Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Baumann als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Veith, Dr. E. Solé, Dr. Schwarzenbacher und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Thomas P*****, vertreten durch Kinberger-Schuberth-Fischer Rechtsanwälte-GmbH in Zell am See, gegen die beklagten Parteien 1. Matthias G*****, und 2. G***** AG, *****, beide vertreten durch Dr. Leopold Hirsch, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 38.967,48 EUR sA und Feststellung (Streitinteresse 20.000 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 10. Februar 2011, GZ 4 R 206/10g-29, womit das Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 17. August 2010, GZ 7 Cg 49/09f-25, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird teilweise Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich der rechtskräftigen Teile insgesamt zu lauten hat:
„1. Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei 17.629,99 EUR samt 4 % Zinsen seit 17. 3. 2009 binnen 14 Tagen zu bezahlen.
2. Das auf die Zahlung weiterer 21.337,49 EUR samt 4 % Zinsen aus 44.145 EUR vom 24. 2. 2009 bis 6. 3. 2009, aus 39.580 EUR vom 7. 3. 2009 bis 16. 3. 2009, aus 21.950,01 EUR vom 17. 3. 2009 bis 9. 3. 2010 und aus 21.337,49 EUR seit 10. 3. 2010 lautende Mehrbegehren wird abgewiesen.
3. Es wird festgestellt, dass die beklagten Parteien zur ungeteilten Hand der klagenden Partei für sämtliche zukünftige Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 13. 11. 2008 in Salzburg, Schutzweg Rot-Kreuz-Parkplatz, im Ausmaß von 75 % haften, wobei die Haftung der zweitbeklagten Partei auf die Haftungshöchstbeträge des § 15 EKHG beschränkt ist.
4. Das Feststellungsmehrbegehren auf Haftung der beklagten Parteien zur ungeteilten Hand im Ausmaß weiterer 25 % sowie das Mehrbegehren, die Haftung der zweitbeklagten Partei ohne die Beschränkung auf die Haftungshöchstbeträge nach § 15 EKHG bis zur Höhe der Versicherungssumme aus dem im Unfallszeitpunkt für das Fahrzeug der erstbeklagten Partei bestehenden Kfz-Haftpflichtversicherungsvertrag auszusprechen, wird abgewiesen.“
Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 8.233,32 EUR (darin 975,96 EUR USt und 2.377,57 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 13. 11. 2008 wurde der Kläger von einem vom Erstbeklagten gelenkten und gehaltenen, bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten Pkw niedergestoßen, als er gegen 17:20 Uhr versuchte, die 4 m breite Fahrbahn des dort als Einbahn geregelten Franz-Josef-Kais in Salzburg auf einem durch ein Hinweiszeichen gemäß § 53 Z 2 StVO gekennzeichneten Schutzweg zu überqueren.
Zur Unfallszeit herrschten (trotz Straßenbeleuchtung) die „denkbar schlechtesten Sichtverhältnisse“ (Dunkelheit, Nieseln), die Fahrbahn war nass. Der schwarz gekleidete Kläger hatte sein Fahrzeug auf dem - aus Sicht des Erstbeklagten - rechts von der Fahrbahn gelegenen „Rot-Kreuz-Parkplatz“ abgestellt und „ging vom Parkplatz kommend zuerst einige Meter auf dem rechten Gehsteig Richtung Schutzweg [...] und betrat dann diesen“. Ob der Kläger bei (oder vor) Betreten des Schutzwegs auf den Straßenverkehr achtete, steht nicht fest. Bei entsprechender Aufmerksamkeit hätte er das herannahende Beklagtenfahrzeug aber jedenfalls erkennen können. Nachdem er 2 m auf dem Schutzweg zurückgelegt hatte, wofür er bei durchschnittlicher Gehgeschwindigkeit 1,8 sek benötigte, kam es zur Kollision.
Der Erstbeklagte, der wegen „funktioneller Einäugigkeit“ beim Lenken seines Fahrzeugs zur Verwendung einer Brille verpflichtet war, diese jedoch nicht trug, näherte sich dem Schutzweg mit einer Geschwindigkeit, die zwischen 25 und 45 km/h lag. Er nahm den Kläger vor der Kollision nicht „bewusst“ wahr. Ob dafür (auch) das Nichttragen der Brille verantwortlich war, steht nicht fest. Nach Durchführung einer „sofortigen“ Vollbremsung gelangte das Beklagtenfahrzeug 10 m nach der Kollisionsstelle zum Stillstand.
