TE OGH 2011/7/27 9ObA13/11v

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Veröffentlicht am 27.07.2011
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Johannes Pflug und AR Angelika Neuhauser als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei R***** M*****, vertreten durch Dr. Josef Pfurtscheller, Dr. Markus Orgler und Mag. Norbert Huber, Rechtsanwälte in Innsbruck, wider die beklagte Partei ÖBB-Personenverkehr AG, Wagramerstraße 17-19, 1220 Wien, vertreten durch Kunz Schima Wallentin Rechtsanwälte OG in Wien, wegen Leistung (786,78 EUR sA) und Feststellung (10.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits-  und Sozialrechtssachen vom 9. November 2010, GZ 15 Ra 110/10d-18, mit dem über die Berufungen der Streitteile das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 2. Juni 2010, GZ 47 Cga 175/09g-11, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Das Urteil des Berufungsgerichts wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 648,82 EUR (darin 108,14 EUR USt) bestimmen Kosten des Berufungsverfahrens sowie die mit 645,32 EUR (darin 107,55 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger ist seit 1. 12. 1981 in einem seit 1. 4. 1986 unkündbaren Dienstverhältnis bei den „Österreichischen Bundesbahnen“ beschäftigt. Seit 1. 1. 2005 ist die Beklagte sein Dienstgeber. Auf sein Dienstverhältnis sind der „Kollektivvertrag über die arbeitsrechtliche Stellung von Arbeitnehmern der Österreichischen Bundesbahnen im Rechtsnachfolgeunternehmen“ und die für Dienstverträge im ÖBB-Konzern gültigen Vertragsschablonen, darunter auch die „Allgemeinen Vertragsbedingungen für Dienstverträge bei den Österreichischen Bundesbahnen“ (idF: AVB) anzuwenden. Sie verpflichtet ÖBB-Angestellte unter anderem, ihren Dienst ohne Beeinträchtigung durch Alkohol oder andere Suchtgifte anzutreten und ohne derartige Beeinträchtigung zu versehen (§ 9 Abs 4 AVB).

Im Betrieb der (Rechtsvorgänger der) Beklagten wurde im „Nachrichtenblatt der Österreichischen Bundesbahnen“ vom August 1996 eine als „Dienstanweisung (89)“ überschriebene „Disziplinarordnung 1996“ (idF: Disziplinarordnung 1996) veröffentlicht, die nach ihrem § 1 für Bedienstete der „Österreichischen Bundesbahnen, auf deren Dienstverhältnisse die AVB für Dienstverträge bei den Österreichischen Bundesbahnen Anwendung finden,“ galt und die auszugsweise lautete:

Disziplinarstrafen

§ 8 (1) Disziplinarstrafen sind:

a) die Geldbuße bis zur Höhe von drei Monatsentgelten (ohne Kinderzulage)

b) …

Disziplinarkammer

§ 9 (1) Je eine Disziplinarkammer wird am Sitze jedes Personalservice-Centers errichtet.

(2) …

(3) Die Disziplinarkammer besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern, wobei ein Beisitzer vom Unternehmen und einer von der Personalvertretung bestellt wird. Die Mitglieder der Disziplinarkammer sind in dieser Eigenschaft weisungsunabhängig. …“

Infolge der Umstrukturierung der Österreichischen Bundesbahnen durch das Bundesbahnstrukturgesetz 2003, BGBl I Nr 138/2003, wurde zwischen den Österreichischen Bundesbahnen und dem Zentralbetriebsrat der ÖBB die „Betriebsvereinbarung Nr 14 (Disziplinarordnung 2004)“ - idF: Disziplinarordnung 2004 - abgeschlossen, die auszugsweise lautet:

„Die gemäß Art 7 Abs 4 des Bundesbahn-Strukturgesetzes 2003, BGBl I Nr 138/2003, mit Wirksamkeit vom 1. 1. 2004 als Betriebsvereinbarung geltende Disziplinarordnung 1996 wird abgeändert und lautet:

