Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Irene Kienzl (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*****, vertreten durch Dr. Johannes Grund, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, 1200 Wien, Adalbert Stifter Straße 65, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. November 2010, GZ 12 Rs 136/10x-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 1. Juli 2010, GZ 7 Cgs 8/09s-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 373,68 EUR (darin enthalten 62,28 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger befand sich am 8. 12. 2000 als Angestellter auf einer Dienstreise mit der deutschen Bahn. Als er bei geöffnetem Waggonfenster eine Zigarettenkippe aus dem Fenster warf, erlitt er einen Stromschlag an der rechten Hand.
Mit Bescheid vom 17. 10. 2001 anerkannte die Beklagte den Unfall des Klägers als Arbeitsunfall und stellte eine Verrenkung des rechten Mittelfingers mit knöchernem Ausriss der Faserknorpel am Mittelgelenk sowie eine Rissquetschwunde im Bereich des Nagelbetts als Unfallfolgen fest. Weiters wurde ausgesprochen, dass ein Anspruch auf Versehrtenrente nicht bestehe, weil eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von mindestens 20 vH nicht vorliege.
Die vom Kläger dagegen zur AZ 19 Cgs 318/01k des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht erhobene und auf die Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 40 vH gerichtete Klage zog der Kläger in der Tagsatzung am 17. 2. 2004 zurück, weil nach dem Inhalt der im Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten der Unfall damals medizinisch nicht als Stromunfall qualifiziert wurde und eine durch die festgestellten Verletzungen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht objektiviert werden konnte. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 23. 2. 2004 „aufgrund der Bestimmung des § 72 ASGG“ fest, dass nach dem Arbeitsunfall vom 8. 12. 2000 gemäß § 203f ASVG kein Anspruch auf Versehrtenrente bestehe. Sie begründete diese Entscheidung damit, dass nach Beendigung des Verfahrens durch Zurücknahme der Klage gemäß § 72 ASGG ein Bescheid zu erlassen sei, welcher dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspreche. Gleichzeitig wurde der Kläger dahingehend belehrt, dass gegen diesen Bescheid (vom 23. 2. 2004) kein Klagerecht bestehe.
Am 14. 3. 2005 beantragte der Kläger wiederum die Gewährung einer Versehrtenrente aufgrund der Folgen seines Arbeitsunfalls vom 8. 12. 2000. Die Beklagte wies diesen Antrag des Klägers mit Bescheid vom 1. 6. 2005 gemäß § 183 ASVG ab, weil im Zustand der Unfallfolgen keine wesentliche Änderung eingetreten sei. In seiner gegen diesen Bescheid zur AZ 19 Cgs 168/05g des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht rechtzeitig erhobenen Klage begehrte der Kläger die Zuerkennung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß. Im Hinblick auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens zog der Kläger in der Tagsatzung am 6. 6. 2006 seine Klage zurück. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 20. 6. 2006 „aufgrund der Bestimmung des § 72 ASGG“ fest, dass nach dem Arbeitsunfall vom 8. 12. 2000 gemäß § 183 ASVG kein Anspruch auf Versehrtenrente bestehe. Sie begründete diese Entscheidung wiederum damit, dass nach Beendigung des Verfahrens durch Zurücknahme der Klage gemäß § 72 ASGG ein Bescheid zu erlassen sei, welcher dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspreche. Gleichzeitig wurde der Kläger dahingehend belehrt, dass auch gegen diesen Bescheid kein Klagerecht bestehe.
