TE OGH 2011/3/8 12Os10/11d (12Os11/11a, 12Os12/11y)

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Veröffentlicht am 08.03.2011
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Der Oberste Gerichtshof hat am 8. März 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Bachner-Foregger, Dr. Nordmeyer und Dr. Michel-Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Fischer als Schriftführerin in der Strafsache gegen Matthias S***** wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB, AZ 214 U 126/09h des Bezirksgerichts Graz-Ost, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Entscheidungen und Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur Dr. Geymayer zu Recht erkannt:

Spruch

Es verletzen das Gesetz

1. das Unterbleiben der Protokollierung des wesentlichen Inhalts des mündlich verkündeten, aber nicht ausgefertigten Beschlusses des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 30. November 2009, GZ 214 U 126/09h-6, auf vorläufige Verfahrenseinstellung gemäß §§ 199, 201 Abs 1 StPO iVm § 7 JGG in § 86 Abs 3 zweiter Satz StPO;

2. der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 4. Juli 2010, GZ 214 U 126/09h-13, in § 271 Abs 7 dritter Satz StPO iVm § 447 StPO.

Der Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 4. Juli 2010, GZ 214 U 126/09h-13, wird aufgehoben. Der Antrag der Staatsanwaltschaft Graz auf „Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls“ wird zurückgewiesen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 214 U 126/09h des Bezirksgerichts Graz-Ost erklärte sich der am 17. September 1993 geborene jugendliche Angeklagte Matthias S***** nach Belehrung und einer „Umfrage“ am 30. November 2009 in der gegen ihn wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB geführten Hauptverhandlung bereit, innerhalb einer Frist von sechs Monaten gemeinnützige Leistungen im Ausmaß von vierzig Stunden zu erbringen, und zahlte unter einem die mit 50 Euro bestimmten Kosten.

Daraufhin verkündete der Bezirksrichter den Beschluss auf „vorläufige Einstellung des Strafverfahrens gemäß den §§ 199, 201 Abs 1 StPO, § 7 JGG“ (ON 6 S 37).

Im Anschluss daran wurde ein Verzicht der „Parteien“ auf Beschlussausfertigung und Rechtsmittel protokolliert (ON 6, S 38).

Eine Protokollierung des wesentlichen Inhalts des Beschlusses im Hauptverhandlungsprotokoll unterblieb.

Gegen diesen Beschluss erhob die Staatsanwaltschaft Graz am 11. Dezember 2009 Beschwerde (ON 7).

Mit Beschluss vom 17. März 2010, GZ 1 Bl 4/10g, gab das Landesgericht für Strafsachen Graz der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Folge und trug dem Erstgericht die Durchführung des Verfahrens gegen den Angeklagten auf (ON 10).

Am 21. April 2010 beantragte die Staatsanwaltschaft Graz, das Hauptverhandlungsprotokoll vom 30. November 2009 dahingehend zu berichtigen, dass nur der Angeklagte auf Beschlussausfertigung und Rechtsmittel verzichtet habe (ON 12).

Diesen Antrag wies das Bezirksgericht Graz-Ost mit Beschluss vom 4. Juli 2010 mit der Begründung ab, das Hauptverhandlungsprotokoll entspräche dem tatsächlichen Geschehen (ON 13).

Die Generalprokuratur erhob gegen das Unterbleiben der Protokollierung des wesentlichen Inhalts des Beschlusses des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 30. November 2009, GZ 214 U 126/09h-6, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Beschwerdegericht vom 17. März 2010, AZ 1 Bl 4/10g, und gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 4. Juli 2010, GZ 214 U 126/09h-13, Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes und begründete diese wie folgt:

„1./ Gegen einen Beschluss auf vorläufige Einstellung des Verfahrens (§ 201 Abs 1 iVm § 199 StPO) kann gemäß § 209 Abs 2 dritter Satz StPO nur die Staatsanwaltschaft Beschwerde erheben.

Mit Blick auf den nach Verkündung vom gemäß § 4 Abs 3 StAG bestellten Anklagevertreter erklärten Rechtsmittelverzicht erwuchs der in Rede stehende Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost in Rechtskraft und entfaltete demnach zugunsten des Angeklagten Bindungswirkung (RIS-Justiz RS0088379).

