TE OGH 2011/6/29 4R203/11v

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Veröffentlicht am 29.06.2011
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Curd Steinhauer als Vorsitzenden sowie den Richter Mag. Werner Hofmann und die Richterin Mag. Martina Elhenicky in der Firmenbuchsache der T*****, ***** B*****, *****, wegen Offenlegung des Jahresabschlusses zum 31.1.2010, über die Rekurse der Gesellschaft sowie der Geschäftsführer Mag. D***** M***** und Mag. H***** R*****, beide ***** H*****, alle vertreten durch Arnold Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichtes Wr. Neustadt vom 11.4.2011, 1 Fr 4252/11k-1, in nicht öffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

              Den Rekursen wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung

              

              Im Firmenbuch des Landesgerichtes Korneuburg ist zu FN ***** g die T***** mit dem Sitz in B***** eingetragen. Geschäftsführer sind seit 3.12.2004 Mag. D***** M***** und Mag. H***** R*****. Stichtag für den Jahresabschluss ist der 31. Jänner.

              Mit Zwangsstrafverfügungen vom 14.3.2011 verhängte das Landesgericht Wr. Neustadt zu 1 Fr 2346/11h über die Gesellschaft und die beiden Geschäftsführer jeweils die gemäß § 283 Abs 2 UGB vorgesehene Zwangsstrafe von € 700,-- wegen nicht rechtzeitiger Vorlage des Jahresabschlusses zum 31.1.2010. Diese Strafverfügungen wurden den Geschäftsführern am 17.3. und der Gesellschaft am 18.3.2011 zugestellt. Ebenfalls am 18.3.2011 wurde der ausständige Jahresabschluss zum 31.1.2010 – gleichzeitig mit jenem zum 31.1.2011 – beim Firmenbuch eingereicht. Alle drei Zwangsstrafen wurden gezahlt.

              In ihren Einsprüchen gegen die Zwangsstrafverfügugen brachten die Gesellschaft und ihre Geschäftsführer übereinstimmend vor, dass die Gesellschaft 2003 ihre unternehmerische Tätigkeit eingestellt habe und seither keine Geschäfte mehr betreibe, sodass Dritte keinen Schaden durch ihre unternehmerische Tätigkeit mehr erleiden könnten. Ihre – mit Namen und Anschrift genannte – Steuerberaterin habe den Auftrag gehabt, den Jahresabschluss zum 31.1.2010 fristgerecht beim Firmenbuch einzureichen, dies jedoch aufgrund eines Irrtums verabsäumt.

              Mit dem angefochtenen Beschluss verhängte das Landesgericht Wr. Neustadt im ordentlichen Verfahren neuerlich Zwangsstrafen von je € 700,-- über die Gesellschaft und ihre Geschäftsführer. In seiner Begründung wies es darauf hin, dass es nach ständiger Rechtsprechung ohne Bedeutung für die Erstellung und Offenlegung des Jahresabschlusses ist, wenn das Unternehmen keine Geschäftstätigkeit mehr ausübt. Dass die Steuerberaterin den Auftrag gehabt habe, den Jahresabschluss fristgerecht einzureichen, und dies aufgrund eines Irrtums verabsäumt habe, rechtfertige die Einstellung des Zwangsstrafverfahrens nicht, weil die Geschäftsführer ihre Überwachungspflicht schuldhaft verletzt hätten. Sie hätten sich nämlich durch einen Anruf beim Steuerberater oder beim Firmenbuchgericht davon informieren können, ob die Einreichung tatsächlich bereits erfolgt sei, und gegebenenfalls die notwendigen Veranlassungen treffen können. Da sie dies unterlassen hätten, sei ihnen und der Gesellschaft jedenfalls leichte Fahrlässigkeit anzulasten.

              Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs aller drei Bestraften mit dem Antrag, das Zwangsstrafverfahren einzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt und die Anfechtung des § 283 UGB idF des Budgetbegleitgesetzes 2011 beim Verfassungsgerichtshof angeregt.

