Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache des Antragstellers DI Dr. Friedrich H*****, Deutschland, vertreten durch Dr. Alfred Kriegler, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Antragsgegnerin Roswitha H*****, vertreten durch Dr. Helene Klaar Mag. Norbert Marschall Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse, über den Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 21. Dezember 2010, GZ 43 R 724/10d-34, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 16. Oktober 2010, GZ 4 Fam 18/10s-25, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Beide Parteien sind österreichische Staatsangehörige. Ihre Ehe wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. 2. 2010 rechtskräftig geschieden.
Mit noch am 19. 2. 2010 beim Erstgericht eingebrachtem Antrag beantragte der Antragsteller die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse. Der Antrag wurde der Antragsgegnerin am 25. 8. 2010 (in der Türkei) zugestellt, nachdem Zustellversuche in Deutschland gescheitert waren und die Antragsgegnervertreterin bekannt gegeben hatte, dass ihr von der Antragsgegnerin keine Zustellvollmacht erteilt worden sei.
Die Antragsgegnerin erhob ihrerseits am 11. 3. 2010 (richtig wohl: 30. 3. 2010 [Beil. /A]) beim (deutschen) Amtsgericht E***** gegen den Antragsteller gestützt auf §§ 81 ff EheG die Klage wegen „Errungenschaft u.a.“. Diese Klage wurde dem Antragsteller bereits am 22. 4. 2010 zugestellt.
Das Erstgericht verwarf die Einrede der Antragsgegnerin, dem Aufteilungsantrag des Antragstellers stehe das Prozesshindernis der internationalen Streitanhängigkeit entgegen. Rechtlich führte es aus, dass nach der ausländischen lex fori zu beantworten sei, ob und wann Rechtshängigkeit im Ausland eingetreten sei; ob und wann Rechtshängigkeit im Inland eingetreten sei, werde nach inländischem Recht beurteilt. Beim Aufteilungsverfahren handle es sich um ein Außerstreitverfahren, in welchem nach § 12 Abs 1 AußStrG an die Gerichtsanhängigkeit angeknüpft werde. Die „Rechtshängigkeit“ sei beim Erstgericht am 19. 2. 2010 eingetreten, während die Anhängigkeit in Deutschland „frühestens“ mit 11. 3. 2010 eingetreten sei. Daraus ergebe sich die „Zuständigkeit“ des Erstgerichts.
Das Rekursgericht gab dem dagegen von der Antragsgegnerin erhobenen Rekurs nicht Folge und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs insbesondere mit der Begründung für zulässig, dass zur Frage der internationalen Zuständigkeit und der Streitanhängigkeit in Bezug auf ein sowohl in Deutschland als auch in Österreich gerichtsanhängiges Aufteilungsverfahren im Sinne der §§ 81 ff EheG noch keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.
Rechtlich argumentierte das Rekursgericht, dass gemäß § 114a Abs 4 JN die inländische Gerichtsbarkeit gegeben sei, weil beide Parteien österreichische Staatsangehörige seien. Zu den von dieser Bestimmung erfassten Eheangelegenheiten zähle auch die Entscheidung über die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse nach Scheidung der Ehe (RIS-Justiz RS0116578). Dem Einwand der Antragsgegnerin, wonach sich „das gesamte, der nachehelichen Vermögensaufteilung unterliegende Vermögen … in Deutschland bzw der Türkei“ und nicht in Österreich befinde, hielt es entgegen, dass die inländische Gerichtsbarkeit für das Aufteilungsverfahren nach den §§ 81 ff EheG unabhängig davon gegeben sei, ob sich das bewegliche oder unbewegliche Gebrauchsvermögen und die ehelichen Ersparnisse im Inland oder im Ausland befänden (RIS-Justiz RS0116577).
