Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Danzl als Vorsitzenden und durch die Hofrätinnen Dr. Hurch und Dr. Lovrek sowie die Hofräte Dr. Höllwerth und Mag. Wurzer als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj J***** K*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters M***** K*****, vertreten durch Dr. Birgit Streif, Rechtsanwältin in Innsbruck, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 7. Dezember 2010, GZ 51 R 107/10z-47, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.
Text
Begründung:
Der Minderjährige und seine Eltern sind deutsche Staatsbürger. Der Vater lebt in Deutschland, der Minderjährige seit 2009 durchgehend bei seiner Mutter in Österreich. Österreich und Deutschland sind Vertragsstaaten des Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. 10. 1961 BGBl 1975/446 (Haager Minderjährigenschutzabkommen; MSA).
Rechtliche Beurteilung
Nach ständiger Rechtsprechung geht das MSA in seinem Anwendungsbereich dem österreichischen Kollisionsrecht vor (4 Ob 63/03y = RIS-Justiz RS0117610). Nach Art 1 MSA sind die Behörden des Staats, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, vorbehaltlich der Bestimmungen der Art 3, 4 und 5 Abs 3 MSA dafür zuständig, Maßnahmen zum Schutz der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Dazu zählen unter anderem alle Eingriffe in das elterliche Obsorgeverhältnis (6 Ob 178/06d; 6 Ob 79/10a; 7 Ob 257/10k; RIS-Justiz RS0047773). Nach Art 2 Abs 1 MSA ist das Recht des Aufenthaltsorts anzuwenden, dabei aber nach Art 3 MSA ein Gewaltverhältnis, das nach dem innerstaatlichen Recht des Staats, dem der Minderjährige angehört, kraft Gesetzes besteht, in allen Vertragsstaaten anzuerkennen. Ein derartiges Gewaltverhältnis schließt die Zuständigkeit der Aufenthaltsbehörde nicht aus, setzt aber - abgesehen von der Not- bzw Eilzuständigkeit der Art 8 und 9 MSA - voraus, dass das Heimatrecht selbst Eingriffe gestattet (vgl 2 Ob 117/00w; 6 Ob 178/06d; 6 Ob 79/10a).
Die Eltern haben noch vor der Geburt ihres Kindes eine Sorgeerklärung nach § 1626a Abs 1 BGB abgegeben. Die dadurch bewirkte gemeinsame (Ob-)Sorge der Eltern ist ein gesetzliches Gewaltverhältnis im Sinne des Art 3 MSA (4 Ob 63/03y; 7 Ob 257/10k; RIS-Justiz RS0117610).
Zulässigkeit und Umfang des Eingriffs in ein Gewaltverhältnis sind nicht nach österreichischem, sondern nach dem Heimatrecht des Minderjährigen zu beurteilen (RIS-Justiz RS0074276). Gemäß § 1671 Abs 2 Z 2 BGB ist, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nicht nur vorübergehend getrennt leben, einem Elternteil auf seinen Antrag - auch ohne Zustimmung des anderen Elternteils - die elterliche Sorge allein zu übertragen, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht. Das Heimatrecht des Minderjährigen lässt es damit zu, dass das Gericht im Falle der Trennung eine Obsorgeregelung trifft, sodass dem Antrag der Mutter, ihr die alleinige Obsorge zu übertragen, österreichisches Recht, das gemäß Art 2 Abs 1 MSA als Recht des Aufenthaltsorts anzuwenden ist, zugrunde zu legen ist (4 Ob 63/03y; 7 Ob 257/10k; RIS-Justiz RS0117610).
Nach österreichischem Recht kann ein Elternteil beantragen, ihm die beiden Eltern zustehende gemeinsame Obsorge allein zu übertragen, wenn ein Elternteil die häusliche Gemeinschaft nicht bloß vorübergehend aufhebt (§§ 167, 177a ABGB). Die Aufrechterhaltung der Obsorge beider Eltern gegen den Willen eines Elternteils ist danach ausgeschlossen. Der Antrag eines Elternteils führt zur Aufhebung der gemeinsamen Obsorge, weil das Einvernehmen der Eltern über die gemeinsame Obsorge weggefallen ist (RIS-Justiz RS0117004, RS0120492 [insbes T7 = 5 Ob 202/10g]). Die Entscheidung, welcher Elternteil mit der Obsorge betraut werden soll, hängt vom Kindeswohl ab und ist regelmäßig eine solche des Einzelfalls (RIS-Justiz RS0007101).
Der Vater selbst hält seinen früheren Antrag, die Obsorge allein an ihn zu übertragen (ON 20 und AS 105), nicht mehr aufrecht (vgl Rechtsmittelanträge im Revisionsrekurs ON 49) und strebt weiterhin die geteilte Obsorge an, die gegen den Willen der Mutter nicht aufrecht erhalten werden kann. Im Übrigen hat das Rekursgericht in seiner von pflichtgemäßem Ermessen getragenen Entscheidung, die Obsorge der Mutter zu übertragen, bei der sich der Minderjährige seit der Trennung der Eltern aufhält, nicht nur die kinderpsychologische Sichtweise, die der Vater ins Treffen führt, sondern auch die übrigen, nach den Feststellungen für das Kindeswohl bedeutsamen Aspekte berücksichtigt. Darin liegt keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung.
Der Revisionsrekurs ist daher zurückzuweisen, ohne dass noch die Anwendbarkeit des mit 1. 4. 2011 in Kraft getretenen „Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern“ auf den hier zu beurteilenden Fall geprüft werden müsste, weil dessen Anwendung zu keinem anderen Ergebnis geführt hätte (vgl hiezu Nademleinsky, Haager Kinderschutzübereinkommen in Kraft, EF-Z 2011, 85 ff).
Schlagworte
Gruppe: Internationales Privatrecht und Zivilverfahrensrecht,FamilienrechtTextnummer
E98208European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0050OB00084.11F.0707.000Im RIS seit
15.09.2011Zuletzt aktualisiert am
29.04.2013