              

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist im Sinne einer Aufhebung zur Verfahrensergänzung berechtigt:

1. Offenlegungspflicht:

Schon das Erstgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften (und gemäß § 283 Abs 7 UGB seit 1.1.2011 auch die Gesellschaften selbst) den Jahresabschluss und Lagebericht sowie gegebenenfalls den Corporate Governance-Bericht spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag mit dem Bestätigungsvermerk oder dem Vermerk über dessen Versagung oder Einschränkung beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Gesellschaft einzureichen (offen zu legen) haben. Diese Offenlegungspflicht, die in Umsetzung einschlägiger EU-Richtlinien, insbesondere der Richtlinie des Rates 68/151/EWG vom 9.3.1968 („Publizitätsrichtlinie“) geschaffen wurde, wird von den Rekurswerbern nicht grundsätzlich infrage gestellt. Sie berufen sich vielmehr darauf, dass sie ohnehin alles unternommen hätten, um deren rechtzeitige Erfüllung zu gewährleisten, und äußern darüber hinaus Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der in § 283 UGB vorgesehenen Mindeststrafe und kumulativen Strafverhängung gegen die Gesellschaft und ihre Organe.

2. Durchsetzung der Offenlegungspflicht:

Das Verfahren zur Durchsetzung der Offenlegungspflicht wurde mit Wirkung ab 1.3.2011 grundlegend reformiert. Gemäß § 283 Abs 1 UGB in seiner am 1.1.2011 in Kraft getretenen Fassung hat nun das Gericht insbesondere die Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung und gemäß § 283 Abs 7 UGB auch die Gesellschaft selbst zur zeitgerechten Befolgung der Offenlegungspflicht durch Zwangsstrafen von EUR 700,- bis zu EUR 3.600,- anzuhalten. Die Zwangsstrafe ist sofort nach Ablauf der Offenlegungsfrist zu verhängen. Dabei ist nach § 283 Abs 2 UGB so vorzugehen, dass ohne vorausgehendes Verfahren durch Strafverfügung eine Zwangsstrafe von EUR 700,- verhängt wird, wenn die Offenlegung nicht bis zum letzten Tag der Offenlegungsfrist erfolgt und auch nicht bis zum Tag vor Erlassung der Zwangsstrafverfügung bei Gericht eingelangt ist.

Von einer Zwangsstrafverfügung kann nur abgesehen werden, wenn der Geschäftsführer offenkundig durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der fristgerechten Offenlegung gehindert war. In diesem Fall kann – soweit bis dahin noch keine Offenlegung erfolgt ist – mit der Verhängung der Zwangsstrafverfügung bis zum Ablauf von vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses, welches der Offenlegung entgegen stand, zugewartet werden.

Gegen die Zwangsstrafverfügung können der Geschäftsführer und die Gesellschaft binnen 14 Tagen Einspruch erheben. Darin sind die Gründe für die Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht anzuführen. Mit der rechtzeitigen Erhebung des begründeten Einspruchs tritt die Zwangsstrafverfügung außer Kraft. Über die Verhängung der Zwangsstrafe ist dann im ordentlichen Verfahren mit Beschluss zu entscheiden. Ist nicht mit Einstellung des Zwangsstrafverfahrens vorzugehen, so kann – ohne vorherige Androhung – wieder eine Zwangsstrafe von EUR 700,- bis EUR 3.600,- verhängt werden.

3. Unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis:               Welche Einspruchsgründe zur Einstellung des Zwangsstrafverfahrens nach Durchführung des ordentlichen Verfahrens führen können, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Es liegt aber nahe, dass es sich dabei – abgesehen von den hier nicht vorliegenden Fällen der ohnehin rechtzeitigen Offenlegung, des Nichtbestehens einer Offenlegungsverpflichtung oder der dauerhaften Unmöglichkeit der Offenlegung – ebenfalls nur um unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignisse im Sinn des § 283 Abs 2 UGB handeln kann, die hier zwar nicht offenkundig sein, aber jedenfalls die Organe an der fristgerechten Offenlegung gehindert haben müssen.