Von der Frage der inländischen Gerichtsbarkeit sei die Frage nach einem etwaigen Prozesshindernis der internationalen Streitanhängigkeit (Rechtshängigkeit) zu trennen. Die verfahrensgegenständlichen Ansprüche nach §§ 81 ff EheG seien Ansprüche aus dem ehelichen Güterstand, weshalb die Anwendbarkeit der EuGVVO nach deren Art 1 Abs 2 lit a ausgeschlossen sei. Die „internationale Zuständigkeit“ bestimme sich daher nach autonomem österreichischen Recht. Im AußStrG 2005 fänden sich keine Regeln darüber, welche Auswirkungen die Gerichtsanhängigkeit bzw die Streitanhängigkeit vor dem ausländischen Gericht auf ein in Österreich anhängiges Verfahren habe. Vielmehr sei der Begriff der Streitanhängigkeit dem Außerstreitverfahren fremd (RIS-Justiz RS0125903). Nach § 12 Abs 2 AußStrG entscheide bei mehreren Anträgen das Zuvorkommen. Nach § 114a Abs 2 JN sei jenes Gericht, bei dem ein Antrag auf Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse anhängig sei, auch für jeden weiteren derartigen Antrag zuständig, sofern das Verfahren in erster Instanz noch nicht beendet sei. Daraus sei abzuleiten, dass der maßgebliche Zeitpunkt, in dem ein Aufteilungsverfahren beginne, jener der Gerichtsanhängigkeit sei. Da die Gerichtsanhängigkeit des deutschen Verfahrens erst nach jener des österreichischen Aufteilungsverfahrens eingetreten sei, sei der Einwand der Streitanhängigkeit unbegründet.
Der dagegen von der Antragsgegnerin erhobene und vom Antragsteller beantwortete Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
1. Nach neuerer Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs können die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG bezeichneten Verfahrensmängel, also bestimmte Fälle der „Nichtigkeit“ des Verfahrens, auch dann in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht bereits verneint wurden (10 Ob 25/06h = SZ 2006/146; 5 Ob 173/09s = EF-Z 2010/58, 86 [Nademleinsky]; 6 Ob 181/09z = iFamZ 2010/36, 44 [Fucik] ua). Der Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit ist seit der Novellierung des § 29 JN durch die WGN 1997 grundsätzlich wie eine unverzichtbare Unzuständigkeit zu behandeln (vgl RIS-Justiz RS0007405 [T2]). Nach § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 56 Abs 1 AußStrG kann unter anderem das Fehlen der inländischen Gerichtsbarkeit im Revisionsrekurs geltend gemacht werden.
Der Verstoß gegen die internationale Streitanhängigkeit kann aber nicht anders behandelt werden als der in § 56 Abs 1 AußStrG ausdrücklich genannte Mangel der inländischen Gerichtsbarkeit. Dies ergibt sich schon daraus, dass im Bereich völkerrechtlicher Verträge die Sperrwirkungen einer zu berücksichtigenden ausländischen Streitanhängigkeit und einer anzuerkennenden ausländischen Rechtskraft ähnlich einer fehlenden (ausgeschlossenen) inländischen Gerichtsbarkeit wirken (Matscher in Fasching² Art IX EGJN Rz 37). Der Einwand des Verfahrenshindernisses der internationalen Streitanhängigkeit, dessen Berechtigung von den Vorinstanzen übereinstimmend verneint wurde, kann daher gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm dem analog anzuwendenden § 56 Abs 1 AußStrG ebenfalls im Revisionsrekurs geltend gemacht werden.
2. Die vom Rekursgericht zutreffend bejahte inländische Gerichtsbarkeit selbst wird von der Antragsgegnerin nicht bestritten. Gemäß § 71 Abs 3 zweiter Satz AußStrG kann auf dessen richtige Begründung verwiesen werden.