Mit Bescheid vom 16. 5. 2007 wies die Beklagte einen weiteren Antrag des Klägers vom 1. 2. 2007 auf Zuerkennung einer Versehrtenrente für die Folgen seines Arbeitsunfalls vom 8. 12. 2000 gemäß § 362 ASVG zurück. Der Kläger erhob dagegen zur AZ 19 Cgs 85/07d des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht erneut Klage auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß. Diese Klage zog der Kläger im Hinblick auf die Ergebnisse des Beweisverfahrens in der Tagsatzung am 26. 2. 2008 abermals zurück. Die Beklagte stellte daraufhin mit Bescheid vom 7. 3. 2008 „aufgrund der Bestimmung des § 72 ASGG“ fest, dass der Antrag des Klägers vom 1. 2. 2007 auf Zuerkennung der Versehrtenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 8. 12. 2000 gemäß § 362 ASVG zurückgewiesen worden sei. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Versicherungsträger gemäß § 72 ASGG in Rechtsstreitigkeiten, in denen das Vorliegen eines Arbeitsunfalls strittig sei, nach der Klagsrückziehung einen Bescheid zu erlassen habe, welcher dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspreche. Gleichzeitig wurde der Kläger wiederum dahingehend belehrt, dass auch gegen diesen Bescheid kein Klagerecht bestehe.
Am 3. 10. 2008 beantragte der Kläger unter Vorlage eines ärztlichen Privatgutachtens die „Herstellung des gesetzlichen Zustands iSd § 101 ASVG“ sowie die Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß. Hilfsweise stellte er einen Verschlimmerungsantrag. Die Beklagte wies mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 10. 12. 2008 „den Antrag (des Klägers) vom 3. Oktober 2008 auf Gewährung einer Versehrtenrente wegen Verschlimmerung der Folgen des Arbeitsunfalls vom 8. 12. 2000“ gemäß § 362 ASVG zurück, weil der neuerliche Antrag vor Ablauf eines Jahres nach Rechtskraft der Entscheidung über den vorangegangenen Antrag eingebracht worden sei, ohne dass vom Kläger eine wesentliche Änderung der zuletzt festgestellten Unfallfolgen glaubhaft bescheinigt worden sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die rechtzeitige Klage des Klägers mit dem Begehren auf Gewährung einer Versehrtenrente im Ausmaß von zumindest 50 vH der Vollrente ab 9. 12. 2000. Er brachte im Wesentlichen vor, aufgrund des vorgelegten Privatgutachtens stehe nunmehr eindeutig fest, dass es sich bei dem Arbeitsunfall vom 8. 12. 2000 um einen Stromunfall gehandelt habe und die im Gutachten beschriebenen Dauerfolgen daher ausschließlich in einem Kausalzusammenhang mit der Stromverletzung an seiner rechten Hand zu sehen seien.
Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte über den bereits eingangs wiedergegebenen Sachverhalt hinaus noch fest, dass beim Kläger weiterhin ein komplexes regionales Schmerzsyndrom Grad I besteht und die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit 20 vH beträgt. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger am 8. 12. 2000 (auch) einen Stromunfall erlitten hat, der zu diesem Schmerzsyndrom geführt hat. Eine Verschlechterung in diesen Unfallfolgen ist in den letzten Jahren und insbesondere seit der letzten Antragstellung des Klägers am 3. 10. 2008 nicht eingetreten.
In rechtlicher Hinsicht ging das Erstgericht davon aus, dass die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid neu über den Verschlimmerungsantrag des Klägers abgesprochen habe; nur insoweit bestehe demnach die sukzessive Zuständigkeit des Arbeits- und Sozialgerichts. Da der Kläger in den Vorverfahren die Klage jeweils zurückgezogen und die Beklagte lediglich Wiederholungsbescheide erlassen habe, welche allerdings keine Sperrfrist iSd § 362 ASVG ausgelöst hätten, sei inhaltlich zu prüfen, ob „im Vergleich zu den letzten abweisenden Bescheiden“ eine wesentliche Verschlechterung in den Unfallfolgen eingetreten sei. Es habe zwar der gerichtliche Sachverständige den Unfall - zum Unterschied vom Gutachter im Vorverfahren - als Stromunfall qualifiziert und eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH angenommen. Der Gesundheitszustand des Klägers bestehe allerdings nahezu unverändert seit dem Eintritt des Arbeitsunfalls, weshalb die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung einer Versehrtenrente wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht gegeben seien.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge. Es sprach aus, dass das Begehren des Klägers auf Gewährung einer Versehrtenrente für den Zeitraum ab 3. 10. 2008 dem Grunde nach im Ausmaß einer Dauerrente von 20 vH der Vollrente zu Recht bestehe, und trug der Beklagten die Leistung einer vorläufigen Zahlung von 300 EUR monatlich ab 3. 10. 2008 auf. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren des Klägers wies es - unbekämpft - ab.