Disziplinarordnung 2004

Abschnitt I

Allgemeine Bestimmungen

Anwendungsbereich

§ 1 (1) Die Bestimmungen dieser Disziplinarordnung gelten für Bedienstete der Österreichischen Bundesbahnen und mit Rechtswirksamkeit der im Bundesbahn-Strukturgesetz, BGBl I Nr 138/2003, angeordneten Spaltungs- und Umwandlungsvorgänge für Bedienstete der ÖBB-Holding AG und der im dritten Teil des Bundesbahn-Strukturgesetzes, BGBl 1 Nr 138/2003, angeführten Gesellschaften sowie deren Rechtsnachfolger. …

Maßnahmen bei Dienstpflichtverletzungen

§ 2 (1) Bei schuldhafter Verletzung von Dienstpflichten sind Maßnahmen zu setzen, die geeignet sind, den Arbeitnehmer von der Begehung weiterer Dienstpflichtverletzungen abzuhalten und die ordnungsgemäße, sichere und wirtschaftliche Geschäftsabwicklung im Unternehmen zu gewährleisten. Solche Maßnahmen sind:

a) - c) …

d) die Verhängung von Disziplinarstrafen.

Disziplinarstrafen

§ 8 (1) Disziplinarstrafen sind:

a) die Geldbuße bis zur Höhe von drei Monatsentgelten (ohne Kinderzulage) ...

Disziplinarkommission

§ 9 (1) Je eine Disziplinarkommission wird bei der ÖBB-Dienstleistungs GmbH in Wien, Linz, Innsbruck und Villach errichtet.

(2) …

(3) Die Disziplinarkommission besteht aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern, wobei ein Beisitzer von der Gesellschaft, deren Arbeitnehmer der Beschuldigte ist, und einer vom für den Beschuldigten zuständigen Betriebsrat bestellt wird. Die Mitglieder der Disziplinarkommission sind in dieser Eigenschaft weisungsunabhängig.“

Der Kläger konsumierte am 21. 8. 2007 während eines einstündigen planmäßigen Aufenthalts eines Zugs zu seinem Mittagessen ein Bier.

Am 25. 9. 2007 fand bei der Disziplinarkommission bei der ÖBB-Dienstleistungs GmbH in Innsbruck eine mündliche Disziplinarverhandlung gegen den Kläger wegen des Verstoßes ua gegen die Bestimmung des § 9 Abs 4 AVB statt. Der Disziplinarkommission gehörte als Beisitzer der Personalvertretung ein Mitglied des Betriebsrats des Klägers (Personenverkehr Bordservice Tirol/Vorarlberg) an.

Mit Erkenntnis dieser Disziplinarkommission desselben Tages wurde der Kläger wegen des Verstoßes gegen das für Betriebsbedienstete bestehende Alkoholverbot für schuldig erkannt und dafür mit der Disziplinarstrafe der Geldbuße im Ausmaß von 30 % eines Monatsgehalts (exklusive Kinderzulage) bestraft, wobei die Geldbuße zwischen 1. 11. 2007 und 1. 4. 2008 in sechs gleichbleibenden Raten von 131,13 EUR, in Summe daher 786,78 EUR, vom Entgeltanspruch des Klägers einbehalten wurde.