Zur Beantwortung der Frage, was unter einem „unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignis“ zu verstehen ist, kann auf die reichhaltige Lehre und Rechtsprechung zu § 146 ZPO (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) zurückgegriffen werden, wo der selbe Begriff verwendet wird. Auch die Gesetzesmaterialien (981 d.B. XXIV. GP, zu Art 34) verweisen darauf:

Unter Ereignis ist demnach in der Regel jedes Geschehen oder jede Tatsache zu verstehen (Deixler-Hübner in Fasching/Konecny² II/2 § 146 ZPO Rz 4). Unvorhergesehen ist es dann, wenn es die Partei tatsächlich nicht mit einberechnet hat und sie dessen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf die ihr bzw. ihrem Vertreter persönlich zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (subjektiver Maßstab); die Partei muss aber alle ihr zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Prozesshandlung fristgerecht vornehmen zu können. Der Begriff „unvorhergesehen“ ist somit durch den Begriff „unverschuldet“ zu ergänzen (Deixler-Hübner aaO, Rz 6). Mangels einer dem § 146 Abs 1 letzter Satz ZPO vergleichbaren Bestimmung reicht im Zwangsstrafverfahren – wie bisher (RIS-Justiz RS0123571) - schon ein minderer Grad des Versehens (leichte Fahrlässigkeit) aus, um die Unvorhersehbarkeit zu beseitigen. Unabwendbar ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt durch die Partei nicht verhindert werden konnte, auch wenn sie dessen Eintritt voraussah (objektives Kriterium; Deixler-Hübner aaO Rz 7).

Das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis muss für die konkrete Versäumung auch kausal sein. Nur wenn die Versäumung ausschließlich auf dieses Ereignis zurückzuführen ist, kann dies einen tauglichen Einspruchsgrund darstellen. Die Gesellschaftsorgane sind daher verpflichtet, alles zu tun, um trotz des eingetretenen Ereignisses den Jahresabschluss rechtzeitig einzureichen. Es muss von ihnen erwartet werden, dass sie dabei alles unternehmen, was ihnen persönlich zugemutet werden kann, um die rechtzeitige Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten, wenn auch dabei der Bogen der Zumutbarkeit nicht überspannt werden darf (vgl. zum Wiedereinsetzungsverfahren Deixler-Hübner aaO, RZ 8 mwN; in diesem Sinne, wenn auch mit etwas anderer Begründung, schon die Rechtsprechung zur alten Fassung des § 283 UGB, vgl. wiederum RIS-Justiz RS0123571).

Nach der neueren Rechtsprechung des Rekursgerichtes (vgl. zuletzt 4 R 335/10d mwN), die sich mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zum Wiedereinsetzungsverfahren (RIS-Justiz RS0111777) deckt und von der abzuweichen kein Anlass besteht, müssen sich die Organe (und damit wohl auch die Gesellschaft selbst) darüber hinaus das Verschulden einer Hilfsperson wie ein eigenes zurechnen lassen. Es wäre nämlich mit der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Effizienz des Zwangsstrafverfahrens nicht vereinbar, wenn die zur Offenlegung verpflichteten Personen und Gesellschaften jene strengen Anforderungen, die bei der Erfüllung der Offenlegungspflicht an sie gestellt werden, durch Beiziehung von Hilfspersonen auf bloße Überwachungspflichten reduzieren könnten. Der Gesetzeszweck einer effizienten Durchsetzung der Offenlegungspflicht darf nicht dadurch unterwandert werden, dass bei Verschulden von Hilfspersonen die Verhängung einer Zwangsstrafe zu unterbleiben hätte, obwohl der betreffende Jahresabschluss noch immer nicht offen gelegt ist.

