Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 29. Juni 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Dr. Michel-Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Bütler als Schriftführerin in der Strafsache gegen Laura C***** (nunmehr A*****) wegen des Vergehens des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, AZ 9 U 666/07i des Bezirksgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen das Urteil vom 6. Mai 2010, GZ 9 U 666/07i-32, und weitere Vorgänge nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Fürnkranz zu Recht erkannt:
Spruch
In der Strafsache AZ 9 U 666/07i des Bezirksgerichts Innsbruck verletzen
1./ die Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung sowie der Strafanträge vom 17. Dezember 2007, 13. August 2009 und 30. Oktober 2009 in deutscher Sprache ohne Anschluss einer Übersetzung zumindest der wesentlichen Passagen aller Urkunden in die rumänische Sprache an die Angeklagte § 427 Abs 1 StPO iVm Art 5 Abs 3 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-RHÜ; BGBl III 2005/65);
2./ die Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung des Urteils am 6. Mai 2010 in Abwesenheit der Angeklagten § 427 Abs 1 StPO sowie den darin zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art 6 MRK;
3./ die Verlesung der vor den ermittelnden Polizeibeamten getätigten Angaben der Zeugen Frieda und Johann S***** sowie Rudolf P***** und Florian N***** in der in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung am 6. Mai 2010 § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO;
4./ das Abwesenheitsurteil vom 6. Mai 2010, GZ 9 U 666/07i-32, in der Annahme mehrerer Vergehen „des versuchten und des vollendeten Diebstahls nach den §§ 127, 15 StGB“ § 29 StGB;
5./ das Unterbleiben der Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls an die Angeklagte § 271 Abs 6 letzter Satz StPO iVm § 447 StPO.
Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 6. Mai 2010, GZ 9 U 666/07i-32, wird aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Bezirksgericht verwiesen.
Text
Gründe:
Mit Antrag auf Bestrafung vom 17. Dezember 2007 legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck im Verfahren AZ 9 U 666/07i des Bezirksgerichts Innsbruck ua Laura C***** (nunmehr A*****) ein am 5. November 2007 begangenes Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zur Last (ON 3). Die Beschuldigte wurde zu diesem Vorwurf von der Polizei als Verdächtige im Beisein eines Dolmetschers für die rumänische Sprache vernommen (ON 2 S 29). Die Angaben der Anzeiger Frieda und Johann S***** wurden in einem Aktenvermerk vom 5. November 2007 festgehalten (ON 2 S 21).
Mit Strafantrag vom 13. August 2009 legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck A***** im Verfahren AZ 10 U 202/09i des Bezirksgerichts Innsbruck ein am 21. Februar 2009 begangenes Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB zur Last (ON 5 in ON 22). Die in Rumänien wohnhafte Beschuldigte wurde zu diesem Vorwurf von der Polizei nicht vernommen, weil sie nach Identifizierung eines Fingerabdrucks in Österreich nicht mehr erreichbar war (ON 2 S 5 in ON 22). Im polizeilichen Abschlussbericht sind die Angaben des Opfers Rudolf P***** gegenüber der Polizei wiedergegeben (ON 2 S 3 in ON 22).
Weiters legte die Staatsanwaltschaft Innsbruck A***** im Verfahren AZ 7 U 184/09f des Bezirksgerichts Landeck mit Strafantrag vom 30. Oktober 2009 das am 8. Juli 2009 begangene Vergehen des Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zur Last (ON 3 in ON 24). A***** war laut Abschlussbericht gegenüber den ermittelnden Polizeibeamten „geständig“ (ON 2 S 5 in ON 24). Allerdings war eine Verständigung mit der Beschuldigten nicht möglich, weil sie nur rumänisch sprach (ON 2 S 6 in ON 24). Von einer förmlichen Vernehmung unter Beiziehung eines Dolmetschers wurde nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Innsbruck abgesehen (ON 2 S 6 in ON 24). Die Angaben des Detektivs Florian N***** zur Tat wurden bloß in Berichtsform wiedergegeben (ON 2 S 5 ff in ON 24).