In einer Zeitspanne von 1,8 sek legte das Beklagtenfahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 25 km/h 12,5 m, bei 45 km/h 22,5 m zurück.
Wurde der Erstbeklagte tatsächlich erst im Kollisionsmoment auf den Kläger aufmerksam, käme (im Hinblick auf den Anhalteweg von 10 m) nur eine Annäherungsgeschwindigkeit von 25 km/h in Betracht. In diesem Fall hätte der Erstbeklagte auf den Anprall prompt mit Vollbremsung reagiert; das Beklagtenfahrzeug befand sich umittelbar vor dem Betreten der Fahrbahn jene 12,5 m von der Kollisionsstelle entfernt.
Reagierte der Erstbeklagte (unbewusst) schon, als der Kläger den ersten Schritt auf den Schutzweg setzte, kämen 45 km/h als Höchstgeschwindigkeit in Betracht. In diesem Fall verstrichen 1,3 sek bis zum Anstoß, das Beklagtenfahrzeug war am Beginn dieser Zeitspanne noch 16,2 m von der Kollisionsstelle entfernt.
Der Kläger erlitt bei dem Unfall eine Verrenkung des linken Schultereckgelenks, Prellungen, eine leichte Zerrung der Halswirbelsäule sowie eine Hautabschürfung am linken Fuß. Die Schulterverletzung wurde am 14. 11. 2008 operativ versorgt. Dabei wurden die gerissenen Bänder durch ein Kunstband fixiert. Die Dauer der stationären Behandlung vom 13. 11. bis 18. 11. 2008 entsprach dem Heilungsprozess. Die Wundheilung erfolgte komplikationslos. Zur Ausheilung der Verletzung war für einen Zeitraum von sechs Wochen die Ruhigstellung des linken Schultergelenks mit einem fixierenden Schlingenverband notwendig. Aktive Bewegungen waren dem Kläger während dieses Zeitraums nicht erlaubt. Danach wurde die Schulter physiotherapeutisch mobilisiert. Der Kläger war bis 18. 1. 2009 arbeitsunfähig.
Es besteht ein Dauerschaden im Bereich der linken Schulter. Neben einer kosmetisch gering auffälligen Narbe ist von einer bleibenden endlagigen Bewegungseinschränkung, aber auch von einer auf Dauer bestehenden, mäßigen Lockerung im linken Schultereckgelenk auszugehen. Einschränkungen ergeben sich bei sportlichen Tätigkeiten mit der Notwendigkeit von Überkopfbewegungen mit dem linken Arm bzw für beidhändige Überkopfarbeiten. Spätfolgen sind möglich. Bei einem Riss des Kunstbandes könnte es zu einer neuerlichen Verschiebung im Schultereckgelenk kommen. Auch die Entwicklung einer Knorpelverschleißerkrankung (posttraumatische Arthrose) ist möglich. Bei einem sehr ungünstigen Verlauf ist die Notwendigkeit eines neuerlichen operativen Eingriffs denkbar. Aufgrund seiner Verletzungen hatte der Kläger komprimiert drei Tage starke, acht bis zehn Tage mittelstarke und drei bis vier Monate leichte Schmerzen zu erdulden.
Der Kläger bedurfte während der sechswöchigen Ruhigstellung des linken Arms der Unterstützung bei der täglichen Körperpflege (An- und Ausziehen, Körperreinigung etc) durch seine Lebensgefährtin. Der hiefür notwendige Zeitaufwand belief sich durchschnittlich auf zwei Stunden pro Tag.
Bei dem Unfall wurde auch die Armbanduhr des Klägers beschädigt. Die Reparatur, die der Kläger bisher noch nicht durchführen ließ, erfordert (ohne die für ein „periodisches Service“ anfallenden Kosten) einen Kostenaufwand von 889 EUR.