Bei seiner rechtlichen Beurteilung ging das Erstgericht davon aus, dass die nach den jeweiligen Klagsrückziehungen des Klägers in den sozialgerichtlichen Vorverfahren von der Beklagten erlassenen „Wiederholungsbescheide“ ohne entsprechende Rechtsgrundlage ergangen seien und ihnen deshalb keine Rechtskraftwirkung iSd § 183 ASVG zukomme. Es gehe daher beim gegenständlichen Verfahren inhaltlich weder um die Wiederherstellung des gesetzlichen Zustands nach § 101 ASVG, wofür die Sozialgerichte gar nicht zuständig wären, noch um einen Fall der Korrektur einer ursprünglich unrichtigen Einschätzung, weil bisher über den Rentenanspruch des Klägers noch nicht (auch nicht im Sinne einer negativen Feststellung der Dauerrente) rechtskräftig entschieden worden sei. Mangels Rechtskraftwirkung einer der bisher ergangenen Vorentscheidungen sei daher im gegenständlichen Verfahren die Kausalitätsfrage neu zu prüfen. Auf der Grundlage der vom Erstgericht getroffenen und unbekämpft gebliebenen Tatsachenfeststellungen habe der Kläger ab dem Zeitpunkt der (verspäteten) Antragstellung am 3. 10. 2008 Anspruch auf eine Dauerrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil eine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Rechtskraftwirkung unzulässiger Wiederholungsbescheide nach § 72 ASGG fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn einer Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils abzuändern.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision keine Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
Die Beklagte macht im Wesentlichen geltend, sie sei infolge der Klagsrückziehungen des Klägers in den sozialgerichtlichen Vorverfahren iSd § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG verpflichtet gewesen, einen Wiederholungsbescheid zu erlassen, um die festgestellten Gesundheitsstörungen rechtskräftig festzustellen bzw um rechtskräftig festzustellen, dass sich in den festgestellten Gesundheitsstörungen keine wesentliche Veränderung ergeben habe. Das Berufungsgericht hätte daher nur prüfen dürfen, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gemäß § 183 Abs 1 ASVG gegenüber den rechtskräftig festgestellten Verletzungsfolgen vorliege. Die Einbeziehung des Stromunfalls stelle daher eine unzulässige Neuerung dar. Da das Beweisverfahren keine wesentliche Veränderung der Verhältnisse im Sinn einer Verschlimmerung zu den rechtskräftig festgestellten Verletzungsfolgen ergeben habe, sei das Klagebegehren nicht berechtigt.
Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:
1. Gemäß § 367 Abs 1 zweiter Satz ASVG ist vom Versicherungsträger auch über den Antrag auf Zuerkennung oder über die amtswegige Feststellung unter anderem einer Versehrtenrente aus der Unfallversicherung sowie über die Feststellung, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls bzw einer Berufskrankheit ist, jedenfalls ein Bescheid in Leistungssachen zu erlassen, auch wenn nach Eintritt einer Gesundheitsstörung eine Leistung aus der Unfallversicherung nicht anfällt. Dieser für das Verfahren vor den Versicherungsträgern in Leistungssachen geltenden Bestimmung entsprechen für das gerichtliche Verfahren in Sozialrechtssachen die §§ 65 Abs 2 und 82 Abs 5 ASGG. Nach § 65 Abs 2 ASGG sind Sozialrechtssachen auch Klagen auf Feststellung. Als Feststellung eines Rechtsverhältnisses oder Rechts gilt auch diejenige, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist (§ 367 Abs 1 ASVG). Nach § 82 Abs 5 ASGG schließt ein auf einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gestütztes Leistungsbegehren das Eventualbegehren auf Feststellung ein, dass die geltend gemachte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, sofern darüber nicht schon abgesprochen worden ist.