Gelingt es den Organen oder ihren Hilfspersonen aber trotz aller zumutbarer Bemühungen nicht, den Jahresabschluss rechtzeitig (also 9 Monate nach dem Stichtag) einzureichen, so ist von ihnen wenigstens zu erwarten, dass sie das Versäumte unverzüglich nachholen, sobald das Hindernis in Form des unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses weggefallen ist. Aus der Bestimmung des § 283 Abs 2 3. Satz UGB, wonach mit der Verhängung einer Zwangsstrafverfügung bis zu vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses zugewartet werden kann, ist zu schließen, dass die Offenlegungspflicht nach Wegfall des Hindernisses wieder „auflebt“ (Dokalik/Birnbauer, Das neue Verfahren zur Erzwingung der Offenlegung nach den §§ 277 ff UGB, GesRZ 2011, 24) und binnen vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu erfüllen ist. Offenbar geht der Gesetzgeber davon aus, dass eine Nachfrist von vier Wochen grundsätzlich ausreicht, um einen ausständigen Jahresabschluss (fertig) zu erstellen und nachzureichen. Auch die Nichteinhaltung der vierwöchigen Nachfrist ab Wegfall des Hindernisses führt also zur Strafverhängung, sofern nicht erneut ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis eintritt, welches das Organ auch an der Einhaltung dieser Frist hindert. Die Einstellung des Verfahrens kann nur erfolgen, wenn der Gesellschaft, ihren Organen und ihren Hilfspersonen zum Zeitpunkt der Entscheidung keinerlei Säumnis vorgeworfen werden kann.

4. Ordentliches Verfahren:

Das Gesetz regelt auch nicht ausdrücklich, wie das „ordentliche Verfahren“ nach wirksamer Einspruchserhebung zu gestalten ist. Bei der Beantwortung dieser Frage sind im Hinblick auf die im Rekurs aufgeworfenen Fragen sowohl grund- als auch verfahrensrechtliche Aspekte zu beleuchten.

a) Grundrechtliche Aspekte:

Durch die Novellierung des § 283 UGB, insbesondere auch durch die Einfügung des Wortes „zeitgerechten“ vor „Befolgung“ (der Offenlegungspflicht), wurde der vom Gesetzgeber schon bisher beabsichtigte repressive Charakter der firmenbuchrechtlichen Zwangsstrafen (vgl. dazu die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs in 6 Ob 282/08a) weiter betont. Es handelt sich nunmehr eindeutig um eine Strafe für das nicht zeitgerechte Einreichen des Jahresabschlusses. Damit stellt sich auch die Frage der Anwendbarkeit der verfahrensrechtlichen Garantien des Art 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Gemäß Art 6 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das […] über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muss grundsätzlich öffentlich verkündet werden. Jeder Angeklagte hat insbesondere das Recht, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen, sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten, sowie Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind für die Einordnung eines Verfahrens als „strafrechtlich“ im Sinne des Art 6 EMRK drei Kriterien maßgeblich: die Qualifikation des Delikts als strafrechtlich gemäß der nationalen Rechtsordnung, der Charakter des Delikts und die Schwere der aufzuerlegenden Strafe (RIS-Justiz RS0120945). Dabei lässt der EGMR schon eines dieser Kriterien genügen, um die Anwendbarkeit des Art 6 EMRK zu begründen. So wurde etwa entschieden, dass die Verhängung eines Steuerzuschlags wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung durch das Finanzamt Strafcharakter hat, auch wenn ein solcher Zuschlag bloß geringfügig (im Anlassfall: rund EUR 300,--) und nach nationalem Recht dem Steuerrecht zuzuordnen ist; entscheidend sei, dass die Verhängung auf einer allgemeinen Rechtsvorschrift beruht, die auf alle Steuerzahler gleiche Anwendung findet, und dass der Zuschlag nicht als finanzielle Entschädigung für entstandenen Schaden, sondern als Bestrafung mit abschreckendem Charakter gedacht ist (EGMR 23.11.2006, Bsw 73053/01).

Diese Überlegungen treffen auf das österreichische Zwangsstrafverfahren umso mehr zu, als der Strafcharakter hier vom Gesetzgeber sogar ausdrücklich gewollt und in den Materialien (981 dB XXIV. GP, zu Art. 34) ausdrücklich angeführt ist, und auch die angedrohten Strafen von bis zu EUR 3.600,-- (bei großen Kapitalgesellschaften gemäß § 283 Abs 5 UGB sogar bis zu EUR 21.600,--) pro Organ bzw. Gesellschaft nicht mehr als bloß geringfügig anzusehen sind. Nach Ansicht des Rekursgerichtes ist Art 6 EMRK daher auf das Zwangsstrafverfahren grundsätzlich anwendbar.