Der Kläger begehrte von den beklagten Parteien zuletzt Zahlung von 38.967,48 EUR sA sowie die Feststellung ihrer Haftung für alle künftigen Schäden aus dem Unfall. Das Leistungsbegehren schlüsselte er auf wie folgt: Schmerzengeld 25.000 EUR abzüglich Teilzahlung von 2.500 EUR = 22.500 EUR; Verunstaltungsentschädigung 1.000 EUR; zedierter Anspruch auf Entgeltfortzahlung während des Krankenstands 11.562,98 EUR; Pflegekosten (84 Stunden à 35 EUR) 2.940 EUR abzüglich Teilzahlung von 1.260 EUR = 1.680 EUR; Kleiderschaden 448 EUR; Taxikosten 250,50 EUR abzüglich Teilzahlung von 250 EUR = 0,50 EUR; Uhrenreparatur 1.176 EUR; Selbstbehalt Physiotherapie 450 EUR; pauschale Unkosten 150 EUR. Zum Grund des Anspruchs brachte der Kläger vor, das alleinige Verschulden an dem Unfall treffe den Erstbeklagten, der ihn infolge Unaufmerksamkeit sowie wegen des Nichttragens der Brille übersehen und auf dem Schutzweg angefahren habe.
Die beklagten Parteien wandten ein, der Kläger sei völlig überraschend auf die Fahrbahn getreten.
Das Erstgericht gab dem Zahlungsbegehren mit 10.499,99 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Hälfte statt, wobei es die Haftung der beklagten Parteien mit den Höchstbeträgen des § 15 EKHG beschränkte. Das auf 28.467,49 EUR lautende Zahlungsmehrbegehren wurde ebenso wie ein Zinsenmehrbegehren und das Feststellungsmehrbegehren abgewiesen.
Das Erstgericht vermochte aus seinen eingangs zusammengefasst wiedergegebenen Feststellungen kein schuldhaftes Fehlverhalten des Erstbeklagten, insbesondere auch keinen Verstoß gegen § 9 Abs 2 StVO abzuleiten, erachtete jedoch den Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG als misslungen. Dem Kläger lastete es hingegen eine Verletzung des § 76 Abs 4 lit a StVO als Mitverschulden an. Das Beklagtenfahrzeug habe sich in jedem Fall bereits in einer solchen Nähe zum Schutzweg befunden, dass der Kläger diesen nicht mehr betreten hätte dürfen. Eine Schadensteilung von 1 : 1 sei sachgerecht.
Der Höhe nach erachtete das Erstgericht ein Schmerzengeld von (ungekürzt) 13.000 EUR als angemessen. Im Hinblick auf die vorzunehmende Schadensteilung und die geleistete Teilzahlung seien weitere 4.000 EUR zuzusprechen. Des Weiteren erkannte es dem Kläger nach Kürzung um die Mitverschuldensquote 5.781,49 EUR an „zediertem Verdienstentgang“, 444,50 EUR für die Uhrenreparatur, 50 EUR an pauschalen Unkosten und 224 EUR für den Kleiderschaden, insgesamt somit 10.499,99 EUR zu. Zu den übrigen Schadenspositionen führte es aus, für die Ermittlung der Pflegekosten seien die Bruttokosten einer Ersatzkraft heranzuziehen, wofür ein Stundensatz von 30 EUR ausreichend sei. Dies ergebe (für 84 Stunden) einen Betrag von 2.520 EUR, wovon dem Kläger die Hälfte, das sind 1.260 EUR gebühre. Diesen Betrag habe die zweitbeklagte Partei bereits zur Gänze bezahlt. Eine Verunstaltungsentschädigung stehe dem Kläger nicht zu, den Selbstbehalt aus den Kosten der Physiotherapie habe er nicht nachgewiesen.
Dieses Urteil blieb in seinem stattgebenden Teil zur Gänze und in seinem abweisenden Teil hinsichtlich eines Teilbegehrens von 11.500,50 EUR (Schmerzengeld 10.000 EUR; Verunstaltungsentschädigung 1.000 EUR; Selbstbehalt Physiotherapie 450 EUR; pauschale Unkosten 50 EUR; Taxikosten 0,50 EUR) und des Zinsenmehrbegehrens, aber auch - obwohl der Kläger in der Berufung mit dem Alleinverschulden des Erstbeklagten argumentierte - hinsichtlich der Beschränkung der Haftung der zweitbeklagten Partei auf die Höchstbeträge des § 15 EKHG unbekämpft (vgl AS 193), weshalb es in diesem Umfang in Rechtskraft erwuchs.
Das vom Kläger im Übrigen angerufene Berufungsgericht bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung. Es sprach ferner aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.