1.1 Durch diese Regelungen soll aus Gründen der Prozessökonomie sichergestellt werden, dass der aufgrund eines Leistungsbegehrens vorgenommene Verfahrensaufwand zumindest in einer solchen Feststellung, dass die geltend gemachte Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, Niederschlag findet. Mit Rechtskraft der Feststellung ist der Kausalzusammenhang für ein späteres Verfahren (auf Zuerkennung von Leistungen aus der Unfallversicherung) bindend festgestellt (Neumayr in ZellKomm § 65 Rz 28 f sowie § 82 Rz 11 jeweils mwN).
2. Die (rechtzeitige und zulässige) Erhebung einer Klage setzt den bekämpften Bescheid des Sozialversicherungsträgers gemäß § 71 Abs 1 ASGG „im Umfang des Klagebegehrens“ außer Kraft. Dieses Außerkrafttreten wird von der herrschenden Rechtsprechung weit ausgelegt, um zu gewährleisten, dass sich die Entscheidungsbefugnis des Gerichts möglichst auf die gesamte Rechtssache erstreckt. Nur dann, wenn sich ein bestimmter Teil des Bescheids inhaltlich vom anderen Teil trennen lässt, weil die darin behandelten Fragen auf einem anderen Rechtsgrund beruhen oder jedenfalls in keinem engen Zusammenhang stehen, und unangefochten bleibt, kann dieser Teil für sich allein rechtskräftig werden (Neumayr aaO § 71 ASGG Rz 2 mwN).
2.1 Gemäß § 71 Abs 2 erster Satz ASGG ist nach der Einbringung der Klage die Leistungsverpflichtung, die dem außer Kraft getretenen Bescheid entspricht, „als vom Versicherungsträger unwiderruflich anerkannt anzusehen“. Als unwiderruflich anerkannt sind nach § 72 Abs 2 zweiter Satz ASGG auch das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit anzusehen, soweit dies dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass nur in den Spruch des Bescheids aufgenommene Feststellungen nach dessen Außerkraftsetzung als fingierte Anerkenntisse „weiterbestehen“ können. Eine bloß in den Bescheidgründen enthaltene Beurteilung über das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals kann hingegen auch nach dem Außerkrafttreten des Bescheids nicht als „unwiderruflich anerkannt“ angesehen werden (vgl Fink, Die sukzessive Zuständigkeit im Verfahren in Sozialrechtssachen 507).
2.2 Nach der Ansicht von Fink aaO 508 sei bei der gebotenen Harmonisierung mit den zu den bereits erwähnten Bestimmungen der §§ 367 Abs 1 zweiter Satz ASVG, 65 Abs 2 zweiter Satz ASGG dargelegten Grundsätzen davon auszugehen, dass als unwiderruflich anerkannt iSd § 71 Abs 2 zweiter Satz ASGG nicht das „Vorliegen eines Arbeitsunfalls“ gelte, sondern die Feststellung, dass eine (tatsächlich vorliegende) Gesundheitsschädigung Folge eines solchen Unfalls (oder einer Berufskrankheit) sei, sofern im Spruch des außer Kraft getretenen Bescheids eine solche Feststellung enthalten gewesen sei. Demgegenüber vertritt Kuderna (in ASGG2 § 71 Anm 6b) im Hinblick auf den eindeutigen Gesetzeswortlaut die Ansicht, dass im Bescheid nicht notwendig auch die Feststellung enthalten sein müsse, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit sei. Es müsse im Entscheidungstenor des Bescheids lediglich das Vorliegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ausgesprochen sein.
