Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter MR Dr. Peter Ladislav (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei M*****, vertreten durch Dr. Rolf Schuhmeister, Rechtsanwalt in Schwechat, gegen die beklagte Partei Niederösterreichische Gebietskrankenkasse, Kremser Landstraße 3, 3100 St. Pölten, vertreten durch Urbanek Lind Schmied Reisch Rechtsanwälte OG in St. Pölten, wegen Krankengeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. April 2011, GZ 8 Rs 122/10k-18, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Die Vorinstanzen haben der Klage gegen den Bescheid der beklagten Gebietskrankenkasse, womit (wegen Wegfalls der Arbeitsunfähigkeit) das dem Kläger in der Zeit vom 11. 9. bis 16. 10. 2008 zu Unrecht erbrachte Krankengeld von 896,40 EUR zurückgefordert wurde, stattgegeben und festgestellt, dass der Rückersatzanspruch nicht zu Recht bestehe.
Die Zulässigkeit ihrer außerordentlichen Revision stützt die Beklagte zum einen auf das Fehlen höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Frage, ob ein Versicherter auch dann „zu Recht Krankengeld beziehen kann, wenn er zwar als arbeitsunfähig angesehen wird, daneben aber einer Erwerbstätigkeit offensichtlich nachgehen kann“; zum anderen macht sie ein Abweichen des Berufungsgerichts von der Rechtsprechung zur Notwendigkeit der Inanspruchnahme einer Krankenbehandlung geltend. Außerdem beruft sich die Rechtsmittelwerberin auf die bereits in der Berufung erfolglos gerügte Verletzung des Grundsatzes der Amtswegigkeit.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen diesen Rechtsmittelausführungen haben die Tatsacheninstanzen (unter anderem) festgestellt, dass
- der Kläger an einer langdauernden chronischen Depression verbunden mit Panikattacken litt, die mit Medikamenten und Psychotherapie behandelt wurde;
- im Herbst 2008 das verhaltenstherapeutische Therapieziel war, dass der Kläger wieder Aufgaben im Bereich der Selbstorganisation übernehmen konnte, wozu auch die eine oder andere stundenweise manuelle Arbeit gehörte;
- es im Rahmen der Depression mit Panikattacken kontraproduktiv gewesen wäre, wäre der Kläger während des Krankenstands zu Hause geblieben;
- der Kläger im Zeitraum März bis November 2008 zu keiner geregelten Arbeit in der Lage war, weil ihm durchgehende Tätigkeiten, wie sie von einem Dienstgeber verlangt werden, nicht möglich waren;
- eine gelegentliche Beschäftigung (des Klägers) integraler Bestandteil eines therapeutischen Konzepts mit dem Ziel der Wiedereingliederung ins Berufsleben ist.
Keineswegs ist also davon auszugehen, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum einer Erwerbstätigkeit „offensichtlich nachgehen“ konnte; stellt doch die Feststellung der Kenntnisse und Fähigkeiten, über die der Versicherte verfügt (also auch seines Leistungskalküls), ebenso wie die Frage, welche Voraussetzungen für die Ausübung eines bestimmten Berufes erforderlich sind und mit welchen Anforderungen dieser Beruf verbunden ist, nach ständiger Rechtsprechung eine irrevisible Tatfrage dar (10 ObS 168/10v; 10 ObS 42/07k, SSV-NF 21/33 mwN). Es handelt sich hier also um Feststellungen bzw Negativfeststellungen, die vom Berufungsgericht - von der beklagten Partei unbekämpft - als Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens übernommen wurden und im Revisionsverfahren nicht mehr angreifbar sind.
Im vorliegenden Verfahren stellt sich die erste Frage, mit der die Zulässigkeit des außerordentlichen Rechtsmittels begründet werden soll, daher gar nicht. Das Berufungsgericht ist aber auch nicht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Notwendigkeit der Krankenbehandlung, die - wie die Rechtsmittelwerberin selbst erkennt - stets losgelöst vom Erfolg bzw Nichterfolg der tatsächlichen Krankenbehandlung ex ante zu beurteilen ist (RIS-Justiz RS0117777 [T2], 10 ObS14/08v, SSV-NF 22/16), abgewichen. Als - vom Detektivbüro dokumentierte - Arbeiten des Klägers stehen nämlich lediglich kurzfristige Tätigkeiten bei insgesamt vier Kontakten mit dem „Agent Provocateur“ fest. Eine gelegentliche Beschäftigung war aber ohnehin integraler Bestandteil „des therapeutischen Konzepts“ mit dem Ziel einer Wiedereingliederung des Klägers ins Berufsleben. Auf die diesbezüglichen Revisionsausführungen ist daher nicht weiter einzugehen, weil sie sich von der Tatsachengrundlage der angefochtenen Entscheidung entfernen.