3. Internationale Streitanhängigkeit/Rechts- hängigkeit
3.1 Gegenstand des Aufteilungsverfahrens nach Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung der Ehe sind das eheliche Gebrauchsvermögen und die ehelichen Ersparnisse (vgl § 81 Abs 1 erster Satz EheG). Das Aufteilungsverfahren betrifft den ehelichen Güterstand, sodass - wie das Rekursgericht zutreffend erkannte - die Anwendbarkeit der EuGVVO ausgeschlossen ist (6 Ob 7/02a = SZ 2002/65). Unter den Ausnahmetatbestand des Art 1 Abs 2 lit a EuGVVO („eheliche Güterstände“) fallen alle vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen den Ehegatten, die sich unmittelbar aus der Ehe oder ihrer Auflösung ergeben (EuGH Rs 143/78 = Slg 1979, 1055, de Cavel, zum EuGVÜ; 3 Ob 259/09y = ZfRV-LS 2010/30, 126 [Ofner] zur EuGVVO).
Gemäß Art 1 Abs 1 lit a Brüssel IIa-VO (auch EuEheKindVO, EuFamVO) gilt diese Verordnung, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für die Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebands und die Ungültigkeit einer Ehe. Nicht in den sachlichen Anwendungsbereich der Brüssel IIa-VO fällt unter anderem das Ehegüterrecht (Erwägungsgrund 8). Auf die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse kommt daher die Brüssel IIa-VO nicht zur Anwendung (Simotta in Fasching/Konecny² Art 1 EuEheKindVO Rz 24 mwN).
3.2 Weder in der ZPO noch im AußStrG finden sich besondere Regeln darüber, welche Auswirkungen die Gerichts- oder Streitanhängigkeit vor einem ausländischen Gericht auf ein in Österreich anhängiges Verfahren hat (8 Ob 82/05z = SZ 2005/127 mwN). Es hängt primär von zwischenstaatlichen Verträgen ab, ob ein vor einem ausländischen Gericht bereits (streit-)anhängiges Verfahren zwischen denselben Parteien über einen identischen Streitgegenstand das Prozesshindernis der Streitanhängigkeit im Inland bewirkt (4 Ob 91/90 = RdW 1991, 79 [Prunbauer] = JBl 1991, 800 mwN).
3.3 Im Verhältnis zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland ist für den Bereich der nachehelichen Vermögensaufteilung auf den Vertrag über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen, Vergleichen und öffentlichen Urkunden in Zivil- und Handelssachen, BGBl 1960/105 (im Folgenden kurz: Vertrag), Bedacht zu nehmen. Dieser Vertrag ist auch weiterhin anwendbar, sofern jüngere Übereinkommen oder EU-Verordnungen in sachlicher Hinsicht nicht einschlägig sind (Pietsch, Die Anerkennung und Vollstreckungserklärung für österreichische zivilrechtliche Forderungstitel in Deutschland, AnwBl 2007, 348 [349]).
Nach Art 14 Abs 1 Z 1 dieses Vertrags sind Entscheidungen in Ehesachen und in anderen Familienstandsachen vom Anwendungsbereich ausgenommen. Der Ausschluss beruht unter anderem auf der dogmatisch umstrittenen Vorstellung, es handle sich dabei um Gestaltungsrechte gegen den Staat (MünchKommZPO2/Gottwald Art 14 dt.