2.3 Nach § 71 Abs 3 ASGG ist der Versicherungsträger berechtigt, bei einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse während des gerichtlichen Verfahrens einen neuen Bescheid zu erlassen. Diese Befugnis des Versicherungsträgers bezieht sich allerdings nur auf den Fall, dass nach dem außer Kraft getretenen Bescheid eine Leistungsverpflichtung gegeben ist (§ 71 Abs 2 erster Satz ASGG), während bezüglich der Feststellung, dass ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit vorliegt (§ 71 Abs 2 zweiter Satz ASGG), eine „Änderung der Verhältnisse“ nicht in Betracht kommt (vgl Feitzinger/Tades, ASGG2 § 71 Anm 5d mwN).
3. Gemäß § 72 ASGG gelten für die Zurücknahme der Klage unter anderem folgende Besonderheiten:
1. Der durch die Klage außer Kraft getretene Bescheid tritt durch die Zurücknahme der Klage nicht wieder in Kraft;
2. nimmt ein Versicherter seine Klage zurück, so
a) bedarf es hiezu in keinem Fall der Zustimmung des Versicherungsträgers;
b) gilt sein Antrag soweit als zurückgezogen, als der darüber ergangene Bescheid durch die Klage außer Kraft getreten ist;
c) hat der Versicherungsträger binnen vier Wochen ab Kenntnis von der Klagsrücknahme mit Bescheid jene Leistung festzustellen, die er dem Versicherten auch nach dem Zeitpunkt der Zurücknahme der Klage nach dem § 71 Abs 2 ASGG zu gewähren hätte, wenn die Klage nicht zurückgenommen worden wäre; auch sonst hat der Versicherungsträger in Rechtsstreitigkeiten, in denen das Vorliegen eines Arbeitsunfalls strittig ist, einen Bescheid zu erlassen, der dem durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheid entspricht.
3.1 Das Ziel dieser Regelungen des § 72 ASGG liegt darin, einerseits die Wirkungen der Klagsrücknahme auf die zugrunde liegende Leistungspflicht und das Bescheidverfahren als Folge der sukzessiven Zuständigkeit in Einklang zu bringen, andererseits sicherzustellen, dass der Versicherte den an sich unstrittig gebliebenen Teil - die ursprünglich zuerkannten Leistungen - weiterhin zugesprochen erhält. Danach tritt als Konsequenz der sukzessiven Kompetenz der durch die Klagserhebung außer Kraft getretene Bescheid nach der Klagsrückziehung nicht wieder in Kraft (Z 1). Damit dann nicht der ursprüngliche Antrag als „offen“ gilt, gilt auch dieser als zurückgezogen (Z 2 lit b). Der Versicherte hat nur mehr Anspruch auf Wiedererlassung (genau) des früheren Bescheids nach Z 2 lit c („Wiederholungsbescheid“). Der Versicherungsträger hat daher binnen vier Wochen ab Kenntnis von der Klagsrücknahme mit „Wiederholungsbescheid“ jene Leistung festzustellen, die er dem Versicherten auch nach dem Zeitpunkt der Zurücknahme der Klage nach dem § 71 Abs 2 ASGG zu gewähren hätte, wenn die Klage nicht zurückgenommen worden wäre. Ein Wiederholungsbescheid ist nach § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG idF ASGG-Nov 1994 (BGBl 1994/624) auch zu erlassen, wenn im ursprünglichen Bescheid das Vorliegen eines Arbeitsunfalls in Form einer Feststellung bejaht worden war (Neumayr aaO § 72 ASGG Rz 1 f mwN).