Die materielle Rechtskraft des Beschlusses hat dessen inhaltliche Unabänderlichkeit zur Folge. Eine Fortsetzung des Strafverfahrens gegen den jugendlichen Angeklagten - zwar ohne Förmlichkeiten der Wiederaufnahme (Schroll, WK-StPO § 205 Rz 19) - käme nur unter der vom Gericht gemäß § 199 StPO sinngemäß anzuwendenden Bestimmung des § 205 Abs 2 Z 1 StPO in Betracht, demnach wenn der Angeklagte die gemeinnützigen Leistungen nicht vollständig oder rechtzeitig erbringt bzw wenn Umstände eintreten, die den Wegfall einer der im § 7 Abs 2 JGG genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen für das diversionelle Vorgehen bewirken (vgl Schroll, WK-StPO § 205 Rz 19).

Wegen des bei der gebotenen Zulässigkeitsprüfung gemäß § 89 Abs 2 erster Satz StPO auch für das Beschwerdegericht aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ersichtlichen Rechtsmittelverzichts der Staatsanwaltschaft hätte das Landesgericht für Strafsachen Graz die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz als unzulässig zurückweisen müssen. Demnach verletzt die unter Missachtung der Sperrwirkung und zum Nachteil des Angeklagten erfolgte Sachentscheidung des Landesgerichts für Strafsachen Graz das Gesetz in dem im 16. Hauptstück der Strafprozessordnung verankerten Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen (RIS-Justiz RS0101270 [T23]).

2./ Gemäß § 86 Abs 3 zweiter Satz StPO ist der wesentliche Inhalt (§ 86 Abs 1 StPO) eines in der Hauptverhandlung mündlich verkündeten, zufolge Rechtsmittelverzichts nicht ausgefertigten Beschlusses zu protokollieren. Der aktuelle Vermerk: 'Beschluss: Das Strafverfahren wird gemäß den §§ 199, 201 Abs 1 StPO, § 7 JGG vorläufig eingestellt' genügt den an Spruch und Begründung gestellten Anforderungen des § 86 Abs 1 StPO nicht, weil weder der von der Einstellung betroffene Angeklagte noch die der vorläufigen Verfahrenseinstellung zugrunde liegende Straftat erkennbar ist und die Gründe für die Verfahrenseinstellung fehlen.

3./ Nach der gemäß § 447 StPO und § 31 JGG auch im bezirksgerichtlichen Jugendstrafverfahren geltenden Bestimmung des § 271 Abs 7 zweiter Satz StPO hat der Vorsitzende das Protokoll von Amts wegen oder auf Antrag einer zur Ergreifung von Berufung oder Nichtigkeitsbeschwerde berechtigten Partei nach Vornahme der erforderlichen Erhebungen durch Beschluss zu ergänzen oder zu berichtigen, soweit erhebliche Umstände oder Vorgänge im Protokoll der Hauptverhandlung nicht erwähnt oder unrichtig wiedergegeben wurden. Gemäß § 271 Abs 7 dritter Satz StPO sind Protokollberichtigungsanträge, die nach Ablauf der für die Ausführung einer gegen das Urteil angemeldeten Nichtigkeitsbeschwerde oder Berufung offen stehenden Frist eingebracht werden, als unzulässig zurückzuweisen. Im Fall der Urteilsanfechtung ist eine Protokollberichtigung nur bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts zulässig (Danek, WK-StPO § 271 Rz 53; RIS-Justiz RS0121892; 13 Os 187/08m).

Demnach wäre der sowohl nach Abgabe des Rechtsmittelverzichts als auch nach Entscheidung des Beschwerdegerichts eingelangte Protokollberichtigungsantrag der Staatsanwaltschaft Graz vom 21. April 2010 als unzulässig zurückzuweisen gewesen.