-österr. Vertr. Rn 1; Matscher, Der neue österreichisch-deutsche Vertrag über die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen im Lichte der allgemeinen Lehren des Internationalen Zivilprozessrechts, JBl 1960, 265 [268]; Sedlacek, Die Neuregelung der Zwangsvollstreckung zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, ZfRV 1960, 58 [61]). Der Begriff „Ehesachen“ umfasst im deutschen Recht nach § 606 Abs 1 erster Satz dZPO nur Verfahren auf Scheidung oder Aufhebung einer Ehe, auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens einer Ehe zwischen den Beteiligten oder auf Herstellung des ehelichen Lebens. Im österreichischen Recht fallen unter die „Ehesachen“ die Klage auf Scheidung, Aufhebung oder Nichtigerklärung sowie die Klage auf Feststellung des (Nicht-)Bestehens einer Ehe zwischen den Parteien (§§ 2a, 29, 460, 483a ZPO iVm § 49 Abs 2 Z 2a JN). Vermögensrechtliche Ansprüche der Ehegatten, insbesondere solche aus dem ehelichen Güterrecht oder aus der Vermögensaufteilung anlässlich der Scheidung, sind daher vom jeweiligen Begriff der Ehesache nicht erfasst. Unter den weder im deutschen noch im österreichischen Recht ausdrücklich definierten Begriff der „anderen Familienstandsachen“ (3 Ob 234/74; RIS-Justiz RS0076202) fallen zwar Rechtsstreitigkeiten betreffend familienrechtliche Statusentscheidungen wie etwa die Rechtsstellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Eltern-Kind-Verhältnisses, nicht dagegen Streitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche aus dem Eheverhältnis (Grötsch, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtsangleichung durch vertragliche Vereinbarungen im Rahmen der Vermögensauseinandersetzung bei Ehescheidung im deutsch-österreichischen Rechtsverkehr [2007] 310 f; Geimer/Schütze, Internationale Urteilsanerkennung Bd II, A 1, Art 14 Deutsch-österreichischer Vertrag Anm I und II; aA [ohne Begründung] L. Fuchs, Internationale Zuständigkeit in Außerstreitverfahren [2004] Rz 369). Dieses Verständnis liegt erkennbar auch der Entscheidung 3 Ob 386/97d (= SZ 72/80; vgl auch 3 Ob 38/03i [Zugewinnausgleich]) zu Grunde, die einer deutschen Entscheidung, die einem österreichischen Staatsangehörigen im Zusammenhang mit einem Scheidungsausspruch eine Leistung (schuldrechtlicher Versorgungsausgleich) auferlegte, zu der er bei Anwendung österreichischen materiellen Rechts auf Grundlage des österreichischen internationalen Privatrechts nicht verurteilt hätte werden können, gemäß Art 3 Abs 2, nicht aber schon nach Art 14 Abs 1 Z 1 des Vertrags die Vollstreckbarerklärung versagte.
Gerichtliche Entscheidungen im nachehelichen Aufteilungsverfahren wie die Aufteilung des ehelichen Gebrauchsvermögens und der ehelichen Ersparnisse nach den §§ 81 ff EheG sind daher nicht gemäß Art 14 Abs 1 Z 1 vom Anwendungsbereich des Vertrags ausgenommen. Diese Entscheidungen können unter den allgemeinen Voraussetzungen des Vertrags - insbesondere der Beachtung des Art 3 Abs 2 des Vertrags - anerkannt und vollstreckt werden (vgl Geimer/Schütze aaO Art 14 Deutsch-österreichischer Vertrag Anm I).
Neben der Regelung der Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen und ihnen gleichgestellter Titel enthält nun der Vertrag in Art 17 eine Regelung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Streitanhängigkeit/Rechtshängigkeit in einem der beiden Staaten im anderen zu beachten ist. Diese Sonderregelung geht der prozessualen Behandlung der Sperrwirkung nach dem rein innerstaatlichen Recht vor (in diesem Sinn Matscher in Fasching² Art IX EGJN Rz 37). Sie stellt nicht auf die Gerichtsanhängigkeit (in Deutschland: Anhängigkeit) ab.
