Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Erich V*****, vertreten durch Dr. Riedl & Dr. Ludwig Rechtsanwälte GmbH in Haag, gegen die beklagten Parteien 1. Michael P*****, und 2. U***** AG, *****, beide vertreten durch Dr. Gert Üblacker-Riesenfels, Rechtsanwalt in Amstetten, wegen 36.271,09 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse 500 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Berufungsgericht vom 11. Februar 2010, GZ 21 R 26/10x-59, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Amstetten vom 19. November 2009, GZ 20 C 1489/06s-55, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagten Parteien haben die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
Die Zurückweisung einer ordentlichen Revision wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 letzter Satz ZPO).
Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, dass zu der - in der angefochtenen Entscheidung verneinten - Frage, ob die Gefährdungshaftung nach dem EKHG im Berufungsverfahren von Amts wegen geprüft werden müsse, wenn der Kläger in seiner Rechtsrüge weiterhin nur die Verschuldenshaftung releviere, „keine einschlägige Judikatur aufgefunden werden konnte“. Wäre diese Frage zu bejahen, käme im vorliegenden Fall infolge einer außergewöhnlichen Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs ein Schadensausgleich nach § 11 EKHG in Betracht.
Die von der klagenden Partei erhobene Revision ist entgegen diesem den Obersten Gerichtshof gemäß § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts wegen Fehlens einer erheblichen Rechtsfrage nicht zulässig. Dessen Rechtsansicht über die Pflicht zur allseitigen Überprüfung der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts weicht zwar von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ab; diese Fehlbeurteilung ist aber aus den folgenden Gründen für die Entscheidung nicht präjudiziell:
1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die Gefährdungshaftung nach dem EKHG im Verhältnis zur bürgerlich-rechtlichen Verschuldenshaftung ein Minus ist; eine auf behauptetes Verschulden gestützte Klage schließt die Haftung aus Gefährdung mit ein (2 Ob 210/09k mwN; RIS-Justiz RS0038123). Auch wenn sich der Kläger in seinem Prozessvorbringen ausdrücklich nur auf das Verschulden seines Unfallgegners stützt, ist bei Ausfall der Verschuldenshaftung daher die amtswegige Prüfung vorzunehmen, ob das Klagebegehren aus dem Rechtsgrund der Gefährdungshaftung nach dem EKHG berechtigt ist (vgl RIS-Justiz RS0029227 [T1], RS0038102). Dass dieser Grundsatz auch für das Rechtsmittelverfahren gilt, hat der Oberste Gerichtshof bereits in mehreren Entscheidungen klar zum Ausdruck gebracht (vgl 2 Ob 7/81; 1 Ob 49/95; 2 Ob 57/98s; 2 Ob 296/99i; 2 Ob 248/04s; allgemein für die Gefährdungshaftung: 5 Ob 550/73; 1 Ob 32/92). Es oblag daher dem Berufungsgericht, das die Verschuldenshaftung der beklagten Parteien verneinte, die rechtliche Beurteilung des Erstgerichts auch unter dem Gesichtspunkt der Gefährdungshaftung zu überprüfen.
2. Gerät ein Kraftfahrzeug ins Schleudern, sodass es von seinem Lenker nicht mehr voll beherrscht werden kann, so wird die von ihm ausgehende Gefahr in der Regel als außergewöhnliche Betriebsgefahr qualifiziert (2 Ob 210/09k mwN). Beim Schadensausgleich nach § 11 EKHG bleibt nach neuerer, mittlerweile gefestigter Rechtsprechung die außergewöhnliche Betriebsgefahr eines Fahrzeugs aber demjenigen Unfallbeteiligten gegenüber außer Betracht, der sie durch ein - schuldhaftes oder schuldloses -
verkehrswidriges Verhalten verursacht hat (2 Ob 2341/96w; 2 Ob 100/04a; 2 Ob 245/05a; zuletzt 2 Ob 232/10x; vgl auch 2 Ob 210/09k [zu § 9 Abs 2 EKHG]; RIS-Justiz RS0110986; Schauer in Schwimann, ABGB³ VII § 11 EKHG Rz 27).
Nach den Feststellungen der Vorinstanzen sah sich der Erstbeklagte zur Durchführung eines Ausweich- und Bremsmanövers dadurch veranlasst, dass ihm auf der etwa 5 m breiten Fahrbahn der vom Kläger gelenkte, samt angehängter Feldspritze 2,2 m breite Traktor mit einer die Fahrbahnmitte um 0,6 bis 0,7 m überschreitenden Fahrlinie entgegenkam. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, der Kläger habe gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen, wird in der Revision nicht in Frage gestellt. Daraus folgt jedoch, dass die durch die Abwehrhandlungen des Erstbeklagten ausgelöste Schleuderbewegung des Beklagtenfahrzeugs durch ein schuldhaftes verkehrswidriges Verhalten des Klägers verursacht worden ist. Unter diesen Prämissen ist die außergewöhnliche Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht zum Schadensausgleich heranzuziehen.
