Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Manfred Engelmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*****, vertreten durch Dr. Hermann Kienast, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert-Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung und Versehrtenrente, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Oktober 2010, GZ 8 Rs 64/10h-26, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 22. Juni 2010, GZ 32 Cgs 336/09i-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 371,52 EUR (darin 61,92 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die Klägerin erlitt am 19. 6. 2009 um etwa 6:05 Uhr morgens auf der (Heim-)Fahrt von ihrem Arbeitsplatz zum Wohnort einen Verkehrsunfall. Sie kam mit ihrem PKW von der Fahrbahn ab, schlitterte den Straßengraben entlang, prallte gegen einen Wasserdurchlass und zog sich schwere Verletzungen zu. Zum Unfallszeitpunkt wies sie eine Blutalkoholkonzentration zwischen 1,82 und 1,92 Promille auf.
Die Kollisionsgeschwindigkeit betrug 50 km/h und stellt aus fahrtechnischer Sicht eine untypisch eher geringe Geschwindigkeit dar, die sich dadurch erklären lässt, dass die Klägerin eingeschlafen ist. Am 17. 6. 2009 arbeitete die Klägerin von Mittag bis ca 20:00/21:00 Uhr. Am 18. 6. 2009 stand sie um 7:30/8:00 Uhr auf und begann um 16:00 Uhr wieder im Lokal zu arbeiten. Gegen 5:15 Uhr am Morgen sperrte sie das Lokal zu und unterhielt sich danach noch mit einem Bekannten, bevor sie um ca 6:00 Uhr in ihr Fahrzeug stieg und sich auf den Heimweg machte. Sie fährt nach der Arbeit immer denselben Weg und benötigt hiefür etwa 10 Minuten. Nach zwei bis drei Minuten Fahrzeit kam es zum Unfall.
Ein Einschlafen ohne stärkere Ermüdung wird erst ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,00 Promille beobachtet, da ab dieser Höhe eine narkotische Wirkung des Alkohols auftritt. Bei einer Blutalkoholkonzentration darunter ist zur schlafanstoßenden Wirkung ein weiteres Ereignis notwendig. Eine Alkoholisierung kann somit ein Einschlafen alleine nicht erklären, ohne dass weitere Umstände gegeben waren.
Da die Klägerin vor dem Verkehrsunfall dreizehn Stunden gearbeitet hat und ab 7:30/8:00 Uhr [Anm: rund 22 Stunden] nicht mehr geschlafen hatte, kann daraus eine Übermüdung abgeleitet werden. Die Übermüdung war somit ein deutlicher Mitfaktor für das Zustandekommen des Verkehrsunfalls. Weitere äußere oder innere Einflüsse zum Unfall konnten bei der Klägerin nicht erhoben werden. Die Alkoholisierung alleine hätte nicht zum Einschlafen geführt. Als Ursache für das Einschlafen ist zwischen der Alkoholbeeinträchtigung und der Übermüdung eine annähernd gleichwertige Gewichtung anzunehmen.
Mit dem bekämpften Bescheid lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls vom 19. 6. 2009 als Arbeitsunfall ab und sprach aus, dass ein Anspruch auf Leistungen gemäß § 173 ASVG nicht bestehe. Zur Begründung wurde ausgeführt, das Feststellungsverfahren habe ergeben, dass der Unfall in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung der Klägerin als Kellnerin im Gasthaus W***** gestanden habe; erhebliche Ursache für den Unfall sei die durch die Alkoholisierung ausgelöste Verkehrsuntüchtigkeit der Klägerin gewesen.
Das Erstgericht sprach aus, dass die im Einzelnen festgehaltenen Gesundheitsstörungen der Klägerin Folgen des Arbeitsunfalls vom 19. 6. 2009 seien; das auf Gewährung einer Versehrtenrente gerichtete Begehren (= Hauptbegehren: RIS-Justiz RS0084069 [T8]; 10 ObS 105/02t, SSV-NF 17/52 mwN; 10 ObS 134/08s, SSV-NF 22/79) wies es - unbekämpft - ab.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei gegen die teilweise Klagsstattgebung nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Die bei der Klägerin bestehende Übermüdung nach einer 13-stündigen Arbeitszeit sei jedenfalls auf ihre berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Diese stelle eine betriebsbedingte wesentliche Ursache auch im rechtlichen Sinn dar, zu der die Alkoholisierung als gleich zu gewichtende Teilursache noch dazu komme. Daher teile das Berufungsgericht die Auffassung des Erstgerichts, dass der ursächliche Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit noch nicht gelöst gewesen sei, als die Klägerin sich von ihrer Arbeitsstätte auf den Heimweg begeben habe.
Die Revision sei zulässig, weil in den bisherigen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs im Zusammenhang mit schwerer Alkoholisierung der ursächliche Zusammenhang nur dann nicht als gelöst gesehen worden sei, wenn das Zusammentreffen zwischen Alkoholgenuss und Unfall „rein zufällig“ gewesen sei und der dem Alkohol innewohnende Gefahrenbereich für den eingetretenen Schaden „nicht ursächlich sein konnte (vgl 10 ObS 52/90; 10 ObS 60/05d)“.
Rechtliche Beurteilung
Die gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts erhobene Revision der Beklagten ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts (§ 508a Abs 1 ZPO) nicht zulässig.
