkrafttreten der VO (EG) 883/2004 geänderte Rechtslage anzuwenden ist:

Die neue Rechtslage ist im Sinne der bereits veröffentlichten Entscheidungen des zuständigen Fachsenats vom 5. 10. 2010, 10 Ob 45/10f, vom 19. 10 2010, 10 Ob 70/10g sowie vom 21. 12. 2010, 10 Ob 84/10s - zusammengefasst wie folgt zu beurteilen:

1. Nach § 8 UVG aF hat die Unterhaltsvorschussgewährung - abgesehen von Vorschüssen nach § 4 Z 4 UVG - für einen Zeitraum von drei Jahren (bei Anträgen, die nach dem 31. 12. 2009 gestellt werden, gemäß § 8 Satz 1 UVG für einen Zeitraum von fünf Jahren) zu erfolgen, soweit nicht zu erwarten ist, dass die Voraussetzungen früher wegfallen. Der Wegfall der Voraussetzungen für die Gewährung der Vorschüsse bildet einen Grund für deren Einstellung nach § 20 Abs 1 Z 4 lit a UVG.

2.  Mit 1. 5. 2010 wurden die VO (EWG) 1408/71 („Wanderarbeitnehmerverordnung“) von der neuen Koordinierungsverordnung VO (EG) 883/2004 und die Durchführungsverordnung VO (EWG) 574/72 von der neuen Durchführungsverordnung VO (EG) 987/2009 abgelöst. Durch den Eintrag in den Anhang I der neuen Koordinierungsverordnung sind österreichische Unterhaltsvorschüsse, die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Familienleistungen qualifiziert wurden, vom Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 ausdrücklich ausgenommen worden. Dies bedeutet, dass seit 1. 5. 2010 Unterhaltsvorschüsse im Unionsrechtskontext nicht mehr auf Grundlage des europäischen Koordinierungsrechts in Gestalt der VO (EG) 883/2004 zu beurteilen sind (10 Ob 45/10f; 10 Ob 25/10i; 10 Ob 14/10x). Die vom Europäischen Gerichtshof für den österreichischen Unterhaltsvorschuss in der Rs-Humer (EuGH 5. 2. 2002, Rs C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205) nach der VO (EWG) 1408/71 statuierte Exportverpflichtung für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, besteht aufgrund der Unanwendbarkeit des Koordinierungsrechts nicht mehr (RIS-Justiz RS0125933 [T1]). Es liegt aber auch keine Konstellation vor, bei der allenfalls aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 18 AEUV (ex-Art 12 EG) oder aus der VO (EWG) 1612/68 ein Anspruch des Kindes auf österreichischen Unterhaltsvorschuss abgeleitet werden könnte (Felten/Neumayr, Die neue Wanderarbeitnehmerverordnung und Unterhaltsvorschuss, iFamZ 2010, 164, 166 ff). Dem Kind steht daher aufgrund der seit 1. 5. 2010 geltenden Rechtslage ein Anspruch auf österreichische Unterhaltsvorschüsse nicht (mehr) zu.

3. Die neue VO (EG) 883/2004 enthält keine spezielle Übergangsbestimmung für bereits bewilligte Unterhaltsvorschüsse, die aufgrund der alten VO (EWG) 1408/71 in das EU-Ausland exportiert werden. Bei Ansprüchen nach der VO (EWG) 1408/71 handelt es sich in der Regel um Ansprüche, die erst durch das Unionsrecht entstanden sind. Es steht daher dem europäischen Gesetzgeber auch zu, diese Ansprüche zu ändern (vgl Spiegel in Fuchs, Europäisches Sozialrecht5 Teil 2 Art 87 Rz 4). Da der Unterhaltsvorschussantrag in die Zukunft gerichtet ist, ist die Änderung der Rechtslage mit 1. 5. 2010 zu berücksichtigen. Für die Perioden ab dem 1. 5. 2010 ist demnach bereits die neue Rechtslage anzuwenden (10 Ob 14/10x mwN).

In Stattgebung des Revisionsrekurses ist daher der erstinstanzliche Beschluss wiederherzustellen.

Schlagworte

Unterhaltsrecht

Textnummer

E96538

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0100OB00090.10Y.0201.000

Im RIS seit

02.04.2011

Zuletzt aktualisiert am

14.05.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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