Die meritorische - wenngleich Matthias S***** nicht benachteiligende - Entscheidung über den Protokollberichtigungsantrag verletzt demnach das Gesetz in der Bestimmung des § 271 Abs 7 dritter Satz (iVm § 447) StPO.“

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

1. Gemäß § 86 Abs 3 zweiter Satz StPO ist der wesentliche Inhalt (§ 86 Abs 1 StPO) eines in der Hauptverhandlung mündlich verkündeten, zufolge Rechtsmittelverzichts nicht ausgefertigten Beschlusses zu protokollieren. Der Vermerk: „Beschluss: Das Strafverfahren wird gemäß den §§ 199, 201 Abs 1 StPO, § 7 JGG vorläufig eingestellt“ genügt - in Übereinstimmung mit den Ausführungen der Generalprokuratur - den an Spruch und Begründung gestellten Anforderungen des § 86 Abs 1 StPO nicht, weil weder der von der Einstellung betroffene Angeklagte noch die der vorläufigen Verfahrenseinstellung zugrunde liegende Straftat erkennbar ist und die Gründe für die Verfahrenseinstellung sowie eine hinreichende Umschreibung der gemeinnützigen Leistung (vgl RIS-Justiz RS0119849) fehlen.

2. Die Abgabe von Rechtsmittelerklärungen unmittelbar nach Verkündung des Urteils (oder wie hier des Beschlusses auf Einstellung des Verfahrens) ist nicht mehr Gegenstand der Hauptverhandlung. Die Protokollierung derartiger Erklärungen ist demnach nicht Teil des gemäß § 271 StPO „über die Hauptverhandlung“ aufzunehmenden Protokolls und daher einer Berichtigung nach § 271 Abs 7 StPO nicht zugänglich. Ein gleichwohl unter Berufung auf diese Vorschrift gefasster Beschluss verstößt gegen diese Bestimmung (im bezirksgerichtlichen Verfahren iVm § 447 StPO) und ist wirkungslos (RIS-Justiz RS0125616; vgl RIS-Justiz RS0116270).

3. Gemäß § 89 Abs 2 StPO hat das Beschwerdegericht eine Beschwerde, die verspätet oder von einer Person eingebracht wurde, der ein Rechtsmittel nicht zusteht (§ 87 Abs 1 StPO), als unzulässig zurückzuweisen. Das Beschwerdegericht hat im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung auch die Frage des Vorliegens eines Rechtsmittelverzichts (in freier Beweiswürdigung, allenfalls aufgrund von Aufklärungen gemäß § 89 Abs 5 StPO) zu klären (vgl 13 Os 187/08m, 13 Os 155/09g).

Gegenstand einer gegen eine Entscheidung erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ist der Vergleich der in dieser Entscheidung getroffenen Sachverhaltsannahmen (sofern diese nicht ihrerseits als rechtsfehlerhaft bekämpft werden) mit der darauf gestützten Rechtsfolge (RIS-Justiz RS0122466, RS0120220; Ratz, WK-StPO § 292 Rz 6 f). Vorliegend ging das Beschwerdegericht - ohne dies zu begründen - in tatsächlicher Hinsicht ausdrücklich von rechtzeitiger (und damit implizit: mangels Rechtsmittelverzichts zulässiger) Beschwerde der Staatsanwaltschaft aus (ON 10, S 48). Daran anknüpfend lag in der meritorischen Entscheidung über dieses Rechtsmittel kein Gesetzesverstoß, weil das Rechtsmittelgericht Rechtskraft des erstinstanzlichen Beschlusses gerade nicht angenommen hat. Willkür in Betreff dieser Sachverhaltsannahme macht die Nichtigkeitsbeschwerde jedoch nicht geltend.

4. Der (wirkungslose) Beschluss des Bezirksgerichts Graz-Ost vom 4. Juli 2010, GZ 214 U 126/09h-13 war zur Klarstellung zu beseitigen (RIS-Justiz RS0116267), der auf einen unzulässigen Entscheidungsgegenstand gerichtete Antrag der Staatsanwaltschaft Graz vom 21. April 2010 (ON 12) zurückzuweisen.

Schlagworte

Strafrecht

Textnummer

E96978

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:0120OS00010.11D.0308.000

Im RIS seit

05.05.2011

Zuletzt aktualisiert am

05.05.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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