Nach Einbeziehung der Verfahren AZ 10 U 202/09i des Bezirksgerichts Innsbruck und AZ 7 U 184/09f des Bezirksgerichts Landeck in das Verfahren AZ 9 U 666/07i des Bezirksgerichts Innsbruck (ON 1 S 3b) und Einlangen des Protokolls über die gerichtliche Vernehmung der Angeklagten im Rechtshilfeweg zur Tat vom 5. November 2007 (ON 29) beraumte die Richterin des Bezirksgerichts Innsbruck am 3. Februar 2010 für den 6. Mai 2010 eine Hauptverhandlung an und verfügte die Ladung der Angeklagten zur Hauptverhandlung unter Anschluss „aller Strafanträge“ mit internationalem Rückschein (ON 1 S 3d). Eine Übersetzung zumindest der wesentlichen Passagen aller Schriftstücke in die rumänische Sprache war nach der Aktenlage nicht angeschlossen (ON 1 S 3d). Der Übernehmer dieser Sendung lässt sich dem Rückschein nicht zweifelsfrei entnehmen (RS bei ON 1 S 3d), zumal die Unterschrift der Angeklagten, die bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 5. November 2007 bekanntgegeben hatte, weder schreiben noch lesen zu können (ON 2 S 29), und deswegen das polizeiliche Protokoll nur mit einem Kreuz anstatt einer Unterschrift gezeichnet hatte (ON 2 S 33), nicht aktenkundig ist.
In der Hauptverhandlung am 6. Mai 2010 fasste die Bezirksrichterin den Beschluss auf Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit der ferngebliebenen Angeklagten, weil ihre Ladung „durch eigenhändige Übernahme ausgewiesen“ sei (ON 31 S 3). Nach Verlesung ihrer leugnenden Verantwortung zum Faktum vom 5. November 2007 (ON 29) legte die Richterin „gemäß § 252 Abs 2 StPO“ die den Strafanträgen zu Grunde liegenden Anzeigen der Polizeiinspektionen P***** (ON 2), L***** (ON 2 in ON 22) und R***** (ON 2 in ON 24) dar.
Mit - entgegen § 271 Abs 1 Z 7 StPO im Hauptverhandlungsprotokoll nur unzureichend dokumentiertem (ON 31 S 3) - Abwesenheitsurteil vom 6. Mai 2010, GZ 9 U 666/07i-32, wurde Laura A***** schuldig erkannt, „die Vergehen des versuchten und des vollendeten Diebstahls nach den §§ 127, 15 StGB“ begangen zu haben, und zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten sowie zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.
Danach hat sie
„1. gemeinsam mit der abgesondert verfolgten Rozalia A***** am 5. November 2007 in I***** im Bauernhaus der Familie S***** versucht, fremde bewegliche Sachen mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich oder einen Dritten dadurch unrechtmäßig zu bereichern,
2. am 21. Februar 2009 in L***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit der abgesondert verfolgten Lacre L***** Rudolf P***** fremde bewegliche Sachen, nämlich ein Sparbuch und einen Bargeldbetrag von 80 Euro mit dem Vorsatz weggenommen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern,
3. am 8. Juli 2009 in P***** versucht, Verfügungsberechtigten des Geschäfts Sp***** fremde bewegliche Sachen, nämlich eine Spirituose und eine Packung Haarfärbemittel im Gesamtwert von 12,48 Euro mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern.“
Die Urteilsfeststellungen stützte die Richterin auf das „Geständnis“ der Angeklagten zum Vorfall vom 8. Juli 2009 und die - nicht näher dargestellten und auch nicht erörterten - „vorliegenden anderen Beweisergebnisse“, durch welche die „nicht geständige“ Verantwortung der Angeklagten zu den weiteren Fakten als reine Schutzbehauptung zu vernachlässigen sei. Feststellungen zur Art des Sparbuchs (Urteilsfaktum 2./) unterblieben.
Die von der Richterin verfügte Zustellung des Abwesenheitsurteils - offenbar samt Übersetzung und Rechtsmittelbelehrung - wurde am 14. Juni 2010 mit internationalem Rückschein an Laura A***** abgefertigt (ON 32 S 4). Eine Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls erfolgte hingegen nach der Aktenlage nicht.
Über die in der Folge durch einen beigegebenen Verfahrenshilfeverteidiger eingebrachte Berufung der Angeklagten wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe wurde bislang nicht entschieden.
Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, steht diese Vorgangsweise des Bezirksgerichts Innsbruck in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:
Rechtliche Beurteilung
1./ Gemäß der auch im bezirksgerichtlichen Verfahren geltenden allgemeinen Bestimmung des § 427 Abs 1 StPO (vgl EBRV zum Strafprozessreformgesetz I 231 BlgNR 23. GP S 23) darf die Hauptverhandlung bei sonstiger Nichtigkeit nur dann in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt und das Urteil gefällt werden, wenn er gemäß §§ 164 oder 165 StPO zum Anklagevorwurf vernommen und ihm die Ladung zur Hauptverhandlung persönlich zugestellt wurde.