Damit stellt sich die weitere Frage nach der Gewährleistung der in Art 6 EMRK vorgesehenen Verfahrensgarantien, insbesondere einer mündlichen Verhandlung und einer öffentlichen Urteilsverkündung. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die Verpflichtung zur Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nicht absolut; sie kann etwa in Fällen entfallen, in denen die Tatsachen oder die Glaubwürdigkeit von Zeugen unbestritten sind und die Gerichte bereits auf Grundlage des Aktenmaterials und des schriftlichen Vorbringens der Parteien zu einer fairen und ausgewogenen Entscheidung kommen können. Zwar sind die Anforderungen an die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Bereich des Strafrechts extrem hoch anzusetzen, jedoch gibt es auch hier Konstellationen, in denen „strafrechtlichen Anklagen" ein unterschiedliches Gewicht zukommt. Zu nennen wären insbesondere Bereiche, die nicht in die traditionelle Kategorie des Strafrechts fallen, wie etwa Finanz- und Verwaltungsstrafen sowie Zoll- und Wettbewerbsangelegenheiten (neuerlich EGMR 23.11.2006, Bsw 73053/01).

Auch Zwangsstrafen im Firmenbuchverfahren gehören – so wie die in der zitierten Entscheidung angesprochenen Steuerzuschläge - nicht dem Kernbereich des Strafrechts an, sodass strafrechtliche Garantien auch in diesem Fall nicht zur vollen Anwendung gelangen müssen. So kann im Zwangsstrafverfahren weiterhin auf eine öffentliche mündliche Verhandlung und Urteilsverkündung verzichtet werden. Sehr wohl gebietet es aber die Fairness des Verfahrens, auf die von den zu Bestrafenden zu ihrer „Verteidigung“ vorgebrachten Argumente einzugehen, ihre „Entlastungszeugen“ anzuhören und die Unschuldsvermutung zu respektieren. Die Art und Weise, wie diese Verfahrensgarantien zu gewährleisten sind, ergibt sich dabei aus dem jeweils anzuwendenden Verfahrensrecht.

b) Verfahrensrechtliche Aspekte:

Beim Zwangsstrafverfahren handelt es sich gemäß § 15 FBG um ein Außerstreitverfahren, auf das die allgemeinen Bestimmungen des Außerstreitgesetzes (§§ 1 – 80 AußStrG mit Ausnahme der §§ 72 – 77) anzuwenden sind und das folglich vom Untersuchungsgrundsatz und einer weitgehenden Manuduktionspflicht des Gerichtes für unvertretene Parteien geprägt ist.

Gemäß § 13 Abs 1 AußStrG hat das Gericht von Amts wegen für den Fortgang des Verfahrens zu sorgen und dieses so zu gestalten, dass eine erschöpfende Erörterung und gründliche Beurteilung des Verfahrensgegenstands und eine möglichst kurze Verfahrensdauer gewährleistet sind. Gemäß § 14 AußStrG hat das Gericht die Parteien, die nicht durch einen Rechtsanwalt oder Notar vertreten sind, über die bei dem Gegenstand des Verfahrens in Betracht kommenden besonderen Vorbringen und Beweisanbote zu belehren, die der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienen können, und sie zur Vornahme der sich anbietenden derartigen Verfahrenshandlungen anzuleiten. Gemäß § 16 AußStrG hat das Gericht von Amts wegen dafür zu sorgen, dass alle für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen aufgeklärt werden, und sämtliche Hinweise auf solche Tatsachen entsprechend zu berücksichtigen; umgekehrt haben die Parteien vollständig und wahrheitsgemäß alle ihnen bekannten, für die Entscheidung des Gerichtes maßgebenden Tatsachen und Beweise vorzubringen bzw. anzubieten und alle darauf gerichteten Fragen des Gerichtes zu beantworten.