Die Revisionswerberin verweist (nur noch) auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach ein Kausalzusammenhang zur versicherten Tätigkeit dann fehle, wenn der Unfall durch eine selbstgeschaffene Gefahr herbeigeführt werde, nämlich dann, wenn der Unfall auf einem völlig unvernünftigen und unsinnigen Verhalten des Versicherten beruhe und eine solche besondere Gefährdung entstanden sei, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen sei.
Hiezu wurde erwogen:
1. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl RIS-Justiz RS0084617) des Obersten Gerichtshofs - insbesondere im Zusammenhang mit Unfällen alkoholisierter Kraftfahrer auf dem Weg von der Arbeitsstätte nach Hause - ist ein Anspruch auf eine Leistung aus der Unfallversicherung (nur) dann zu verneinen, wenn die Alkoholisierung die rechtlich erhebliche Ursache für den Eintritt des Versicherungsfalls war.
2. Eine durch Alkoholkonsum herbeigeführte Verkehrsuntüchtigkeit wird dann als rechtlich wesentliche Ursache eines Arbeitsunfalls angesehen, wenn Einflüsse der betrieblichen Tätigkeit bei der Verursachung des Unfalls soweit zurücktreten, dass diese auch als wesentliche Mitursache nicht in Frage kommen (10 ObS 60/05d mwN).
3. Dies entspricht auch der in der deutschen Lehre und Rechtsprechung herrschenden Rechtsansicht (Krasney in Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, Gesetzliche Unfallversicherung [SGB VII] - Kommentar, 172. Lfg. März 2008, § 8 SGB VII Rn 345,180/6 mwN). Dort schließt die (absolute und relative) Fahruntüchtigkeit den Schutz der Unfallversicherung ebenfalls nur dann aus, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, dass sie als die rechtlich allein wesentliche Bedingung und damit die alleinige Ursache des Unfalls anzusehen ist (Krasney aaO und § 8 SGB VII Rn 361, 180/14 mwN).
4. Im vorliegenden Fall ist nach den eingangs (gekürzt) wiedergegebenen Feststellungen davon auszugehen, dass der Unfall durch das Einschlafen der Klägerin im Zuge der Heimfahrt mit ihrem PKW verursacht wurde, wobei die Alkoholisierung und die Übermüdung durch die lange Arbeitstätigkeit gleichwertige Ursachen für das Einschlafen der Klägerin waren. Daher kann aufgrund der bindenden Feststellungen der Vorinstanzen nicht davon ausgegangen werden, dass die Alkoholisierung als allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen sei.
5. Ein Unfall, der auf dem Heimweg (auch) infolge beruflicher Übermüdung eintritt, ist nämlich (jedenfalls) unfallversicherungsrechtlich geschützt, weil man vom Arbeitnehmer nicht verlangen kann, dass er sich erst entsprechend ausruht, bevor er den Weg nach Hause antritt (vgl Tomandl in Tomandl [Hrsg], SV-System 13. Erg-Lfg 311). Auch von dem in der Revision allein geltend gemachten Fehlen des Kausalzusammenhangs zur versicherten Tätigkeit, weil die Vorgangsweise der Klägerin insgesamt „völlig unvernünftig und unsinnig“ gewesen sei, kann somit keine Rede sein.
5.1. Der Versicherungsschutz ist vielmehr bei wesentlich allein betrieblichen Zwecken dienenden Tätigkeiten selbst dann zu bejahen, wenn der Versicherte - wie hier - besonders grob fahrlässig gehandelt und damit die Gefahr selbst geschaffen hat. Wenn der Versicherte neben betrieblichen auch private Interessen verfolgt, kann der Versicherungsschutz nur ausgeschlossen sein, wenn die erhöhte Gefahr aus betriebsfremden Motiven herbeigeführt worden ist, also dem privaten Bereich zuzurechnen ist, und dadurch die zunächst noch vorhandenen betriebsbedingten Umstände soweit zurückgedrängt sind, dass sie keine wesentliche Bedingung mehr für den Unfall bilden (Fellinger in FS Bauer/Maier/Petrag, Der Begriff der selbst geschaffenen Gefahr im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung 355 ff [361]). Dies ist hier nach den Feststellungen nicht der Fall.
6. Die Beurteilung der Vorinstanzen liegt daher im Rahmen der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wobei auch die Erbringung des Anscheinsbeweises eine Tatsachenfrage darstellt, die im Revisionsverfahren nicht mehr überprüft werden kann.
6.1. Da - entgegen der Zulassungsbegründung des Berufungsgerichts - bereits Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur den hier maßgebenden Rechtsfragen vorliegt, und der Unfallversicherungsschutz letztlich von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt, wird insgesamt keine erhebliche Rechtsfrage aufgeworfen. Mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision daher zurückzuweisen. Die Zurückweisung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Die Revisionsbeantwortung stellt sich als zweckentsprechende Rechtsverteidigungsmaßnahme dar, weil die Klägerin darin inhaltlich auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen hat (vgl 10 ObS 66/09t mwN).
Schlagworte
12 Sozialrechtssachen,Textnummer
E98114European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:010OBS00002.11H.0721.000Im RIS seit
06.09.2011Zuletzt aktualisiert am
03.06.2013