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90/01 Straßenverkehrsordnung;Norm
StVO 1960 §29b Abs4;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Riedinger, Dr. Holeschofsky, Dr. Beck und Dr. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Sellner, über die Beschwerde des RL in M, vertreten durch Dr. Walter Kainz, Rechtsanwalt in Wien IV, Gusshausstraße 23, gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 19. August 1996, Zl. I/7-St-L-968, betreffend Ausweis gemäß § 29b StVO, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Niederösterreich hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 19. August 1996 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 24. August 1995 auf Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b Abs. 4 StVO (in der anzuwendenden Fassung vor der 20. StVO-Novelle, sohin in der Fassung der 18. StVO-Novelle) abgewiesen.
In der Begründung wurde auf das Gutachten des der belangten Behörde beigegebenen Amtssachverständigen für Medizin (vom 12. Juli 1996) verwiesen, welches (soweit wesentlich) wie folgt lautet:
"Bei Herrn L. liegt keine Gehbehinderung vor. Für die beschriebenen zeitweiligen und witterungsabhängigen Schmerzen in beiden Kniescheiben gibt es kein wirkliches Substrat. Die Behinderung eines längeren Gehens bezieht sich auf die nach § 29b StVO unerhebliche Tatsache der internistisch abgeklärten Behinderung des Atem- und Kreislaufsystems (Lungenblähung = Emphysem) und kann daher nach der derzeitigen Rechtslage keine Berücksichtigung finden. Die Einwendungen ... sind somit hinfällig, weil eine erhebliche Gehbehinderung (z.B. mangelnde Muskulatur der Beine, mangelnde Koordination des Bewegungsablaufs, Durchblutungsstörungen, Ödeme, Gelenksapparatschäden o.ä.m.) mit Sicherheit nicht vorliegen."
Auf Grund des schlüssigen Gutachtens des medizinischen Amtssachverständigen - so die belangte Behörde weiter -, des klaren Wortlautes des § 29b Abs. 4 StVO sowie der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes habe die Behörde nur Personen, die dauernd stark gehbehindert seien, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen. Die Personen, die nach dieser Gesetzesstelle einen Anspruch auf Ausfolgung eines Ausweises hätten, müssten sohin nach dem diesbezüglich zu keinem Zweifel Anlass gebenden Wortlaut dieser Gesetzesstelle im Gehen (stark) behindert sein. Für andere Behinderungen, die keine Gehbehinderung darstellten, scheide demnach schon auf Grund der Wortinterpretation die Ausfolgung eines Ausweises nach dieser Gesetzesstelle aus.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Dieser hat erwogen:
Gemäß § 29b Abs. 4 erster Satz StVO (in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung der 18. StVO-Novelle) hat die Behörde Personen, die dauernd stark gehbehindert sind, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen.
Wie sich aus dem Verwaltungsakt ergibt, hatte die belangte Behörde bei der von ihr in der Begründung des angefochtenen Bescheides bezogenen "Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes" offenbar insbesondere auch das hg. Erkenntnis vom 29. November 1989, Zl. 88/03/0210, im Auge.