Diese Grundsätze erlauben es nicht, den von einer Zwangsstrafverfügung betroffenen Parteien – besonders, wenn sie wie hier bei der Einspruchserhebung (noch) nicht anwaltlich vertreten sind – eine strenge Behauptungs- und Beweislast in dem Sinne aufzubürden, dass sie, um die Einstellung des Verfahrens erreichen zu können, schon im Einspruch den lückenlosen und schlüssigen Nachweis eines sie an der rechtzeitigen Offenlegung hindernden unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses erbringen müssen. Selbst die formstrengere Zivilprozessordnung sieht Anleitungspflichten des Gerichtes bei unklarem oder unvollständigem Vorbringen vor (§§ 182 f., 435 ZPO).

Im Einspruch sind gemäß § 283 Abs 2 6.Satz UGB die Gründe für die Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht anzugeben; schon im Hinblick auf den begrenzten Platz auf dem von der Justiz zur Verfügung gestellten Einspruchsformular ist hier aber nur eine zusammengefasste, stichwortartige Darstellung der Gründe zu erwarten. Reichen diese Angaben nicht aus, um beurteilen zu können, ob tatsächlich ein Einstellungsgrund vorliegt oder nicht, so hat das Gericht gemäß §§ 15 FBG, 14 AußStrG für deren Vervollständigung – auch durch Angabe von Beweismitteln - zu sorgen. Wird danach ein Sachverhalt behauptet, der tatsächlich die Einstellung des Verfahrens rechtfertigt, so sind die angebotenen, allenfalls auch weitere Beweise aufzunehmen und auf dieser Grundlage zu entscheiden. Nur wenn das Vorbringen im Einspruch so gelagert ist, dass eine Einstellung von Vornherein nicht infrage kommt, etwa weil der ins Treffen geführte Grund kein Hindernis für die rechtzeitige Offenlegung sein kann, ist auch im ordentlichen Verfahren sofort wieder eine Zwangsstrafe zu verhängen.

Dies mag zwar zu einer Mehrbelastung der Firmenbuchgerichte gegenüber der bisherigen Praxis führen, wo vor Verhängung einer Zwangsstrafe sehr selten Hinderungsgründe mitgeteilt wurden und die erstmalige Geltendmachung solcher Gründe im Rekurs am Neuerungsverbot des § 49 Abs 2 AußStrG scheiterte. Es ist aber im Sinne eines rechtsstaatlichen, an der EMRK und den Grundsätzen des Außerstreitgesetzes orientierten Verfahrens in Kauf zu nehmen, worauf auch schon die Gesetzesmaterialien hinweisen (981 d.B. XXIV. GP, zu Art. 34).

5. Vorliegender Fall:

Die Gesellschaft und ihre Geschäftsführer haben sich in ihren Einsprüchen darauf berufen, dass sie ihrer Steuerberaterin den Auftrag erteilt hätten, den Jahresabschluss zum 31.1.2010 fristgerecht beim Firmenbuch einzureichen; aufgrund eines Irrtums habe die Steuerberaterin dies verabsäumt. Nach ständiger Rechtssprechung kann auch ein – unverschuldeter – Irrtum ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellen (RIS-Justiz RS0036742). Ob der Irrtum der Steuerberaterin unverschuldet war oder nicht, geht aus den Einsprüchen nicht hervor; ebenso wenig findet sich darin ein Anhaltspunkt, ob die Geschäftsführer ihrer Überwachungspflicht gegenüber der Steuerberaterin nachgekommen sind (was sie aber nunmehr in ihrem Rekurs behaupten) oder nicht.

Bei dieser ungeklärten Sachlage verbietet es schon die in Art 6 Abs 2 EMRK verankerte Unschuldsvermutung, ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens von vornherein zu unterstellen, dass einerseits der Irrtum der Steuerberaterin – deren Verhalten den Geschäftsführern ja zuzurechnen ist – verschuldet war und andererseits die Geschäftsführer ihre Überwachungspflicht verletzt und nicht alles getan hätten, um die rechtzeitige Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten. Es wäre vielmehr Sache des Erstgerichtes gewesen, die Geschäftsführer zur Präzisierung ihres Einspruchsvorbringens aufzufordern und sie insbesondere darüber zu befragen, worin denn der Irrtum der Steuerberaterin bestanden hat und welche Schritte diese, aber auch sie selbst unternommen haben, um die rechtzeitige Einreichung des Jahresabschlusses zum 31.1.2010 sicherzustellen. Allenfalls wäre auch die betreffende Steuerberaterin, deren Name und Anschrift in den Einsprüchen genannt wurde, einzuvernehmen gewesen.