Der Kläger begehrte mit seiner am 22. 12. 2009 beim Erstgericht eingebrachten Klage von der Beklagten die Rückzahlung dieses Betrags sowie die Feststellung, dass das Disziplinarerkenntnis rechtsunwirksam sei. Dazu brachte er zusammengefasst vor, gemäß § 102 ArbVG bedürfe die Abführung eines Disziplinarverfahrens einer Betriebsvereinbarung. Die Betriebsvereinbarung Nr 14 (Disziplinarordnung 2004) habe insoweit keine Gültigkeit erlangt, als dem Zentralbetriebsrat die Kompetenz zu deren Abschluss gefehlt habe. Er sei in funktioneller Nachfolge des seinerzeitigen Zentralausschlusses nur befugt gewesen, die Disziplinarordnung 1996 abzuändern, daher auch außer Kraft zu setzen, sodass lediglich die Anordnung, dass die Disziplinarordnung 1996 „gleichzeitig außer Kraft trete“, rechtswirksam sei. Diese Anordnung beziehe sich nicht auf das Inkrafttreten der Disziplinarordnung 2004, sondern auf die im Bundesbahnstrukturgesetz angeordneten „Spaltungs- und Umwandlungsvorgänge“. Dass zum ident definierten Zeitpunkt auch das Inkrafttreten der Disziplinarordnung 2004 stattfinden sollte, sei daher Koinzidenz, nicht aber Bedingung für das Außerkrafttreten der Disziplinarordnung 1996. Ungeachtet dessen habe sich das Disziplinarerkenntnis auch nicht auf die Disziplinarordnung 1996 gestützt. Ob die Disziplinarordnungen stellenweise inhaltsähnlich sein mögen, spiele keine Rolle. Die „Disziplinarbehörde“ habe im Wesentlichen wie eine staatliche Behörde zu agieren. Ein solches Verfahren dürfe nicht von einer nicht nach der richtigen Rechtsgrundlage konstituierten Behörde auf deklariert falscher Rechtsgrundlage geführt werden. Eine nachträgliche Umdeutung komme selbst dann nicht in Frage, wenn auf einer nicht existenten Rechtsgrundlage agiert worden sei, selbst wenn eine zureichende existiert hätte. Sein Feststellungsinteresse sei darin begründet, dass Disziplinarbeanstandungen Eingang in den Personalakt fänden und in diversen rechtlichen Zusammenhängen etwa zur Beurteilung von Bewerbungen sowie in allfälligen späteren Disziplinarverfahren als Vorbeanstandungen Berücksichtigung fänden und die Beklagte die Gültigkeit des Disziplinarerkenntnisses in Anspruch nehme.

Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und wandte zusammengefasst ein, dass, wenn schon nach Ansicht des Klägers die Disziplinarordnung 2004 nicht gelte, auch die darin normierte Aufhebung der Disziplinarordnung 1996 nicht rechtswirksam sei, womit die Disziplinarordnung 1996 weiterhin gültig sei. Da sich diese mit Ausnahme der Bestimmungen über Entlassungen inhaltlich nicht von der Disziplinarordnung 2004 unterscheide, bilde die Disziplinarordnung 1996 bei der Annahme, dass der Disziplinarordnung 2004 keine Rechtswirksamkeit zukomme, die rechtliche Grundlage für das gegen den Kläger geführte Disziplinarverfahren. Das Disziplinarerkenntnis sei daher auch bei Annahme der Rechtsunwirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 rechtswirksam. Ein Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung sei nicht erkennbar, sei doch die Disziplinarstrafe mit Ablauf des 30. 9. 2009 getilgt worden, die im Personalakt des Klägers hinterlegte Gleichschrift des Erkenntnisses entfernt und der entsprechende Eintrag in der EDV gelöscht worden. Deshalb sowie aufgrund der durch § 41 der Disziplinarordnung hintangehaltenen Auskunftserteilungen bzw Bezugnahme auf die Disziplinarstrafen könne die Strafe keine Wirkungen mehr entfalten. Sollte während der Tilgungsfrist eine Beförderung wegen der verhängten Disziplinarstrafe nicht durchgeführt worden sein, sei ein Feststellungsbegehren in Anbetracht seiner Subsidiarität ohnedies zur Durchsetzung des strittigen Anspruchs unzulässig.

Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 786,78 EUR sA und wies das Feststellungsbegehren wie auch das Kostenersatzbegehren des Klägers ab. Es stellte noch folgenden Sachverhalt fest:

Das Disziplinarerkenntnis befand sich bis zum Ablauf der Tilgungsfrist am 30. 9. 2009 im Personalakt des Klägers und wurde danach zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt daraus entfernt. Die Disziplinarerkenntnisse werden auch im Personalinformationssystem gespeichert und auch dort nach Ablauf der Tilgungsfrist automatisch ausgeschieden. Getilgte Disziplinarerkenntnisse werden bei Beförderungen etc nicht mehr berücksichtigt, weil diese Erkenntnisse im Personalakt des betreffenden Mitarbeiters nicht mehr aufscheinen. Im Auszug „Personaldaten“ betreffend den Kläger vom 12. 1. 2010 scheint auch keine entsprechende Vormerkung auf.

In rechtlicher Hinsicht stützte das Erstgericht den Zuspruch des Leistungsbegehrens zusammengefasst darauf, dass dem Zentralbetriebsrat die Befugnis, der Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung zuzustimmen, weder vom Betriebsrat noch vom Betriebsratsausschuss übertragen worden sei, die in der Disziplinarordnung 2004 normierte Disziplinarkommission daher keine mit Zustimmung des Betriebsrats eingerichtete Stelle sei und sich die Rechtswirksamkeit des Disziplinarerkenntnisses vom 25. 9. 2007 nicht auf die Disziplinarordnung 2004 stützen könne. Damit sei zu prüfen, ob die Disziplinarordnung 1996 anzuwenden sei, wobei zu beachten sei, dass das Inkrafttreten der Disziplinarordnung 2004 condicio sine qua non für das Außerkrafttreten der Disziplinarordnung 1996 gewesen sei. Allerdings gehe es nicht an, das Disziplinarerkenntnis vorerst auf die Disziplinarordnung 2004 und erst in dem Fall, in dem diese rechtsunwirksam sei, auf die Disziplinarordnung 1996 zu stützen, selbst wenn die Disziplinarkommission nach der Disziplinarordnung 1996 zusammengesetzt gewesen sei. Die Disziplinarstrafe sei damit irrtümlich und rechtsgrundlos erfolgt, sodass sie dem Kläger zurückzuzahlen sei. Das Feststellungsbegehren sei nicht berechtigt, weil die verhängte Disziplinarstrafe getilgt sei, im Personalakt nicht mehr aufscheine und für Beförderungen etc keine Rolle mehr spiele. Dem Kläger fehle es daher an einem berechtigten Feststellungsinteresse.

