Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf, Hon.-Prof. Dr. Kuras und Mag. Ziegelbauer sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Sarah P*****, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Akt wird dem Bezirksgericht Grieskirchen zurückgestellt.
Text
Begründung:
Mit Schreiben vom 17.12.2010 teilte der Jugendwohlfahrtsträger (Magistrat der Stadt Wien, MA 11), dem Bezirksgericht Favoriten mit, für die am ***** geborene mj Sarah P***** vom 10. 12. 2010 bis 17. 12. 2010 die Obsorge ausgeübt zu haben. Die alleine obsorgeberechtigte Mutter Svetlana P***** habe am 17.12.2010 einer Vereinbarung zur Krisenunterbringung der Minderjährigen zugestimmt.
Am 25. 1. 2011 beantragte der Jugendwohlfahrtsträger beim Bezirksgericht Favoriten, ihm wegen Gefährdung des Kindeswohls die gesamte Pflege und Erziehung für die Minderjährige zu übertragen. Sie sei seit 14. 12. 2010 bei Krisenpflegeeltern in 1220 ***** untergebracht.
Die Mutter sprach sich dagegen aus und beantragte am 8. 2. 2011 die Einräumung eines vorläufigen Besuchsrechts für ihre Tochter.
Zufolge einer vom Bezirksgericht Favoriten am 9. 2. 2011 eingeholten ZMR-Auskunft war die Minderjährige seit 30. 12. 2010 an der Adresse 1220 ***** gemeldet.
Mit Beschluss vom 11. 2. 2011 (ON 10) erklärte sich das Bezirksgericht Favoriten gemäß § 44 JN für unzuständig und überwies die Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Donaustadt. Ein Aufenthalt der Minderjährigen im Sprengel des Bezirksgerichts Favoriten sei nie begründet worden.
Aus einer vom Bezirksgericht Donaustadt am 21. 2. 2011 eingeholten ZMR-Auskunft geht hervor, dass die Minderjährige mit 9. 2. 2011 an der Anschrift 4681 ***** gemeldet wurde.
Mit Beschluss vom 21. 2. 2011 (ON 13) erklärte sich das Bezirksgericht Donaustadt gemäß § 44 JN für unzuständig und überwies die Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Zwettl. Die Minderjährige habe sich nur vorübergehend bei Krisenpflegeeltern im 22. Bezirk aufgehalten, dort aber keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt.
Mit Beschluss vom 24. 2. 2011 (ON 14) erklärte sich das Bezirksgericht Zwettl gemäß § 44 JN für unzuständig und überwies die Rechtssache an das Bezirksgericht Grieskirchen. 4681 ***** liege in dessen Sprengel.
Mit Beschluss vom 31. 3. 2011 (ON 17) lehnte das Bezirksgericht Grieskirchen die „Übernahme der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 und 2 JN“ ab und schickte den Akt dem Bezirksgericht Zwettl mit dem Ersuchen um Beschlusszustellung zurück. Es seien noch Anträge des Jugendwohlfahrtsträgers und der Mutter offen. Laut der Bezirkshauptmannschaft Grieskirchen werde lediglich eine Pflegeaufsicht am derzeitigen Pflegeplatz der Minderjährigen für das Magistrat Wien ausgeübt.
Mit Beschluss vom 11. 4. 2011 (ON 19) lehnte das Bezirksgericht Zwettl die Übernahme der Zuständigkeit ab, weil sich die Minderjährige nicht im Sprengel aufhalte, und schickte den Akt dem Bezirksgericht Favoriten zurück.
Mit Aktenvermerk vom 18. 4. 2011 (ON 20) hielt das Bezirksgericht Favoriten fest, da bereits eine örtliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts Donaustadt begründet worden sei, sei die weitere Übertragung der Akten an das Bezirksgericht Zwettl (richtig: Grieskirchen) nicht nach § 44 JN, sondern nach § 111 JN erfolgt. Der durch die Ablehnung des Bezirksgerichts Grieskirchen ausgelöste negative Kompetenzkonflikt bestehe nicht mit dem Bezirksgericht Favoriten, sondern mit dem Bezirksgericht Donaustadt. Der Akt werde dem Bezirksgericht Donaustadt zur allfälligen Vorlage an den Obersten Gerichtshof gemäß § 111 Abs 2 Satz 2 JN überwiesen.
Mit Verfügung vom 27. 4. 2011 (ON 21) überwies das Bezirksgericht Donaustadt den Akt dem Bezirksgericht Grieskirchen mit dem Hinweis, dass die Bezirksgerichte Favoriten, Donaustadt und Zwettl Beschlüsse gemäß § 44 JN gefasst haben und eine Rücküberweisung an diese Gerichte aufgrund der Bindungswirkung nicht möglich sei.