Die Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts begründet im konkreten Fall demnach keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO, fehlt es ihr doch an der für die Zulässigkeit der Revision erforderlichen Präjudizialität (2 Ob 4/08i; RIS-Justiz RS0088931 [T2]).
3. Aber auch mit den in der Revision aufrecht erhaltenen Schuldvorwürfen werden keine Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung dargetan:
3.1 Bei der Beurteilung der Verpflichtung, auf halbe Sicht zu fahren, kommt es auf die Breite des eigenen Fahrzeugs und die abstrakte Möglichkeit einer Begegnung mit einem 2,5 m breiten Fahrzeug an (2 Ob 7/07d; RIS-Justiz RS0073541). Beim Befahren einer 5 m breiten, also volle zwei Fahrstreifen aufweisenden Fahrbahn mit einem Pkw besteht daher im Regelfall keine Verpflichtung zum Fahren auf halbe Sicht (vgl 2 Ob 97/07i; RIS-Justiz RS0073655; auch RS0073670).
Entgegen der in der Revision vertretenen Ansicht könnte eine in Annäherung an die Unfallstelle zunächst vorgelegene Sichtbehinderung durch „Seitenbewuchs“ nur für den Grundsatz des Fahrens auf Sicht, nicht jedoch für die allfällige Verpflichtung zum Fahren auf halbe Sicht von Bedeutung sein. Ebenso wenig lässt sich im konkreten Fall eine solche Verpflichtung allein daraus ableiten, dass die Unfallstelle auf einer, wie der Kläger behauptet, „untergeordneten“ Landesstraße im ländlichen Raum lag.
Der Unfall ereignete sich auf einer Landesstraße im Freilandgebiet. Die grundsätzlich zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug daher gemäß § 20 Abs 2 StVO 100 km/h. Dass der Erstbeklagte nicht auf Sicht gefahren wäre, wird ihm vom Kläger (zu Recht) nicht zum Vorwurf gemacht. Sonstige Umstände, welche den Erstbeklagten allenfalls zur Einhaltung einer geringeren Geschwindigkeit als 75 km/h veranlassen hätten müssen, werden in der Revision nicht dargetan. Die einen Verstoß des Erstbeklagten gegen § 20 Abs 1 StVO verneinende Rechtsansicht des Berufungsgerichts lässt somit noch keine grobe Fehlbeurteilung erkennen, die Anlass zu einem korrigierenden Eingreifen des Obersten Gerichtshofs bieten könnte.
3.2 Einem Verkehrsteilnehmer, der bei einer plötzlich auftretenden Gefahr zu schnellem Handeln gezwungen wird und unter dem Eindruck dieser Gefahr eine - rückschauend betrachtet - unrichtige Maßnahme trifft, kann dies nicht als Verschulden angerechnet werden (2 Ob 138/09x; RIS-Justiz RS0023292).
Im vorliegenden Fall hat der Erstbeklagte auf den ihm unter teilweiser Benützung seiner Fahrbahnhälfte entgegenkommenden Traktor des Klägers ohne Verzögerung dadurch reagiert, dass er zuerst nach rechts auslenkte und dann eine Vollbremsung einleitete. Der Seitenversatz seines Fahrzeugs bewirkte, dass das rechte Räderpaar „leicht außerhalb des rechten Asphaltrandes“ auf das angrenzende unbefestigte Bankett geriet. Nach Einleitung der Vollbremsung wurde das Beklagtenfahrzeug deshalb instabil und es begann zu schleudern. Das Erstgericht stellte fest, das Auslenken nach rechts sei „verkehrstechnisch nicht als Überreaktion zu werten“.
Ausgehend von dieser Tatsachengrundlage hält sich die Auffassung des Berufungsgerichts, dem Erstbeklagten könne eine schuldhafte Fehlreaktion nicht zum Vorwurf gemacht werden, im Rahmen der zitierten Rechtsprechung. Die gegenteilige Ansicht des Klägers wirft keine erhebliche Rechtsfrage auf.
4. Da es der Lösung von erheblichen Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht bedurfte, ist die Revision als unzulässig zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 40, 50 ZPO. Die beklagten Parteien haben in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels nicht hingewiesen.
Textnummer
E96586European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0020OB00080.10V.0207.000Im RIS seit
23.03.2011Zuletzt aktualisiert am
16.06.2011