Das Berufungsgericht gab der gegen die Abweisung des Feststellungsbegehrens gerichteten Berufung des Klägers keine Folge, jedoch der Berufung der gegen den Zuspruch des Leistungsbegehrens gerichteten Berufung der Beklagten Folge und änderte das Ersturteil dahin ab, dass das Klagebegehren insgesamt abgewiesen wurde. Es vertrat zusammengefasst die Ansicht, gemäß § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG bedürfe die Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung des Betriebsrats. Die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall sei gemäß § 102 ArbVG nur dann zulässig, wenn sie in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung (§ 96 Abs 1 Z 1 ArbVG) vorgesehen sei. Der Disziplinarordnung 2004 komme nicht die Qualität einer Betriebsvereinbarung zu: Sie sei zwischen Betriebsinhaber und Betriebsrat entgegen § 29 ArbVG nicht schriftlich zustande gekommen. Den Betriebsräten der ÖBB könne auch kein schlüssiges Einverständnis mit dem Abschluss der Disziplinarordnung 2004 durch den Zentralbetriebsrat unterstellt werden, wenn bei einer Informationsveranstaltung, von der nicht einmal behauptet werde, dass auch die für die Vertretung des Klägers zuständigen Betriebsräte daran teilgenommen haben, der Abschluss der Disziplinarordnung 2004 durch den Zentralbetriebsrat nicht mehr thematisiert wurde. Eine stillschweigende Zustimmung des Betriebsrats zur Übertragung der entsprechenden Abschlusskompetenz an den Zentralbetriebsrat könne daher nicht angenommen werden. Würden Betriebsvereinbarungen durch ein insofern kompetenzloses Organ abgeschlossen, seien sie aber als „freie Betriebsvereinbarungen“ zu qualifizieren, die entweder durch schlüssige Vertragsänderung oder durch eine ergänzende Vertragsauslegung zur einzelvertraglichen Ergänzung des Dienstvertrags führen könnten. Beim irrtümlichen Vertrauen auf die Gültigkeit der Betriebsvereinbarung als solcher könne ihr Inhalt im Wege der objektiven Vertragsergänzung nach § 914 ABGB in den Einzelarbeitsvertrag eingehen, wenn die Annahme berechtigt sei, die Einzelvertragsparteien hätten bei Kenntnis der Ungültigkeit einer Abmachung als Betriebsvereinbarung deren Inhalt trotzdem einzelvertraglich vereinbart. Das Verhalten des Klägers, dass er an der Disziplinarverhandlung teilnahm, die verurteilende Entscheidung zur Kenntnis nahm und sich (vorerst) nicht gegen die Bezahlung der Geldstrafe aussprach, könne nur dahin gewürdigt werden, dass er mit einer grundsätzlich auf ihn anzuwendenden Disziplinarordnung ebenso wie mit dem Inhalt der Disziplinarordnung 2004 einverstanden gewesen und die Disziplinarordnung 2004 damit Inhalt seines Arbeitsvertrags geworden sei. Sie habe für ihn auch nicht nachteilig sein müssen, sondern infolge des Umstands, dass ihm damit ein genau geregeltes Instrument für die Regelung und Abhandlung disziplinarrechtlicher Fragen zur Verfügung stand, auch zu seinem Vorteil ausschlagen können. Davon könne nur durch eine einvernehmliche Änderung des Arbeitsvertrags abgegangen werden. Der entsprechende Wunsch des Klägers manifestiere sich (spätestens) mit der Klagsführung, womit die Beklagte allerdings nicht einverstanden sei. Die Disziplinarordnung 2004 sei daher Teil der einzelvertraglichen Vereinbarungen zwischen den Streitteilen gewesen, sodass sich die Beklagte zu Recht darauf gestützt habe. Der Kläger habe gar nicht behauptet, die ihm vorgeworfene Dienstpflichtverletzung nicht begangen zu haben, sodass die disziplinarrechtliche Verurteilung insgesamt nicht zu beanstanden sei. Die Revision sei zulässig, weil zur Frage, ob Disziplinarordnungen, die nur als „freie Betriebsvereinbarungen“ anzusehen seien, auch Teil des Einzelarbeitsvertrags werden könnten, keine gefestigte Rechtsprechung vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision des Klägers ist zulässig und auch berechtigt.

1. Gemäß § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG bedarf die Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung der Zustimmung des Betriebsrats.

Gemäß § 102 Satz 2 ArbVG ist die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen im Einzelfall nur zulässig, wenn sie in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung (§ 96 Abs 1 Z 1 ArbVG) vorgesehen ist; sie bedarf, sofern darüber nicht eine mit Zustimmung des Betriebsrats eingerichtete Stelle entscheidet, der Zustimmung des Betriebsrats.

§ 102 ArbVG stellt eine zwingende Vorschrift dar, die das Mitwirkungsrecht des Betriebsrats bei der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme sichern soll (RIS-Justiz RS0051161). Gibt es keine Disziplinarordnung in einem Kollektivvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung, ist eine konkrete Disziplinarmaßnahme in der vorhandenen Disziplinarordnung nicht enthalten, wird das vorgesehene Disziplinarverfahren nicht oder nicht ordnungsgemäß abgeführt oder wird im Disziplinarverfahren keine Zustimmung zur Verhängung erteilt, so darf der Arbeitgeber eine Disziplinarmaßnahme nicht durchführen. Verhängt der Arbeitgeber trotz Fehlens der formalen Voraussetzungen eine Disziplinarmaßnahme, so ist diese rechtsunwirksam (Reisner in Neumayr/Reisner ZellKomm, § 102 ArbVG Rz 24, 25).