Art 17 des Vertrags normiert, dass dann, wenn eine Sache vor dem Gericht eines Staats streitanhängig (rechtshängig) ist und die Entscheidung in dieser Sache in dem anderen Staat anzuerkennen sein wird, das Gericht dieses Staats in einem Verfahren, das bei ihm wegen desselben Gegenstands und zwischen denselben Parteien später anhängig wird, die Entscheidung abzulehnen hat. Der Bestimmung liegt der Gedanke zu Grunde, dass ein inländisches Verfahren überflüssig ist, wenn die ausländische Entscheidung anzuerkennen und zu vollstrecken sein wird. Die in beiden Staaten geltende innerstaatliche Regelung, nach der die Streitanhängigkeit eine erneute Klageerhebung zwischen denselben Parteien über denselben Streitgegenstand ausschließt, wird auf den zwischenstaatlichen Rechtsbereich ausgedehnt. Hiedurch werden die Schwierigkeiten beseitigt, die sich ergeben, wenn über denselben Anspruch in beiden Staaten Prozess geführt wird (Sedlacek aaO 72; ähnlich Geimer/Schütze aaO Art 17 Deutsch-österreichischer Vertrag Anm I; vgl Matscher, JBl 1960, 272). Die Einrichtung der internationalen Streitanhängigkeit soll verhindern, dass in einem Prozess zwei verschiedene, allenfalls sogar widerstreitende Entscheidungen ergehen. Auch der Gedanke der Prozessökonomie fordert die Beachtung der internationalen Streitanhängigkeit (1 Ob 636/76 = SZ 49/87 mwN). Die zwischenstaatlich wirkende Streitanhängigkeit nach Art 17 des Vertrags gilt sowohl für streitige Verfahren/Verfahren der streitigen Gerichtsbarkeit als auch für Verfahren außer Streitsachen/Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Art 1 Abs 1 des Vertrags).
Nach den deutschen und österreichischen Prozessvorschriften wird die Rechtshängigkeit/Streitanhängigkeit erst mit der Klagezustellung bewirkt (§ 232 Abs 1 ZPO; 8 Ob 18/08t = iFamZ 2008/144, 267 [Fucik] = EF-Z 2009/63, 72 [Nademleinsky]; § 261 Abs 1 iVm § 253 Abs 1 dZPO; Stein/Jonas/Roth22 § 261 dZPO Rn 5; MünchKommZPO3/Becker-Eberhard § 261 dZPO Rn 9). Die Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftsatzes als Voraussetzung der Rechtshängigkeit/Streitanhängigkeit erfolgte hier im deutschen Verfahren früher als im österreichischen. Auch die Voraussetzung der Identität der Parteien ist hier unstrittig verwirklicht. Dass jeweils ein anderer Ehegatte das Verfahren eingeleitet hat, hindert die Annahme des Prozesshindernisses nicht (8 Ob 18/08t mwN).
Die Identität des Streitgegenstands und damit die internationale Streitanhängigkeit im Sinne des Art 17 des Vertrags („... wegen desselben Gegenstands ...“) kann jedoch noch nicht beurteilt werden. Da die Vorinstanzen den maßgeblichen Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland nicht berücksichtigten, fehlen Feststellungen zum Gegenstand des vor dem Amtsgericht E***** geführten Verfahrens. Erforderlich sind Feststellungen zu den (verfahrensrechtlich zulässigen) wechselseitigen Anträgen (Begehren) der Parteien und den zu deren Begründung vorgetragenen Tatsachen im deutschen Verfahren. Erst aufgrund der Gegenüberstellung des Streitgegenstands des zuerst „streitanhängig“ gewordenen Verfahrens in Deutschland mit dem des österreichischen Aufteilungsverfahrens kann beurteilt werden, ob ein identischer Streitgegenstand besteht oder dies nicht der Fall ist.
4. Da sich das Verfahren daher als ergänzungsbedürftig erweist, sind die Beschlüsse der Vorinstanzen aufzuheben. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren die dargestellte Rechtslage mit den Parteien zu erörtern und nach der gebotenen Verfahrensergänzung erneut über den Einwand des Verfahrenshindernisses der internationalen Streitanhängigkeit/Rechtshängigkeit zu entscheiden haben.
Der Kostenvorbehalt beruht auf § 78 Abs 1 AußStrG.
Schlagworte
Zivilverfahrensrecht,Gruppe: Internationales Privatrecht und Zivilverfahrensrecht,Europarecht,FamilienrechtTextnummer
E97220European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0010OB00044.11V.0428.000Im RIS seit
19.05.2011Zuletzt aktualisiert am
18.09.2013