Das Berufungsgericht pflichtete zunächst dem Kläger darin bei, dass dem Erstbeklagten ein schuldhaftes Fehlverhalten anzulasten sei. Habe er eine Geschwindigkeit von 25 km/h eingehalten, sei ihm ein Aufmerksamkeitsfehler vorzuwerfen; eine Geschwindigkeit von 45 km/h wäre angesichts der Witterungs- und Sichtverhältnisse relativ überhöht gewesen. Das Nichttragen der Korrekturbrille komme erschwerend dazu.
Hingegen teilte es die Ansicht des Erstgerichts, wonach dem Kläger ein Verstoß gegen § 76 Abs 4 lit a StVO vorzuwerfen sei. „Unmittelbar“ im Sinne dieser Bestimmung bedeute, dass der Fußgänger so knapp vor dem herannahenden Fahrzeug den Schutzweg betrete, dass einem vorschriftsmäßig und aufmerksam fahrenden Lenker ein rechtzeitiges Anhalten nicht mehr möglich sei. Nur bei einer Geschwindigkeit von 25 km/h wäre dem Erstbeklagten die Vermeidung des Unfalls „theoretisch“ möglich gewesen; „theoretisch“ nur deshalb, weil der Anhalteweg von 10 m der Entfernung des Erstbeklagten vom Kläger entsprochen habe, „sodass auch in dieser Variante noch von einer Kontaktaufnahme auszugehen wäre“. Bei jeder darüber liegenden Geschwindigkeit habe der Erstbeklagte keine Unfallverhinderungsmöglichkeit gehabt.
Das vom Erstgericht gemäß § 273 ZPO ausgemessene Schmerzengeld halte sich im Rahmen der Rechtsprechung; die Berechnung nach Tagessätzen komme nicht in Betracht. Für die Reparatur der beschädigten Armbanduhr seien nach den Feststellungen (nur) 889 EUR aufzuwenden, während ein „periodisches Service“ schon nach allgemeinem Sprachverständnis schadensunabhängig durchzuführen sei. Bei der Berechnung der Pflegekosten sei auch unter Berücksichtigung der Salzburger „Soziale Dienste -Verordnung“ kein höherer als der vom Erstgericht ausgemittelte Stundensatz heranzuziehen.
Gegen dieses Berufungsurteil richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Urteil (gemeint: im bekämpften Umfang) im Sinne einer „vollen“ Stattgebung des Klagebegehrens abzuändern. Hilfsweise werden auch Aufhebungsanträge gestellt.
Die beklagten Parteien beantragen in der ihnen freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig.
Ob eine bestimmte Verschuldensteilung durch die Vorinstanzen angemessen ist, ist eine bloße Ermessensentscheidung, bei welcher im Allgemeinen eine erhebliche Rechtsfrage nicht zu lösen ist (RIS-Justiz RS0087606). Hier ist den Vorinstanzen allerdings eine im Sinne der Rechtssicherheit wahrzunehmende Fehlbeurteilung unterlaufen, weshalb die Revision aus Gründen der Einzelfallgerechtigkeit ausnahmsweise dennoch zulässig ist.
Die Revision ist auch teilweise berechtigt.
Der Kläger vertritt in seinem Rechtsmittel den Standpunkt, der Erstbeklagte habe ihn übersehen, weil er nicht auf Sicht gefahren sei und seine Brille nicht getragen habe. Da ihm selbst kein Fehlverhalten vorzuwerfen sei, hätten die Vorinstanzen vom Alleinverschulden des Erstbeklagten ausgehen müssen. Aus den als Bemessungshilfe heranzuziehenden Schmerzengeldtabellen bzw Tagessätzen ergebe sich ein ungekürzter Schmerzengeldanspruch von 15.000 EUR. Mit der bei der Reparatur der Armbanduhr erforderlichen Öffnung des Gehäuses sei notwendigerweise ein Service verbunden. Auf der Grundlage der „Soziale Dienste-Verordnung“ idF LGBl Nr 18/2008 habe ein anderer Senat des Oberlandesgerichts Linz bzw das Landesgericht Salzburg die dort geregelten Pflegeaufwandsätze zuerkannt.