Es wurde bereits ausgesprochen, dass in Betrieben, in denen Betriebsvereinbarungen geschlossen werden können, eine einzelvertragliche Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung ebenso ausscheidet wie ein Unterlaufen der Mitbestimmung der Belegschaft dadurch, dass eine der Sache nach generelle Regelung im Wege von konkreten Einzelmaßnahmen getroffen wird (RIS-Justiz RS0051170, 9 ObA 192/94 mwN, 9 ObA 46/02h).

2. Die Disziplinarordnung 2004 wurde dienstnehmerseitig nicht vom Betriebsrat, sondern vom Zentralbetriebsrat abgeschlossen. Ungeachtet dessen, dass die Beklagte auch in ihrer Revisionsbeantwortung nicht behauptet, dass der Zentralbetriebsrat dafür zuständig gewesen wäre, ergibt sich eine solche Kompetenz des Zentralbetriebsrats auch nicht aus den Überleitungsbestimmungen des Art 7 Bundesbahn-Strukturgesetzes 2003, BGBl I Nr 138/2003.

Vor der genannten Umstrukturierung der ÖBB lagen zwar Abschluss, Änderung und Aufhebung von Betriebsvereinbarungen sowie zustimmungspflichtige Maßnahmen nach § 96 ArbVG gemäß § 70 Abs 2 Z 2 und 3 Bahn-Betriebsverfassungsgesetz (BBVG), BGBl I Nr 66/1997, in der Zuständigkeit des Zentralausschusses. Allerdings wurde mit Art 7 Abs 1 Bundesbahn-Strukturgesetz 2003, BGBl I Nr 138/2003, das Bahn-Betriebsverfassungsgesetz mit Ablauf des 31. Dezember 2003 außer Kraft gesetzt. Die Überleitungsbestimmungen des Art 7 Abs 2 Z 1 und Abs 4 leg cit sahen dazu vor:

„(2) Die am 31. 12. 2003 bestehenden, nach den Bestimmungen des BBVG errichteten Organe der Arbeitnehmerschaft bleiben bis zur Neuwahl der Organe der Arbeitnehmerschaft nach den Bestimmungen des Arbeitsverfassungsgesetzes, längstens aber bis zum 31. 12. 2005 bestehen. Hinsichtlich der ihnen zukommenden Rechte und Pflichten gelten die Bestimmungen des Arbeitsverfassungsgesetzes, BGBl Nr 22/1974 (ArbVG). Die am 31. 12. 2003 bestehenden nach den Bestimmungen des BBVG errichteten Vertrauenspersonenausschüsse übernehmen die Aufgaben von Betriebsräten iSd § 40 Abs 3 Z 3 ArbVG und die Zentralausschüsse die Aufgaben von Zentralbetriebsräten iSd § 40 Abs 4 Z 2 ArbVG. ...“

„(4) 1. Am 31. Dezember 2003 aufrechte Vereinbarungen mit nach dem BBVG errichteten Personalvertretungsorganen oder mit vor Inkrafttreten des BBVG bestehenden betrieblichen Interessenvertretungseinrichtungen über Rechte und Pflichten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis gelten ab 1. Jänner 2004 als Betriebsvereinbarungen gemäß § 29 ArbVG, soweit sie (ua) auf Regelungstatbestände des ArbVG gestützt werden können. ...“

Aus diesen Überleitungsbestimmungen geht hervor, dass - ungeachtet der Rechtswirksamkeit der Umstrukturierungsmaßnahmen mit Ablauf des 31. 12. 2004 (§ 41 Bundesbahn-Strukturgesetz 2003) - mit Außerkrafttreten des BBVG zum 31. 12. 2003 und Inkrafttreten des Bundesbahn-Strukturgesetzes 2003 bis zur Neuwahl der Organe der Arbeitnehmerschaft vorerst die Vertrauenspersonenausschüsse die Aufgaben von Betriebsräten iSd § 40 Abs 3 Z 3 ArbVG übernehmen sollten, wozu aber auch der Abschluss von Betriebsvereinbarungen zur Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung (§ 96 Abs 1 Z 1 ArbVG) zählt. Ab diesem Zeitpunkt waren die Zentralausschüsse (und in der Folge die Zentralbetriebsräte) dafür nicht mehr zuständig.