In diesem Erkenntnis hat der Verwaltungsgerichtshof dargelegt, die (damalige) Beschwerdeführerin behaupte nicht, dass sie durch ihr Leiden (infolge eines chronischen Darmleidens imperativer Stuhldrang, wobei sie ein privates Kraftfahrzeug zu benützen gezwungen sei, um jederzeit die Toilette aufsuchen zu können) im Gehen behindert sei. Zutreffend gehe die (damalige) Beschwerdeführerin demnach auch davon aus, dass ihr Sachverhalt vom Wortlaut des § 29b StVO nicht erfasst sei. Nach dem klaren Wortlaut des § 29b Abs. 4 StVO habe die Behörde nur Personen, die dauernd stark gehbehindert seien, auf deren Ansuchen einen Ausweis über diesen Umstand auszufolgen. Die Personen, die nach dieser Gesetzesstelle einen Anspruch auf Ausfolgung eines Ausweises hätten, müssten sohin nach dem diesbezüglich zu keinem Zweifel Anlass gebenden Wortlaut dieser Gesetzesstelle im Gehen (stark) behindert sein. Für andere Behinderungen, die keine Gehbehinderung darstellten, scheide demnach schon auf Grund der Wortinterpretation die Ausfolgung eines Ausweises nach dieser Gesetzesstelle aus, möge dies von der Beschwerdeführerin auch als unbefriedigend erachtet werden. Der Wortlaut der Gesetzesstelle stehe nicht nur einer analogen Anwendungen des § 29b Abs. 4 StVO auf andere, keine Gehbehinderung darstellende Behinderungen, also einer Schließung der Gesetzeslücke durch Analogie, wie die Beschwerdeführerin meine, entgegen, sondern schließe es auch aus, nach dem Sinn und Zweck der Regelung zu forschen, der sich mit dem Wortlaut nicht mehr vereinbaren lasse.
Auf dieses Erkenntnis vermochte sich die belangte Behörde jedoch zur Stützung des angefochtenen Bescheides nicht zu berufen, hat doch der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren schon in seinem Antrag vom 24. August 1995, aber auch in der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid darauf verwiesen, er sei auf Grund der bei ihm vorliegenden Gesundheitsschädigung (Lungenemphysem) nicht in der Lage, Wegstrecken von mehr als 300 m zurückzulegen, woraus sich seine "dauernde starke Gehbehinderung" ergebe. Der medizinische Amtssachverständige hat dazu lediglich ausgeführt, die Behinderung eines längeren Gehens beim Beschwerdeführer beziehe sich auf die nach § 29b StVO "unerhebliche Tatsache" der internistisch abgeklärten Behinderung des Atem- und Kreislaufsystems (Lungenblähung = Emphysem) und könne daher "nach der derzeitigen Rechtslage" keine Berücksichtigung finden.
Entgegen der offenbaren Ansicht der belangten Behörde ergibt sich allerdings aus dem zitierten hg. Erkenntnis vom 29. November 1989, Zl. 88/03/0210, nur, dass Personen, die nach § 29b Abs. 4 StVO einen Anspruch auf Ausfolgung eines Ausweises haben, "im Gehen (stark) behindert sein" müssen und für andere Behinderungen, die keine "Gehbehinderung" (sohin, dass das Zurücklegen eines Weges wegen seiner Länge erschwert ist - vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Oktober 1993, Zl. 93/02/0134) darstellen, kein Raum sei.
Das Vorbringen des Beschwerdeführers über sein Leiden betraf allerdings keine "andere" Behinderung - wie etwa Blindheit, vgl. dazu das zitierte hg. Erkenntnis vom 13. Oktober 1993, Zl. 93/02/0134 -, sondern sehr wohl eine "Gehbehinderung", deren Ursache aber nicht unmittelbar im Bewegungsapparat (der Beine), sondern im Atem- und Kreislaufsystem (Lungenblähung = Emphysem) liegen soll. Dass aber nicht nur eine unmittelbare Einschränkung des Bewegungsapparates Gegenstand der Regelung des § 29b Abs. 4 StVO ist, hat der Gerichtshof schon im Erkenntnis vom 29. Mai 1998, Zl. 96/02/0314, insoweit zum Ausdruck gebracht, als das vom (damaligen) Beschwerdeführer ins Treffen geführte "Herzleiden" nach Ansicht des Gerichtshofes zu einer positiven Beurteilung im Sinne des § 29b Abs. 4 StVO führen hätte können.
Da es sohin die belangte Behörde in Verkennung der Rechtslage unterlassen hat, über die dargestellte, behauptete Ursache der Gehbehinderung des Beschwerdeführers ein entsprechendes medizinisches Gutachten einzuholen, erweist sich der angefochtene Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, was gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG zu seiner Aufhebung führt.
Die Kostenentscheidung gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 23. Februar 2001
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2001:1996020455.X00Im RIS seit
12.06.2001