Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch die Senatspräsidentin des Oberlandesgerichts Dr. Jesionek als Vorsitzende und die Richter des Oberlandesgerichts Dr. Rassi und MMag. Dr. Winkelhofer in der Rechtssache der klagenden Partei G*****aktiengesellschaft, *****, 1010 Wien, vertreten durch BINDER GRÖSSWANG Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. O***** Ges.m.b.H., *****, 1232 Wien, vertreten durch die Preslmayr Rechtsanwälte OG in Wien, 2. S***** L***** GesmbH, *****, 1100 Wien, vertreten durch Diwok Hermann Petsche Rechtsanwälte GmbH in Wien, 3. S***** A***** GmbH *****, 1100 Wien, vertreten durch Diwok Hermann Petsche Rechtsanwälte GmbH in Wien, 4. K***** Aktiengesellschaft, *****, 1231 Wien, vertreten durch Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, 5. T***** Gesellschaft m.b.H., *****, 1230 Wien, vertreten durch Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Rechtsanwälte in Wien, wegen EUR 1.093.199,65 sA und Feststellung (Streitwert insg EUR 1.123.200,65), über den Rekurs der fünftbeklagten Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien vom 18.02.2011, GZ 20 Cg 142/10a-7, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird ersatzlos behoben und dem Erstgericht die Fortführung des Verfahrens aufgetragen.
Die Rekurskosten sind weitere Verfahrenskosten.
Der Wert des Entscheidungsgegenstands übersteigt EUR 30.000,--.
Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig.
Text
Begründung:
Die Klägerin begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 1.093.199,65 sA zur ungeteilten Hand und die Feststellung, dass die Beklagten der Klägerin zur ungeteilten Hand für sämtliche Schäden aufgrund des in den Jahren 1988 bis 2005 gesetzten kartellwidrigen Verhaltens im Aufzugsbereich haften.
Das Erstgericht erteilte den Beklagten mit Beschluss vom 23.12.2010 den Auftrag zur Klagebeantwortung. Der Fünftbeklagten wurde dieser Beschluss mit der Klage ohne Zustell- oder Rückschein als einfaches Paket zugestellt. Den Sendungsnummern auf www.Post.at ist zu entnehmen, dass das Paket bei der Fünftbeklagten am 14.01.2011 übergeben wurde (vgl auch die Aktenvermerke vom 10.01.2011 [bei ON 1], 18.01.2011 [bei ON 1] und vom 17.02.2011 [ON 6]).
Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Erstgericht die am 14.02.2011 eingebrachte Klagebeantwortung als verspätet zurück. Es ging davon aus, dass der Fünftbeklagten der Auftrag zur Klagebeantwortung bereits am 14.01.2010 zugestellt worden sei.
Dagegen richtet sich der Rekurs der Fünftbeklagten wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens, unrichtiger Tatsachenfeststellung infolge Aktenwidrigkeit bzw unrichtiger Beweiswürdigung und wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung. Die Rekurswerberin beantragt erkennbar, den angefochtenen Beschluss ersatzlos aufzuheben und dem Erstgericht die Einleitung bzw Fortführung des ordentlichen Verfahrens aufzutragen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerin hat sich am Rekursverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist berechtigt.
Die Frist für die Beantwortung der Klage beträgt vier Wochen (§ 230 ZPO). Diese Frist beginnt mit Zustellung des Auftrags zur Klagebeantwortung (§ 124 ZPO). Ein Auftrag zur Klagebeantwortung erfordert allerdings, dass dem Beklagten auch die Klage wirksam zugestellt worden ist, zumal die Klage nur bei deren Kenntnis durch den Beklagten „beantwortet“ werden kann (hg 1 R 274/10m).
Klagen sind nach § 106 ZPO mit Zustellnachweis zuzustellen (Rückschein oder Zustellschein, vgl § 22 Zustellgesetz). Die Zustellung an einen Ersatzempfänger ist zulässig. Eine Zustellung ohne Zustellnachweis ist unwirksam (vgl Stumvoll in Fasching/Konecny² ErgBd § 7 ZustellG Rz 4; 8 Ob 2090/96b [Zustellung durch EMS]). Durch die hier vorgenommene Zustellart (vgl AV vom 17.02.2011, ON 6: „mit Schachteln, aber ohne Aufgabeschein“) ist nämlich eine Überprüfung ausgeschlossen, ob die Klage einem vertretungsbefugten Organ der Rekurswerberin bzw einem Ersatzempfänger zugestellt wurde.