Hiezu wurde erwogen:
I. Zum Grund des Anspruchs:
1. Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, dass den Erstbeklagten ein Verschulden trifft:
1.1 Nach § 9 Abs 2 StVO hat der Lenker eines Fahrzeugs, das kein Schienenfahrzeug ist, ua einem Fußgänger, der sich auf einem Schutzweg befindet oder diesen erkennbar benützen will, das unbehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Zu diesem Zweck darf sich der Lenker eines solchen Fahrzeugs einem Schutzweg nur mit einer solchen Geschwindigkeit nähern, dass er das Fahrzeug vor dem Schutzweg anhalten kann. Der Schutzzweck dieser Bestimmung liegt (ua) im Schutz von Fußgängern, die einen Schutzweg überqueren wollen (vgl 2 Ob 259/04h; RIS-Justiz RS0073436). Die in § 9 Abs 2 StVO statuierte Hauptpflicht des Fahrzeuglenkers, Fußgängern eine ungehinderte und ungefährdete Überquerung zu ermöglichen, umfasst die Pflicht zur sorgfältigen Beobachtung des Geschehens auf dem Schutzweg und in dessen näheren Umgebung, zur richtigen Wahl der Annäherungsgeschwindigkeit und gegebenenfalls auch die Pflicht anzuhalten (Dittrich/Stolzlechner, StVO³ § 9 Rz 41 ff). Dabei muss der Lenker auch die äußeren Umstände, insbesondere die Fahrbahn- und Sichtverhältnisse einbeziehen (Stolzlechner, Hauptpunkte der 19. StVO-Novelle, ZVR 1994, 353 [357]).
Der Erstbeklagte hat dieses Schutzgesetz objektiv übertreten, weshalb die beklagten Parteien den Beweis dafür zu erbringen hatten, dass ihn an der Übertretung kein Verschulden traf (RIS-Justiz RS0112234). Dieser Beweis ist misslungen. Aus den Feststellungen über die Sichtverhältnisse und die Annäherung des Klägers ist nicht mit Sicherheit ableitbar, ab welchem Zeitpunkt einem vorsichtigen und aufmerksamen Lenker die Überquerungsabsicht des Klägers erkennbar war und ob er dann noch die Möglichkeit gehabt hätte, seine Geschwindigkeit entsprechend zu reduzieren. Diese Unklarheiten gehen zu Lasten der beklagten Parteien.
1.2 Die Bestimmungen über die Erteilung des Führerscheins sind der Sicherung des Verkehrs dienende Schutznormen iSd § 1311 ABGB (vgl 2 Ob 191/80 = ZVR 1981/240 [zu § 64 KFG aF]; RIS-Justiz RS0027613). Dazu gehören auch die Regelungen über Befristungen und Auflagen bei Erteilung der Lenkerberechtigung, wie hier jene, infolge „funktioneller Einäugigkeit“ eine Brille zu tragen (vgl § 5 Abs 5 iVm § 8 Abs 3 Z 2 und § 13 Abs 1 FSG sowie § 8 Abs 5 FSG-GV).
Der Erstbeklagte hat auch diese Schutznormen verletzt. Den ihnen nach der erörterten Beweislastregel obliegenden Beweis, dass sich der Unfall bei Tragen der Brille ebenso ereignet hätte (rechtmäßiges Alternativverhalten; vgl ZVR 1981/240; RIS-Justiz RS0026395), haben die beklagten Parteien nicht einmal angetreten; die dazu vorliegende Negativfeststellung fällt ihnen zur Last.
2. Dem Berufungsgericht ist jedoch darin zu widersprechen, dass der Kläger ein gleich zu gewichtendes Mitverschulden zu vertreten hat:
2.1 Gemäß § 76 Abs 4 lit a StVO dürfen Fußgänger an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt ist, einen Schutzweg nicht unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug und für dessen Lenker überraschend betreten.
„Überraschendes Betreten“ liegt dann vor, wenn andere Straßenbenützer den Umständen nach nicht damit rechnen konnten und nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten danach einzurichten (RIS-Justiz RS0075009). Ist für einen aufmerksamen Lenker aufgrund des Verhaltens eines Fußgängers dessen Überquerungsabsicht schon vor dem Betreten der Fahrbahn „erkennbar“ iSd § 9 Abs 2 StVO, ist das Betreten selbst nicht mehr als „überraschend“ anzusehen (vgl 2 Ob 211/06b, wo diese Frage aber letztlich unbeantwortet blieb).