3.2 Nach den Erläuternden Bemerkungen zur RV BlgNR 1654 XVIII. GP 26 soll mit der Einführung eines „Wiederholungs-Feststellungsbescheids“ in § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG durch die ASGG-Nov 1994 den Anliegen des § 65 Abs 2 Satz 2 sowie des § 82 Abs 5 ASGG, künftige Streitigkeiten zu vermeiden, zumindest aber deren Entscheidung dadurch zu erleichtern, dass über die Streitigkeit des Vorliegens eines Arbeitsunfalls (und der damit verbundenen Gesundheitsstörungen) möglichst rasch nach dem Unfallsgeschehen rechtskräftig abgesprochen wird, Rechnung getragen werden. Zu den möglichen Anlassfällen eines solchen Feststellungsbescheids führen die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage unter anderem aus, dass ein Unfallversicherungsträger einen Leistungsanspruch eines Versicherten verneinen könne, weil gar kein Arbeitsunfall vorliege oder zwar ein Arbeitsunfall vorliege, er aber keinerlei Gesundheitsstörung oder keine im Sinne einer wesentlichen Bedingung oder keine in einem, einen Leistungsanspruch begründenden Ausmaß zur Folge gehabt habe. Da in solchen Fällen wegen des weiten Außerkrafttretens des bekämpften Bescheids nicht gesichert erscheine, dass der Ausspruch des Bescheids über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls von der Klage unberührt bleibe, bestehe die Gefahr, dass es nach der Klagsrücknahme durch den Versicherten für die Zukunft an einer rechtskräftigen Entscheidung über das Vorliegen (bzw Nichtvorliegen) eines Arbeitsunfalls fehle. Da der Versicherte sehr wohl ein Rechtsschutzinteresse daran haben könne, dass das Vorliegen eines Arbeitsunfalls rechtskräftig festgestellt sei, auch wenn die von ihm (derzeit) geltend gemachte Gesundheitsstörung für einen Leistungsanspruch nicht ausreiche, solle auch in diesem Fall dem Versicherten nach seiner Klagsrücknahme zwecks Vermeidung eines späteren schwierigen Beweisverfahrens ein Anspruch auf einen „Wiederholungsbescheid“ zustehen.
3.3 Von dieser Neuregelung des § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG sind somit jene Bescheide erfasst, in denen die Zuerkennung von Leistungen abgelehnt und zugleich die (spruchmäßige) Feststellung getroffen wurde, dass eine (tatsächlich eingetretene) Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls ist. In diesen Fällen ist nunmehr davon auszugehen, dass mit der Bekämpfung des die Leistungen ablehnenden Bescheids auch diese Feststellung außer Kraft getreten ist und daher aufgrund der dargelegten Erwägungen des Gesetzgebers ein „Wiederholungs-Feststellungsbescheid“ zu erlassen ist (Fink, Die sukzessive Zuständigkeit 477 f).
4. Bei Berücksichtigung der dargestellten Rechtslage ergibt sich für den vorliegenden Fall folgende Beurteilung:
4.1 Der Bescheid der Beklagten vom 17. 10. 2001 ist durch die rechtzeitige Erhebung der Klage an das Sozialgericht in seinem gesamten Umfang (Anerkennung bestimmter Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalls und Ablehnung des Begehrens auf Gewährung einer Versehrtenrente) außer Kraft getreten. Durch die Klagsrückziehung in der Tagsatzung am 17. 2. 2004 ist der durch die Klage (zur Gänze) außer Kraft getretene Bescheid nicht wieder in Kraft getreten. Der Antrag des Klägers auf Gewährung einer Versehrtenrente galt gemäß § 72 Z 2 lit b ASGG als zurückgezogen und konnte daher nicht mehr Gegenstand einer Entscheidung des beklagten Sozialversicherungsträgers sein. Die von der Beklagten im Wiederholungsbescheid vom 23. 2. 2004 vorgenommene Feststellung, dass nach dem Arbeitsunfall vom 8. 12. 2000 kein Anspruch auf Versehrtenrente bestehe, entbehrt somit einer gesetzlichen Grundlage und war daher unzulässig. Die Beklagte hätte in ihrem Wiederholungsbescheid gemäß § 72 Z 2 lit c zweiter Halbsatz ASGG vielmehr neuerlich (nur) die Feststellung treffen müssen, dass die festgestellten Gesundheitsstörungen Folge eines Arbeitsunfalls sind.