Die Unterlassung dieser aufgrund des Einspruchsvorbringens erforderlichen Verfahrensschritte begründet eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens, über die sich die Rekurswerber zu Recht beschweren. Die angefochtenen Beschlüsse sind daher gemäß § 57 Z 5 AußStrG aufzuheben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückzuverweisen. Eine Verfahrensergänzung durch das Rekursgericht kommt wegen der Unabsehbarkeit des Umfanges des Verfahrensstoffes (vgl. Klicka in Rechberger, AußStrG § 57 Rz 1) und auch deshalb nicht in Frage, weil es nicht Aufgabe des Rekursgerichtes sein kann, das gesamte in erster Instanz unterbliebende Ermittlungsverfahren nachzuholen.              Das Erstgericht wird daher im fortgesetzten Verfahren nach Befragung der Geschäftsführer und allenfalls auch der Steuerberaterin festzustellen haben, aus welchem konkreten Irrtum oder Versehen der Steuerberaterin oder ihrer Hilfskräfte die rechtzeitige Einreichung des Jahresabschlusses unterblieben ist und ob die Steuerberaterin den Geschäftsführern auf Nachfrage tatsächlich bestätigt hat, den Jahresabschluss rechtzeitig eingereicht zu haben, wie diese im Rekurs behaupten und was zumindest deren Verschulden ausschließen würde. Erst auf Grundlage dieser Feststellungen wird abschließend beurteilt werden können, ob den Geschäftsführern oder der Steuerberaterin ein strafbares Verschulden zur Last fällt oder ob sie tatsächlich durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der rechtzeitigen Einreichung des Jahresabschlusses gehindert waren. In letzterem Fall wird auch der Zeitpunkt des Wegfalles dieses Hindernisses festzustellen sein, um beurteilen zu können, ob der Jahresab- schluss innerhalb der vierwöchigen Nachfrist des § 283 Abs 2 UGB nachgereicht wurde, was zur Einstellung des Verfahrens führen müsste.

Da der Sachverhalt noch nicht ausreichend geklärt ist, um beurteilen zu können, ob gegen die Gesellschaft und ihre Geschäftsführer überhaupt Strafen zu verhängen sind, bedarf es derzeit noch keiner Auseinandersetzung mit den im Rekurs geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die vorgesehene Mindeststrafe und die Strafbarkeit der Gesellschaft. Schon jetzt ist allerdings anzumerken, dass eine verfassungsrechtlich verbotene „Doppelbestrafung“ im Sinne des Art 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK nicht vorliegt, weil diese Bestimmung lediglich verbietet, dass ein- und dieselbe Person wegen der selben strafbaren Handlung mehrfach bestraft wird, nicht aber, dass – wie hier – mehrere Personen wegen der selben strafbaren Handlung bestraft werden, was auch im allgemeinen Strafrecht in den Fällen der Mit- oder Beitragstäterschaft ein ganz normaler Vorgang ist. Die Rekurswerber übersehen in ihrer Argumentation offenbar, dass gemäß § 283 Abs 7 UGB in der geltenden Fassung die Gesellschaft nicht wegen des Verstoßes ihrer Geschäftsführer, sondern wegen eines eigenen Verstoßes zu betrafen ist, treffen doch die den gesetzlichen Vertretern in § 277 UGB auferlegten Pflichten nach der ausdrücklichen Anordnung des § 283 Abs 7 erster Satz UGB auch die Gesellschaft.

Textnummer

EW0000512

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2011:00400R00203.11V.0629.000

Im RIS seit

07.09.2011

Zuletzt aktualisiert am

07.09.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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