„Unmittelbar vor“ einem herannahenden Fahrzeug wird ein Schutzweg dann betreten, wenn dies so knapp vor diesem Fahrzeug geschieht, dass dessen Lenker ein rechtzeitiges Anhalten nicht mehr möglich ist (RIS-Justiz RS0075633; auch RS0073432). Dies trifft jedenfalls dann zu, wenn der Fußgänger den Schutzweg innerhalb des Anhaltewegs betritt (vgl 2 Ob 339/98m; 2 Ob 211/06b).
2.2 Die Beweislast für den von ihnen behaupteten Verstoß des Klägers gegen § 76 Abs 4 lit a StVO trifft die beklagten Parteien. Dabei ist von der für den Kläger günstigsten Sachverhaltsvariante auszugehen:
Nach den Feststellungen betrug die Untergrenze der möglichen Geschwindigkeiten des Beklagtenfahrzeugs 25 km/h. Als sich der Kläger an der Gehsteigkante befand (1,8 sek vor der Kollision), war das Beklagtenfahrzeug in dieser Version noch 12,5 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt. Im Hinblick auf den Anhalteweg von 10 m wäre dem Erstbeklagten in dieser Situation nur noch bei sofortiger Vollbremsung rechtzeitiges Anhalten möglich gewesen. Ob ihm bei gehöriger Aufmerksamkeit die Überquerungsabsicht des Klägers schon vorher erkennbar sein konnte, als dieser sich dem Schutzweg annäherte, steht allerdings, wie in Punkt 1.1 bereits dargelegt wurde, nicht fest. Unter diesen Umständen hat der Kläger den Schutzweg zwar „unmittelbar vor“ dem Beklagtenfahrzeug betreten. Den Beweis für das weitere Tatbestandselement, dass das Betreten auch „überraschend“ gewesen wäre, haben die beklagten Parteien hingegen nicht erbracht.
2.3 Mag dem Kläger somit auch kein Verstoß gegen § 76 Abs 4 lit a StVO vorzuwerfen sein, so ist er dennoch nicht von jedem Mitverschulden befreit.
Grundsätzlich darf der Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn auf einem Schutzweg darauf vertrauen, dass sich der Lenker eines herankommenden Fahrzeugs mit einer solchen Geschwindigkeit nähert, dass er das Kraftfahrzeug anhalten kann, um dem Fußgänger das ungehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen (2 Ob 15/92 mwN; 2 Ob 67/92). Vor allem bei widrigen Umständen, wie Dunkelheit und Regen, muss der Fußgänger aber auch vor der Überquerung eines Schutzwegs die Verkehrslage sorgfältig prüfen und im Zweifel eher ungünstig beurteilen (vgl 2 Ob 155/05s; RIS-Justiz RS0073755). Auch einem „bevorrechteten“ Fußgänger ist zuzumuten, nicht gleichsam „blind“ den Schutzweg zu betreten (2 Ob 339/98m).
Für den Kläger wäre das herannahende Beklagtenfahrzeug vor dem Betreten der Fahrbahn bei entsprechender Aufmerksamkeit jedenfalls bereits in bedrohlicher Nähe erkennbar gewesen. In Anbetracht der „denkbar schlechtesten“ Sichtverhältnisse, die er kurz zuvor noch selbst als Fahrzeuglenker - er kam gerade vom Parkplatz - zur Kenntnis nehmen hatte müssen, seiner dunklen Kleidung und der erkennbaren Nähe des Beklagtenfahrzeugs durfte er auf das Gelingen eines Bremsmanövers auf nasser Fahrbahn nicht ohne Weiteres vertrauen. Er hätte vielmehr die Verkehrslage in bedenklichem Sinn auslegen und von der Überquerung des Schutzwegs Abstand nehmen müssen. Ihm ist als Mitverschulden (im Sinne einer Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten) anzulasten, dass er den Schutzweg dennoch betreten hat (vgl 2 Ob 339/98m).
3. Bei der Aufteilung des Verschuldens entscheiden vor allem der Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften für die Sicherheit des Verkehrs im Allgemeinen und im konkreten Fall (2 Ob 155/05s; RIS-Justiz RS0027389, RS0026861). Bedenkt man, dass ein Fußgänger auf dem Schutzweg grundsätzlich unbedingten Vorrang genießt und der Erstbeklagte trotz besonders schlechter Sichtverhältnisse nicht einmal die ihm beim Lenken eines Kraftfahrzeugs vorgeschriebene Korrekturbrille trug, so ist sein Fehlverhalten als schwerwiegender Verstoß gegen die zitierten Normen zu qualifizieren, der den Verschuldensanteil des Klägers zwar nicht zur Gänze zurücktreten lässt, aber doch eindeutig überwiegt. Dem ist durch eine Verschuldensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu Lasten der beklagten Parteien Rechnung zu tragen (vgl 2 Ob 339/98m).