Soweit die Beklagte meint, dass der Anspruch auf Krankengeld erlischt, wenn der Versicherte eine weitere Tätigkeit - und zwar unabhängig davon, ob dies in Form einer legalen Beschäftigung oder im Rahmen von „Schwarzarbeit“ erfolgt - ausübt, ist ihr hingegen Folgendes zu erwidern:
Ein automatisches Erlöschen des Anspruchs auf Krankengeld für den Fall, dass der Versicherte eine weitere Tätigkeit ausübt, ist im Gesetz nicht vorgesehen. So kann beispielsweise bei Vorliegen von zwei rechtlich voneinander unabhängigen Beschäftigungsverhältnissen der Versicherte unter Umständen in dem einen Beschäftigungsverhältnis für arbeitsunfähig angesehen werden und als Arbeitsunfähiger Krankengeld beziehen, während er in dem anderen Beschäftigungsverhältnis als arbeitsfähig anzusehen ist und Arbeitsentgelt bezieht (vgl Binder in Tomandl [Hrsg], SV-System 21. Erg-Lfg 264). Bei einem Anspruch des Versicherten auf Entgeltfortzahlung sieht der Gesetzgeber in § 143 Abs 1 Z 3 ASVG ein Ruhen des Krankengeldanspruchs nur für den Fall vor, dass der Versicherte Anspruch auf Weiterleistung von 50 % oder mehr der vollen Bezüge vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit hat. Auch für den hier vorliegenden Fall, dass ein Versicherter, der zu keiner geregelten (durchgehenden) Arbeitsleistung in der Lage ist, durch gelegentliche Tätigkeiten seinen Gesundungsprozess nicht verzögert, sondern im Rahmen eines „therapeutischen Konzepts“ mit dem Ziel einer Wiedereingliederung in das Berufsleben sogar fördert, sieht das Gesetz ein Ruhen oder eine Versagung des Krankengeldanspruchs nach den §§ 142, 143 ASVG nicht vor. Schließlich kommt auch ein Erlöschen des Anspruchs des Klägers auf Krankengeld nach § 100 Abs 1 lit a ASVG nicht in Betracht, weil beim Kläger die Voraussetzungen für seinen Anspruch auf Krankengeld für den hier strittigen Zeitraum vom 11. 9. 2008 bis 16. 10. 2008 nicht weggefallen sind.
Was aber den vom Berufungsgericht verneinten Mangel des Verfahrens erster Instanz (die angebliche Verletzung des „Grundsatzes der Amtswegigkeit“ infolge Unterlassung weiterer „Erhebungen“ durch das Erstgericht) betrifft, kann ein solcher nach ständiger Rechtsprechung auch in Sozialrechtssachen nicht mit Revision geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0043061; RS0042963 [T31]; jüngst: 10 ObS 49/11w mwN). Dieser Grundsatz ist auch nicht durch die Behauptung zu umgehen, das Berufungsverfahren sei mangelhaft geblieben, weil das Berufungsgericht der Mängelrüge nicht gefolgt sei (RIS-Justiz RS0042963 [T58]; RS0043061 [T18]; jüngst: 10 ObS 187/10p [P9] und 10 Ob 20/11f [P3]). Eine durch die Aktenlage nicht gedeckte Verneinung des geltend gemachten erstinstanzlichen Verfahrensmangels durch das Berufungsgericht liegt nicht vor (RIS-Justiz RS0043166; 10 ObS 191/09z).
Schlagworte
SozialrechtTextnummer
E97872European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00064.11A.0628.000Im RIS seit
04.08.2011Zuletzt aktualisiert am
25.01.2013