Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.-Prof. Dr. Kuras und die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Michelle W*****, geboren am 10. Februar 2008, AZ 1 Ps 118/10g des Bezirksgerichts Lienz, infolge Vorlage zur Genehmigung der Übertragung gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Bad Ischl den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Lienz vom 19. Jänner 2011, GZ 1 Ps 118/10g-12, gemäß § 111 Abs 1 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Bad Ischl wird genehmigt.
Text
Begründung:
Die Eltern der Minderjährigen vereinbarten im Juli 2010, als sie noch im gemeinsamen Haushalt in Lienz lebten, die gemeinsame Obsorge für die Minderjährige. Diese Vereinbarung wurde vom Pflegschaftsgericht genehmigt.
Nach der Trennung der Lebensgemeinschaft beantragten am 4. Jänner 2011 beide Elternteile - der Vater beim Bezirksgericht Lienz und die Mutter, die mittlerweile mit der Minderjährigen und ihrer älteren Schwester zu den Verwandten von deren Vater nach Oberösterreich gezogen war, beim Bezirksgericht Bad Ischl - ihnen jeweils die alleinige Obsorge über die Minderjährige zu übertragen und dem jeweils anderen Elternteil zu entziehen.
Der Vater beantragte in weiterer Folge auch eine einstweilige Verfügung dahin, ihm bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Obsorge die Minderjährige herauszugeben.
Aus den Erhebungen des für Lienz zuständigen Jugendwohlfahrtsträgers ergab sich, dass die Mutter mit der Minderjährigen nunmehr ständig in Oberösterreich im familiären Umfeld des Vaters ihrer älteren Tochter und des neuen Lebensgefährten bleiben möchte und dort auch ihren Hauptwohnsitz begründet hat. Der Jugendwohlfahrtsträger regte auch an, die Pflege- und Erziehungsverhältnisse bei den väterlichen Großeltern der älteren Schwester in Oberösterreich sowie die Wohnverhältnisse der Mutter dort durch den dafür örtlich zuständigen Jugendwohlfahrtsträger erheben zu lassen.
Das Bezirksgericht Lienz übertrug mit seinem letztlich Ende März 2011 zugestellten Beschluss vom 19. Jänner 2011 die Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Bad Ischl. Das Bezirksgericht Bad Ischl verweigerte die Übernahme der Zuständigkeit (ON 14).
Das übertragende Gericht legte aufgrund dieser Weigerung den Akt dem Obersten Gerichtshof als gemeinsam übergeordnetem Gericht zur Entscheidung gemäß § 111 Abs 2 JN vor.
Rechtliche Beurteilung
Die Übertragung ist berechtigt.
Gemäß § 111 Abs 1 JN kann das Pflegschaftsgericht seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen, wenn dies im Interesse des Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird. Nach Abs 2 dieser Bestimmung ist die Übertragung nur dann wirksam, wenn das andere Gericht die Zuständigkeit übernimmt oder im Falle der Weigerung des anderen Gerichts eine Genehmigung durch das den beiden Gerichten zunächst übergeordnete gemeinsame höhere Gericht - hier der Oberste Gerichtshof - erfolgt.
Ausschlaggebendes Kriterium für die Übertragung der Zuständigkeit zur Führung der Pflegschaftssache für Minderjährige ist immer das Kindeswohl (RIS-Justiz RS0047074). Nach ständiger Rechtsprechung wird der pflegschaftsgerichtliche Schutz in der Regel am besten durch das Gericht gewährleistet, in dessen Sprengel sich das Kind aufhält (RIS-Justiz RS0047300 uva). Offene Anträge sprechen im Allgemeinen nicht gegen eine Zuständigkeitsübertragung, sofern nicht dem übertragenden Gericht für die ausstehende Entscheidung besondere Sachkenntnis zukommt (RIS-Justiz RS0047032).
Der Aufenthalt des Pflegebefohlenen mit einem erziehungsberechtigten Elternteil in einem anderen Gerichtssprengel muss nicht in allen Fällen die Übertragung der Zuständigkeit nach § 111 Abs 1 JN zur Folge haben, doch wird es - wie bereits ausgeführt - in der Regel den Interessen des pflegebefohlenen Kindes entsprechen, wenn als Pflegschaftsgericht jenes Gericht tätig wird, in dessen Sprengel sein gewöhnlicher Aufenthalt und der Mittelpunkt seiner Lebensführung liegt (RIS-Justiz RS0047300). Die Rechtsprechung steht zwar einer Zuständigkeitsübertragung im Allgemeinen ablehnend gegenüber, wenn ein Obsorgeantrag unerledigt ist und das Gericht bereits über entsprechende Sachkenntnisse verfügt oder jedenfalls in der Lage ist, sich diese Kenntnisse leichter zu verschaffen als das andere Gericht, jedoch gilt dies dann nicht, wenn gerade noch Erhebungen zur Mutter und deren Lebensverhältnissen am neuen Wohnsitz offen sind (RIS-Justiz RS0047027 [T3, T4] ua).
Der Lebensmittelpunkt der Minderjährigen, deren Mutter und Schwester liegt nun im Sprengel des Bezirksgerichts Bad Ischl. Dies ist im Sinn der dargelegten Erwägungen ausschlaggebend.
Die Übertragung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht des Aufenthaltsorts der Kinder ist daher zu genehmigen.
Textnummer
E97483European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0080NC00001.11F.0511.000Im RIS seit
19.06.2011Zuletzt aktualisiert am
19.06.2011