4. Wie erwähnt ging bereits das Berufungsgericht zutreffend von der Verschuldenshaftung der beklagten Parteien aus. Dies hätte an sich zur Folge haben müssen, dass die im erstinstanzlichen Spruch über das Feststellungsbegehren zum Ausdruck gebrachte Begrenzung der Haftung mit den Höchstbeträgen des § 15 EKHG entfällt und statt dessen - entsprechend dem Klagebegehren - die Haftung der zweitbeklagten Partei mit der Beschränkung auf die Versicherungssumme aus dem Kfz-Haftpflichtversicherungsvertrag ausgesprochen wird. Der durch die weitergehende Haftungsbeschränkung beschwerte Kläger ließ jedoch die Anordnung des Erstgerichts hinsichtlich der zweitbeklagten Partei in seiner Berufung ausdrücklich (AS 193) unbekämpft. Es kann daher in dritter Instanz der Ausspruch über die Haftungsbeschränkung nur mehr hinsichtlich des Erstbeklagten beseitigt werden; hinsichtlich der zweitbeklagten Partei bleibt die einschränkende Anordnung - als Minus zum Klagebegehren - unverändert bestehen.
II. Zur Höhe des Anspruchs:
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist das Schmerzengeld nach freier Überzeugung (§ 273 ZPO) unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls für alles Ungemach, das der Verletzte bereits erduldet hat und voraussichtlich noch zu erdulden haben wird, grundsätzlich global festzusetzen (2 Ob 105/09v mwN; RIS-Justiz RS0031415, RS0031307). Die Bemessung hat nicht nach starren Regeln, etwa nach Tagessätzen oder Schmerzperioden, zu erfolgen. Es ist vielmehr jede Verletzung in ihrer Gesamtauswirkung nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zu betrachten und auf dieser Basis eine Bemessung vorzunehmen (2 Ob 94/09a; RIS-Justiz RS0031415 [T7 und T8]; vgl Danzl in Danzl/Gutiérrez-Lobos/Müller, Schmerzengeld9 108 f). Der Kläger, der keine einzige Vergleichsentscheidung zitiert, bleibt aber jegliche Begründung dafür schuldig, dass der ausgemessene Betrag unterhalb der von der Rechtsprechung für vergleichbare Fälle zuerkannten Ersatzbeträge liegt (vgl 2 Ob 94/09a).
2. Zwischen den Parteien ist unstrittig, dass die Kosten der Angehörigenpflege nach dem tatsächlichen Pflegeaufwand und dem objektiven Wert der von dritter Seite erbrachten Leistungen zu ermitteln sind. Hiebei ist von den Kosten einer professionellen Pflegekraft auszugehen (2 Ob 49/98i; 2 Ob 176/05d; 7 Ob 63/10f; 8 Ob 15/11f; RIS-Justiz RS0022789 [T3, T5 und T6]). Diese wurden von den Vorinstanzen mit 30 EUR pro Stunde festgelegt. Die auf dem Salzburger Sozialhilfegesetz beruhende „Soziale Dienste-Verordnung“ idF LGBl Nr 18/2008, auf welche sich der Kläger beruft, weist unterschiedliche (auch geringere) Kostensätze für die Hauskrankenpflege auf, sodass die Bedeutung dieser Verordnung für die Ermittlung der Pflegekosten keiner näheren Erörterung bedarf. Auch auf die unterschiedliche Rechtsprechung erst- und zweitinstanzlicher Gerichte ist in diesem Zusammenhang nicht einzugehen. Durch die Zugrundelegung des erwähnten (ohnehin sehr hohen) Stundensatzes kann sich jedenfalls der Kläger nicht beschwert erachten.