In der Folge hat der Kläger bei der Beklagten am 14. 3. 2005 sowie am 1. 2. 2007 zwei weitere Anträge auf Gewährung einer Versehrtenrente gestellt, welche von der Beklagten mit Bescheid vom 1. 6. 2005 abgewiesen bzw mit Bescheid vom 16. 5. 2007 zurückgewiesen wurden. Der Kläger hat auch gegen diese beiden Bescheide rechtzeitig Klage erhoben, seine Klage jedoch in der Folge im sozialgerichtlichen Verfahren jeweils wieder zurückgezogen. Auch durch diese Klagsrückziehungen sind die durch die Klage außer Kraft getretenen Bescheide nicht wieder in Kraft getreten und die entsprechenden Anträge des Klägers auf Gewährung einer Versehrtenrente aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 8. 12. 2000 galten als zurückgezogen. Die von der Beklagten aus Anlass der Klagsrückziehung erlassenen Wiederholungsbescheide vom 20. 6. 2006, wonach „kein Anspruch auf Versehrtenrente bestehe“ bzw vom 7. 3. 2008, wonach der „Antrag vom 1. Februar 2007 auf Zuerkennung der Versehrtenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 8. Dezember 2000 gemäß § 362 ASVG zurückgewiesen worden sei“, entbehrten daher ebenfalls einer gesetzlichen Grundlage.
4.2 Zutreffend ist daher das Berufungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass den ohne Rechtsgrundlage ergangenen Wiederholungsbescheiden der Beklagten keine Rechtskraftwirkung iSd § 183 Abs 1 ASVG zukommen kann, weil zulässiger Inhalt eines Wiederholungsbescheids nur die Feststellung des Vorliegens (bzw Nichtvorliegens) eines Arbeitsunfalls gewesen wäre und insoweit eine „Änderung der Verhältnisse“ iSd § 183 Abs 1 ASVG nicht in Betracht kommt. Beim gegenständlichen Verfahren handelt es sich auch nicht um die Wiederherstellung des gesetzlichen Zustands nach § 101 ASVG, wofür auch keine Zuständigkeit der Sozialgerichte gegeben wäre. Dem Kläger stand es nach den Klagsrücknahmen in den sozialgerichtlichen Verfahren vielmehr frei, seinen Anspruch auf Versehrtenrente bei der Beklagten jeweils neuerlich geltend zu machen.
4.3 Über den verfahrensgegenständlichen Antrag des Klägers vom 3. 10. 2008 war daher nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts unabhängig von den Ergebnissen der vorangegangenen Verfahren neu zu entscheiden. Gleichzeitig löste der neue Antrag des Klägers beim beklagten Versicherungsträger, wie ebenfalls bereits das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ein neues Anfallsdatum für die begehrte Versehrtenrente aus. Dass aber dem Kläger unter alleiniger Berücksichtigung der Ergebnisse des gegenständlichen Verfahrens für die Folgen seines Arbeitsunfalls vom 8. 12. 2000 die vom Berufungsgericht für den Zeitraum ab der neuerlichen Antragstellung (3. 10. 2008) dem Grunde nach zugesprochene Versehrtenrente im Ausmaß von 20 vH der Vollrente als Dauerrente zusteht, wird auch in den Rechtsmittelausführungen der Beklagten nicht mehr in Zweifel gezogen.
Der Revision musste daher ein Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Schlagworte
SozialrechtTextnummer
E96719European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00010.11K.0301.000Im RIS seit
06.04.2011Zuletzt aktualisiert am
17.09.2013