Mit Verfügung vom 17. 5. 2011 (ON 22) sandte das Bezirksgericht Grieskirchen den Akt unter Hinweis auf seinen Beschluss vom 31. 3. 2011 dem Bezirksgericht Donaustadt „im Sinne der Verfügung des Bezirksgerichts Favoriten zur Vorlage an den Obersten Gerichtshof gemäß § 111 JN Abs 2 S 2 JN“ zurück.
Das Bezirksgericht Donaustadt legte den Akt dem Obersten Gerichtshof „zur Entscheidung über den Zuständigkeitsstreit“ vor.
Zustellungen der Beschlüsse an die Parteien erfolgten nicht.
Rechtliche Beurteilung
1. Gemäß § 109 Abs 1 JN ist zur Besorgung der Geschäfte, die nach den Bestimmungen über die Rechte zwischen Eltern und minderjährigen Kindern, die Obsorge einer anderen Person, die Sachwalterschaft und die Kuratel das Gericht (Pflegschaftsgericht) zuständig, in dessen Sprengel der Minderjährige oder sonstige Pflegebefohlene seinen gewöhnlichen Aufenthalt, mangels eines solchen im Inland seinen Aufenthalt hat.
Hat ein Minderjähriger aufgrund nur vorübergehender Krisenunterbringungen noch keinen „gewöhnlichen Aufenthalt“ iSd § 109 Abs 1 JN, ist das örtlich zuständige Gericht daher nach seinem tatsächlichen Aufenthaltsort zu bestimmen (Mayr in Rechberger, ZPO3, § 109 JN Rz 3).
2. Die Anrufung des gemeinsam übergeordneten Gerichtshofs in einem negativen Kompetenzkonflikt nach § 47 JN setzt voraus, dass die konkurrierenden Gerichte rechtskräftig ihre Zuständigkeit zur Entscheidung über die selbe Rechtssache abgelehnt haben (RIS-Justiz RS0118692; RS0046299 [T1]). Das gilt auch für die Übertragung der Zuständigkeit in Pflegschaftssachen nach § 111 JN (3 Nc 1/08i ua). Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben, weil keine Zustellungen der Beschlüsse an die Parteien erfolgten.
3. Nach höchstgerichtlicher Rechtsprechung bindet allerdings ein Überweisungsbeschluss unabhängig vom Zeitpunkt des Eintritts seiner Rechtskraft jenes Gericht, an welches die Sache überwiesen wurde, insofern, als es seine Zuständigkeit nicht wegen der Zuständigkeit des überweisenden Gerichts verneinen kann (RIS-Justiz RS0081664; RS0002439; RS0039922). Ansonsten würde die Grundlage für einen vom Gesetzgeber nicht gewünschten negativen Kompetenzkonflikt geschaffen. An dieser Rechtsansicht hat der Oberste Gerichtshof trotz gegenteiliger Ansicht der Lehre (s Mayr in Rechberger, ZPO3 § 44 JN Rz 4; Ballon in Fasching, ZPG I² § 44 JN Rz 12) festgehalten.
4. Das Bezirksgericht Grieskirchen hat seine Unzuständigkeit nicht formal verneint, sondern „die Übernahme der Zuständigkeit gemäß § 111 Abs 1 und 2 JN“ abgelehnt und den Akt dem Bezirksgericht Zwettl zurückgesandt. Für eine solche „Umdeutung“ eines eindeutig als Überweisungsbeschluss nach § 44 JN bezeichneten Beschlusses durch dasjenige Gericht, an das eine Rechtssache überwiesen wird, besteht aber keine Rechtsgrundlage, sodass ihm keine Befugnis zukommt, dem zweifelsfrei erklärten Entscheidungswillen des überweisenden Gerichts - den dieses mit Verfügung vom 27. 4. 2011 auch nochmals bekräftigte - eine andere Bedeutung zu geben.
5. Diese Vorgehensweise führt ersichtlich zu keiner anderen Situation als die Ablehnung der Zuständigkeit durch das Gericht, an das eine Rechtssache überwiesen wird, aus der Motivation, dass doch das überweisende Gericht dafür zuständig sei. Mit ihr wird daher in gleicher Weise die Bindungswirkung eines Überweisungsbeschlusses nach § 44 JN verletzt. Da die dieser Bestimmung entsprechenden Überweisungsbeschlüsse unabhängig von ihrer Zustellung an die Parteien für das Adressatgericht so lange maßgebend sind, als sie nicht in höherer Instanz rechtskräftig abgeändert werden, ist der Akt dem Bezirksgericht Grieskirchen zurückzustellen.
Daneben erübrigt es sich, auf die Richtigkeit der dem Beschluss des Bezirksgerichts Grieskirchen vom 31. 3. 2011 vorangegangenen Überweisungsbeschlüsse, insbesondere desjenigen des Bezirksgerichts Donaustadt vom 21. 2. 2011, einzugehen.
Textnummer
E97979European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0090NC00009.11I.0628.000Im RIS seit
25.08.2011Zuletzt aktualisiert am
25.08.2011