3. Den erstinstanzlichen Feststellungen ist zu entnehmen, dass die zum Nachweis der Reparaturkosten für die Armbanduhr vorgelegten Belege die Kosten für ein „periodisches“, also in regelmäßigen Zeitabständen fakultativ vorzunehmendes Service umfassen. Zu Recht hat das Berufungsgericht auf der Grundlage dieser Feststellung den (anteiligen) Zuspruch der Servicekosten wegen fehlender Unfallskausalität abgelehnt. Die Revisionsbehauptung des Klägers, es handle sich um ein „notwendiges“ Service, das mit der Reparatur notwendigerweise verbunden sei, weicht von der Tatsachengrundlage der Vorinstanzen ab und ist daher unbeachtlich. Soweit der Kläger in seinem Rechtsmittel davon ausgeht, dass die Reparatur bereits durchgeführt wurde, handelt es sich um eine unzulässige Neuerung (§ 504 Abs 2 ZPO).
III. Ergebnis und Kosten:
1. Aus den dargelegten Erwägungen ergeben sich insgesamt folgende berechtigte Ansprüche des Klägers:
Schmerzengeld 7.250 EUR (13.000 EUR x 75 % = 9.750 EUR - 2.500 EUR Teilzahlung); Pflegekosten 630 EUR (2.520 EUR x 75 % = 1.890 EUR - 1.260 EUR Teilzahlung); je 75 % abgetretener Lohnfortzahlungsschaden 8.672,24 EUR; Uhrenschaden 666,75 EUR; Kleiderkosten 336 EUR; pauschale Unkosten 75 EUR; in Summe somit 17.629,99 EUR.
Die Urteile der Vorinstanzen waren daher in teilweiser Stattgebung der Revision wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.
2. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 1 und 2 erster und zweiter Fall iVm § 50 ZPO.
Die Vorinstanzen haben sowohl das Schmerzengeld als auch die Pflegekosten unter Anwendung des § 273 ZPO mit Beträgen festgesetzt, denen ein Anteil von 52 % bzw 86 % des jeweiligen ungekürzten Begehrens entspricht. In Ansehung dieser Forderungen gelangt daher § 43 Abs 2 zweiter Fall ZPO zur Anwendung, weil die Überklagung noch nicht als erkennbare und offenbare Überforderung außerhalb jeder vernünftigen Überlegung qualifiziert werden muss (2 Ob 155/05s mwN). Es sind demnach die Kosten des Verfahrens erster Instanz auf Basis der fiktiven Streitwerte in den einzelnen Verfahrensabschnitten zu berechnen, wobei der Kläger im ersten Abschnitt mit 63 %, im zweiten Abschnitt mit 69 % und im dritten Abschnitt mit 70 % obsiegte. Bei der Kostenberechnung war auf die berechtigten Einwendungen Bedacht zu nehmen, welche die beklagten Parteien gemäß § 54 Abs 1a ZPO gegen das Kostenverzeichnis des Klägers erhoben. Demnach waren für den vorbereiteten Schriftsatz vom 28. 5. 2009 keine Kosten zuzuerkennen, weil er nicht zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig war. Es wurde weder begründet, warum die darin enthaltenen Lichtbildvorlagen, Beweisanträge, ergänzenden Tatsachenbehauptungen und die Einschränkung des Klagebegehrens nicht schon mit dem bereits zuvor eingebrachten Schriftsatz vorgenommen werden konnten, noch geht dies aus dem Inhalt des Schriftsatzes selbst hervor. Die Äußerungen vom 15. 9. 2009 und vom 22. 10. 2009 sind nur nach TP 2 zu honorieren (vgl Obermaier, Kostenhandbuch² Rz 682).
Im Rechtsmittelverfahren zweiter und dritter Instanz ist der Kläger jeweils mit 45 % seines Rechtsmittelinteresses durchgedrungen, sodass ihm der entsprechende Anteil an der Pauschalgebühr zusteht, im Übrigen aber noch mit Kostenaufhebung vorgegangen werden kann.
Das geringfügige Unterliegen (in erster und zweiter Instanz) bzw Obsiegen (in dritter Instanz) hinsichtlich des Ausspruchs über die Haftungsbeschränkung fällt bei der Ermittlung des Kostenersatzanspruchs nicht ins Gewicht (§ 43 Abs 2 erster Fall ZPO).
Schlagworte
Gruppe: Verkehrsrecht,VerkehrsopfergesetzTextnummer
E97998European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0020OB00063.11W.0714.000Im RIS seit
24.08.2011Zuletzt aktualisiert am
05.08.2013