3. Gemäß § 114 Abs 1 ArbVG können der Betriebsrat und der Betriebsausschuss dem Zentralbetriebsrat mit dessen Zustimmung die Ausübung ihrer Befugnisse für einzelne Fälle oder für bestimmte Angelegenheiten übertragen.

Dass eine solche Kompetenzübertragung nicht stattfand, gesteht die Beklagte in ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu, wenn sie ausführt, dass der Betriebsrat „Personenverkehr Bordservice Tirol/Vorarlberg“ als einziger Betriebsrat im Konzern der Beklagten die Zustimmung zu dieser Übertragung nicht erteilte. Zutreffend sind die Vorinstanzen daher von der Rechtsunwirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 ausgegangen.

4. Der Ansicht des Berufungsgerichts, dass die Disziplinarordnung 2004 danach als freie Betriebsvereinbarung qualifiziert werden könne, die aufgrund der Unterwerfung des Klägers unter diese Disziplinarordnung durch Teilnahme an der Disziplinarverhandlung und Bezahlung der Disziplinarstrafe Inhalt seines Arbeitsvertrags geworden sei, steht die genannte Rechtsprechung entgegen, dass in Betrieben, in denen Betriebsvereinbarungen geschlossen werden können, eine einzelvertragliche Einführung einer betrieblichen Disziplinarordnung ebenso ausscheidet wie ein Unterlaufen der Mitbestimmung der Belegschaft dadurch, dass eine der Sache nach generelle Regelung im Wege von konkreten Einzelmaßnahmen getroffen wird. Ungeachtet dessen könnte dem Kläger entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch nicht zugesonnen werden, dass er durch Teilnahme an der Disziplinarverhandlung und Bezahlung der Geldstrafen konkludent mit der Geltung der Disziplinarordnung 2004 für sein Arbeitsverhältnis einverstanden war, ist doch gemäß § 863 ABGB an schlüssige Willenserklärungen - wie das Berufungsgericht an anderer Stelle zutreffend ausführt (Berufungsurteil S 26) - ein strenger Maßstab anzulegen und darf für den Empfänger kein vernünftiger Grund für Zweifel an einem Rechtsfolgewillen des Erklärenden in eine bestimmte Richtung bestehen. Worin hier ein entsprechendes Interesse des Klägers gelegen wäre, der ohne Wirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 nach dieser nicht bestraft werden könnte, ist nicht ersichtlich.

Die Disziplinarordnung 2004 scheidet daher sowohl auf kollektiv- als auch auf einzelvertraglicher Basis als Grundlage für eine Bestrafung des Klägers aus.

5. Ob daneben die Dienstordnung 1996 weiterhin Gültigkeit hat, kann dahingestellt bleiben: Denn zutreffend hat bereits das Erstgericht darauf hingewiesen, dass sowohl die Zusammensetzung des Disziplinargremiums („Disziplinarkommission“) als auch die Verhängung der Geldbuße über den Kläger explizit auf die Disziplinarordnung 2004 gestützt wurde, im Nachhinein aufgrund der Unwirksamkeit der Disziplinarordnung 2004 nicht in ein Verfahren und in ein Disziplinarerkenntnis nach der Disziplinarordnung 1996 „umgedeutet“ werden kann. Mag dem Disziplinarverfahren und dem Erkenntnis auch kein öffentlich-rechtlicher Charakter zukommen, so ist dennoch nicht zu übersehen, dass die Verhängung und Vollstreckung des Disziplinarerkenntnisses Eingriffswirkung mit Sanktionscharakter für den Kläger bedeutet. Sowohl die Rechtssicherheit als auch die Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Begründung einer Verurteilung gebieten es aber, eine hier explizit auf „§ 8 Abs 1 lit a der Disziplinarordnung 2004“ gestützte Disziplinarstrafe nicht als Verurteilung nach der Disziplinarordnung 1996 anzusehen. Wenn sich die Beklagte für die Unschädlichkeit der Nennung der Disziplinarordnung 2004 auf den Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ beruft, so ist ihr entgegenzuhalten, dass sie bei Fällung des Disziplinarerkenntnisses gar nicht davon ausging, eine Verurteilung nach der Disziplinarordnung 1996 vorgenommen und diese lediglich irrig bezeichnet zu haben. Dies konnte auch der Kläger nicht so auffassen.