Gemäß Art 5 Abs 1 des Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-RHÜ; BGBl III 2005/65) - welches zufolge Art I Abs 1 lit c die Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens, BGBl III 1997/90 (SDÜ), über die Rechtshilfe in Strafsachen und damit auch dessen Art 52 ergänzt - übersendet jeder Mitgliedstaat Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten, für sie bestimmte Verfahrensurkunden unmittelbar durch die Post. Die Urkunde oder zumindest ihr wesentlicher Inhalt ist in die Sprache des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der Empfänger aufhält, oder in eine andere Sprache, deren der Empfänger kundig ist, zu übersetzen, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Empfänger der Sprache, in der die Urkunde abgefasst ist, unkundig ist (Art 5 Abs 3 EU-RHÜ).
Die Zustellung der Ladung zur Hauptverhandlung ohne Anschluss einer Übersetzung des wesentlichen Inhalts der Ladung sowie aller Strafanträge an die der deutschen Sprache aktenkundig nicht mächtige Angeklagte widersprach somit Art 5 Abs 3 des EU-RHÜ und erfolgte (abgesehen von der Fraglichkeit der eigenhändigen Zustellung) schon deshalb nicht wirksam. Die im § 427 Abs 1 StPO festgelegten Voraussetzungen für die Durchführung der Hauptverhandlung und Fällung eines Abwesenheitsurteils waren daher nicht erfüllt (RIS-Justiz RS0117621). Diese - mit dem prozessualen Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 6 MRK) im Widerspruch stehende - Gesetzesverletzung gereicht der Angeklagten zum Nachteil.
2./ In Ansehung der Urteilsfakten 2./ und 3./ lag überdies keine §§ 164 oder 165 StPO entsprechende Vernehmung der Angeklagten zu den Anklagvorwürfen vor, sodass die Verhandlung und Urteilsfällung aus diesem Grund mit dem Gesetz nicht in Einklang steht (14 Os 179/10w).
3./ Protokolle über die Vernehmung von Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, dürfen bei sonstiger Nichtigkeit nur in den in § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO normierten Ausnahmefällen verlesen werden. Die Verlesung der in den Polizeiberichten wiedergegebenen Angaben der Zeugen Frieda und Johann S*****, Rudolf P***** und Florian N***** in der Hauptverhandlung am 6. Mai 2010 war mangels Vorliegens eines der hiefür maßgeblichen Ausnahmetatbestände des § 252 Abs 1 StPO nicht zulässig. Denn aus dem Nichterscheinen der Angeklagten zur Hauptverhandlung kann deren Einverständnis im Sinne der Z 4 leg cit nicht abgeleitet werden (RIS-Justiz RS0117012).
4./ Nach dem Zusammenrechnungsprinzip des § 29 StGB bilden alle in einem Verfahren demselben Täter angelasteten Diebstähle, mögen sie weder örtlich noch zeitlich zusammenhängen und jeder für sich rechtlich verschiedener Art sein, bei der rechtlichen Beurteilung eine Subsumtionseinheit, sodass die getrennte Annahme mehrerer Vergehen des Diebstahls unzulässig ist (RIS-Justiz RS0114927). Indem das Bezirksgericht Innsbruck Laura A***** ungeachtet dessen mehrerer Vergehen „des versuchten und des vollendeten Diebstahls nach den §§ 127, 15 StGB“ schuldig erkannte, verletzte es § 29 StGB.
5./ § 271 Abs 6 StPO letzter Satz iVm § 447 StPO zufolge ist den Beteiligten eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung zuzustellen, soweit sie nicht darauf verzichtet haben. Die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung spätestens mit der Urteilsausfertigung widerspricht dem Gesetz, weil die Angeklagte darauf nicht verzichtet hat.
Der Oberste Gerichtshof sah sich daher veranlasst, das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Innsbruck vom 6. Mai 2010, GZ 9 U 666/07i-32, aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Bezirksgericht zu verweisen. Die von der Angeklagten erhobene Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe ist daher gegenstandslos.
Die vom kassierten Abwesenheitsurteil rechtslogisch abhängigen Entscheidungen und Verfügungen gelten damit gleichfalls als beseitigt (RIS-Justiz RS0100444).
Im weiteren Verfahren wird das Bezirksgericht im Falle eines neuerlichen Schuldspruchs zu Faktum 2./ in Bezug auf das dort erwähnte Sparbuch zu beachten haben, dass Urkunden nur dann Gegenstand eines Diebstahls sein können, wenn sie selbständige Wertträger sind. Die Entfremdung anderer Urkunden ist nach § 229 StGB zu bestrafen (RIS-Justiz RS0093543; Kienapfel/Schmoller, Studienbuch BT II § 127 RN 35 ff).
Schlagworte
StrafrechtTextnummer
E97970European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0150OS00057.11P.0629.000Im RIS seit
19.08.2011Zuletzt aktualisiert am
19.08.2011