Es ist allerdings unstrittig, dass der Rekurswerberin die Klage tatsächlich zugekommen ist. Zum tatsächlichen Zugang liegen jedoch keine Feststellungen vor, sodass die angefochtene Entscheidung unter dem aufgezeigten sekundären Verfahrensmangel leidet.
Die Wirksamkeit (bzw die Heilung) der Zustellung war hier von Amts wegen zu überprüfen, sodass die Verwertung der von der Rekurswerberin vorgelegten Urkunden bzw die Berücksichtigung ihres Vorbringens im Rekurs nicht gegen das Neuerungsverbot verstößt (Fucik, Das Neuerungsverbot im Zivilgerichtsverfahrensrecht, ÖJZ 1992, 425 [427]; 2 Ob 2115/96k; 3 Ob 285/97a EvBl 1998/50; 4 Ob 276/98m; 3 Ob 221/00x; 7 Ob 154/01z; 10 ObS 11/09d; 6 Ob 31/10t; RIS-Justiz RS0108589).
Unter Bezugnahme auf die von der Fünftbeklagten im Rekurs vorgelegten (unbedenklichen) Urkunden wird im Rekursverfahren folgende ergänzende Feststellung getroffen:
„Die Klage samt dem Auftrag zur Klagebeantwortung ist erstmals am 17.01.2011 einem zur Empfangsnahme befugten Vertreter der Fünftbeklagten, nämlich deren Geschäftsführer J***** N*****, tatsächlich zugekommen.“
Diese Feststellung stützt sich auf die vorgelegten Urkunden, insb die eidesstättigen Erklärungen und das von Bettina Mandl an den Vertreter der Fünftbeklagten am 18.01.2011 übermittelte E-Mail („...gestern vom HG Wien eingegangene Klage ....“). Daraus ergibt sich sowohl der Ablauf bei der Übergabe von Poststücken im Betrieb der Fünftbeklagten im Allgemeinen als auch die Übermittlung der Klage im Besonderen sehr plastisch. Das Rekursgericht hegt daher keine Bedenken gegen die entsprechenden Behauptungen der Rekurswerberin.
Aufgrund der erst am 17.01.2011 erfolgten Heilung der unwirksamen Zustellung war die am 14.02.2011 eingebrachte Klagebeantwortung daher rechtzeitig. Es ist unbeachtlich, dass Arbeitnehmer der Fünftbeklagten die Klage samt Auftrag zu Klagebeantwortung – unstrittigermaßen - bereits am 14.01.2011 erhielten. Eine Heilung nach § 7 ZustellG setzt voraus, dass das Schriftstück dem Empfänger (bei juristischen Personen: dem befugten Vertreter nach § 13 Abs 3 ZustellG; vgl Stumvoll in Fasching/Konecny² ErgBd § 7 ZustellG Rz 9) zukommt. Das Zukommen der Sendung an einen Ersatzempfänger saniert einen Zustellmangel auch bei sonst zulässiger RSb-Zustellung nach § 7 ZustellG nicht (Stumvoll in Fasching/Konecny² ErgBd § 7 ZustellG Rz 9 und Raschauer in Raschauer/Sander/Wessely Zustellrecht § 7 ZustellG Rz 5 mwN).
Der angefochtene Beschluss war daher ersatzlos zu beheben und dem Erstgericht die Fortführung des Verfahrens aufzutragen.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Beim Wertausspruch war zu berücksichtigen, dass das Feststellungsbegehren mit dem Leistungsbegehren in einem rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang steht, weshalb der Wert des Entscheidungsgegenstands schon wegen der nach § 55 Abs 1 JN (iVm §§ 500 Abs 3, 526 Abs 3 ZPO) gebotenen Zusammenrechnung mit dem Leistungsbegehren EUR 30.000,-- überschreitet.
Der Ausspruch über die Unzulässigkeit des Revisionsrekurses gründet sich auf § 526 Abs 3 iVm § 500 Abs 2 Z 3 ZPO. Bei der mit dem Auftrag zur Fortsetzung des Verfahrens verbundenen Aufhebung des die Klagebeantwortung zurückweisenden Beschlusses handelt es sich inhaltlich um eine abändernde Entscheidung (vgl Zechner in Fasching/Konecny² § 527 ZPO Rz 13ff). Der ordentliche Revisionsrekurs ist nicht zulässig. Rechtsfragen der in
§ 528 Abs 1 ZPO genannten Qualität waren nicht zu lösen.
Textnummer
EW0000506European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OLG0009:2011:00100R00102.11V.0427.000Im RIS seit
04.08.2011Zuletzt aktualisiert am
04.08.2011