Nach all dem ist die Verurteilung des Klägers daher auf der Grundlage eines rechtsunwirksamen Disziplinarerkenntnisses erfolgt, sodass sein Leistungsbegehren gerechtfertigt ist.

6. Zum Feststellungsinteresse:

Der Oberste Gerichtshof hat in seinen Entscheidungen, in denen er grundsätzlich die Zulässigkeit der Feststellungsklage bejaht hat, bereits festgehalten, dass diese naturgemäß nur unter den sonstigen Voraussetzungen des § 228 ZPO eingebracht werden kann (vgl 9 ObA 184/92, ebenso 9 ObA 93/06a, 9 ObA 35/08z). Zu den allgemeinen Voraussetzungen, unter denen einer Feststellungsklage nach § 228 ZPO erhoben werden kann, gehört auch das rechtliche Interesse. Dieses wird dann allgemein anerkannt, wenn das begehrte Urteil zwischen den Streitteilen über einen allfälligen Leistungsanspruch hinaus geeignet ist, Grundlage für die weiteren Rechtsbeziehungen der Parteien untereinander zu sein (vgl RIS-Justiz RS0039202), also durch den möglichen Leistungsanspruch der Feststellungsanspruch nicht vollständig ausgeschöpft wird (Fasching in Fasching/Konecny3 § 228 Rz 108 mwN).

Wie bereits zu 9 ObA 35/08z ausgeführt wurde, ist zwar die Frage, ob mit dem - hier auf die Rückzahlung der Geldbuße gerichteten - Leistungsbegehren das Feststellungsbegehren schon „ausgeschöpft ist“, zwar noch nicht abschließend beantwortet, scheint es doch nicht ausgeschlossen, dass der Kläger auch ein darüber hinausgehendes rechtliches Interesse haben kann. Jedoch bedürfte es dazu eines weiteren Vorbringens, wobei die Behauptungs- und Beweislast für das rechtliche Interesse, wenn dies nicht offensichtlich oder erwiesen ist, bei der die Feststellung begehrenden Partei liegt (9 ObA 35/08z mwN). Dem Vorbringen des Klägers, dass Disziplinarbeanstandungen in den Personalakt Eingang fänden und in diversen dienstrechtlichen Zusammenhängen wie etwa bei der Beurteilung von Bewerbungen oder in allfälligen späteren Disziplinarverfahren Berücksichtigung fänden, steht entgegen, dass die Strafe bereits getilgt ist und weder im Personalakt des Klägers noch im Personalinformationssystem aufscheint, sodass rechtlich nicht mehr darauf Bezug genommen werden kann. Ein weiteres rechtliches Interesse  - und nur ein solches könnte ein Feststellungsbegehren rechtfertigen - wurde vom Kläger aber nicht unter Beweis gestellt.

Nach all dem war der Revision teilweise Folge zu geben und das Ersturteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 43 Abs 1, § 50 ZPO, wobei im Revisionsverfahren von einem Obsiegen der Beklagten von 84 % auszugehen war.

Schlagworte

Arbeitsrecht

Textnummer

E98167

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2011:009OBA00013.11V.0727.000

Im RIS seit

09.09.2011

Zuletzt aktualisiert am

18.02.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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