TE OGH 2011/8/29 4R453/11h

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Veröffentlicht am 29.08.2011
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Kopf

Das Oberlandesgericht Wien hat als Rekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Curd Steinhauer als Vorsitzenden sowie den Richter Mag. Thomas Rendl und die Richterin Mag. Martina Elhenicky in der Firmenbuchsache der „S*****“ ***** Gesellschaft m.b.H., ***** Wien, wegen Offenlegung des Jahresabschlusses zum 31.12.2006, über den Rekurs der Gesellschaft gegen den Beschluss des Handelsgerichtes Wien vom 28.6.2011, 74 Fr 8861/11v-6, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss so abgeändert, dass er zu lauten hat:

Das gegen die „S*****“ ***** Gesellschaft m.b.H. geführte Zwangsstrafverfahren wegen Offenlegung des Jahresabschlusses zum 31.12.2006 wird eingestellt.

Text

Begründung:

Im Firmenbuch des Handelsgerichtes Wien ist zu FN ***** die „S*****“ ***** Gesellschaft m.b.H. mit dem Sitz in Wien eingetragen. Geschäftsführerin ist seit 3.9.2003 E***** K*****. Stichtag für den Jahresabschluss ist der 31. Dezember.

Mit Zwangsstrafverfügungen vom 2.5.2011 verhängte das Handelsgericht Wien über die Gesellschaft (ON 1) und die Geschäftsführerin (ON 2) jeweils die gemäß § 283 Abs 2 UGB vorgesehene Zwangsstrafe von EUR 700,-- wegen nicht rechtzeitiger Vorlage des Jahresabschlusses zum 31.12.2006. Die nachfolgenden Jahresabschlüsse (2007 bis 2009) waren bereits eingereicht.

In ihren dagegen erhobenen Einsprüchen brachten die Gesellschaft und die Geschäftsführerin übereinstimmend vor, dass die Offenlegung des Jahresabschlusses zum 31.12.2006 am 24. Oktober 2007 auf dem Postweg an das Handelsgericht übersendet worden sei.

Während es den Einspruch der Geschäftsführerin (unangefochten) als verspätet zurückwies, verhängte das Handelsgericht Wien am 28.6.2011 mit dem angefochtenen Beschluss im ordentlichen Verfahren neuerlich eine Zwangsstrafe von EUR 700,-- über die Gesellschaft. In seiner Begründung legte es dar, dass die Behauptung, den Jahresabschluss bereits 2007 eingereicht zu haben, nicht den Tatsachen entspreche. Der offen zu legende Jahresabschluss 2006 sei „bis dato“ nicht im Firmenbuch eingelangt.

Tatsächlich wurde der ausständige Jahresabschluss wenige Tage nach Zustellung der Zwangsstrafverfügungen, nämlich am 9.5.2011, beim Handelsgericht Wien eingereicht (74 Fr 9483/11h).

Gegen den Strafbeschluss richtet sich der Rekurs der Gesellschaft mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, also auf Einstellung des Zwangsstrafverfahrens.

Der Rekurs ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

              1. Offenlegungspflicht

              Schon das Erstgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die gesetzlichen Vertreter von Kapitalgesellschaften (und gemäß § 283 Abs 7 UGB seit 1.1.2011 auch diese Gesellschaften selbst) den Jahresabschluss und Lagebericht sowie gegebenenfalls den Corporate Governance-Bericht spätestens neun Monate nach dem Bilanzstichtag mit dem Bestätigungsvermerk oder dem Vermerk über dessen Versagung oder Einschränkung beim Firmenbuchgericht des Sitzes der Gesellschaft einzureichen (offen zu legen) haben. Diese Offenlegungspflicht wurde in Umsetzung der gesellschaftsrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union geschaffen (1. Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 - „Publizitätsrichtlinie“; 4. Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. 7. 1978 – Bilanzrichtlinie), die ihrerseits auf Art 44 Abs 2 lit g EG-V beruhen. So verpflichtet Art 6 der Publizitätsrichtlinie die Mitgliedstaaten, geeignete Maßnahmen für den Fall anzudrohen, dass die in Art 2 Abs 1 lit f der Richtlinie vorgeschriebene Offenlegung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung unterbleibt.

              Die detaillierten Regelungen dieser Richtlinien lassen dem nationalen Gesetzgeber einen nur sehr geringen Umsetzungsspielraum; er hat dafür zu sorgen, dass die Einhaltung der Offenlegungsverpflichtungen durch wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen abgesichert werde. Die Gestaltung dieser Sanktionen überlassen die Richtlinien dem nationalen Gesetzgeber, sodass nur unverhältnismäßige und damit unsachliche Strafen auch nach innerstaatlichem Recht unzulässig sind (vgl. OGH 09.03.2000, 6 Ob 5/00d mwN).

              2. Durchsetzung der Offenlegungspflicht

Das Verfahren zur Durchsetzung der Offenlegungspflicht wurde mit Wirkung ab 1.3.2011 grundlegend reformiert. Bislang war stufenweise vorzugehen: als erster Schritt nach Ablauf der neunmonatigen Offenlegungsfrist war eine Nachfrist, verbunden mit einer Strafandrohung, zu setzen; erst nach fruchtlosem Ablauf der Nachfrist durfte die angedrohte Strafe verhängt werden. Gemäß § 283 Abs 1 UGB in seiner am 1.1.2011 in Kraft getretenen Fassung ist nun die Zwangsstrafe sofort nach Ablauf der Offenlegungsfrist zu verhängen. Dabei ist nach § 283 Abs 2 UGB so vorzugehen, dass ohne vorausgehendes Verfahren durch Strafverfügung eine Zwangsstrafe von EUR 700,- verhängt wird, wenn die Offenlegung nicht bis zum letzten Tag der Offenlegungsfrist erfolgt und auch nicht bis zum Tag vor Erlassung der Zwangsstrafverfügung bei Gericht eingelangt ist.

Von einer Zwangsstrafverfügung kann nur abgesehen werden, wenn der Geschäftsführer offenkundig durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis an der fristgerechten Offenlegung gehindert war. In diesem Fall kann – soweit bis dahin noch keine Offenlegung erfolgt ist – mit der Verhängung der Zwangsstrafverfügung bis zum Ablauf von vier Wochen nach Wegfall des Hindernisses, welches der Offenlegung entgegen stand, zugewartet werden.

              Gegen die Zwangsstrafverfügung können der Geschäftsführer und die Gesellschaft binnen 14 Tagen Einspruch erheben. Darin sind die Gründe für die Nichtbefolgung der Offenlegungspflicht anzuführen. Mit der rechtzeitigen Erhebung des begründeten Einspruchs tritt die Zwangsstrafverfügung außer Kraft. Über die Verhängung der Zwangsstrafe ist dann im ordentlichen Verfahren mit Beschluss zu entscheiden. Ist nicht mit Einstellung des Zwangsstrafverfahrens vorzugehen, so kann – ohne vorherige Androhung – wieder eine Zwangsstrafe von EUR 700,- bis EUR 3.600,- verhängt werden.

              3. Unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis               

              Welche Einspruchsgründe zur Einstellung des Zwangsstrafverfahrens nach Durchführung des ordentlichen Verfahrens führen können, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Es liegt aber nahe, dass es sich dabei – abgesehen von den hier nicht vorliegenden Fällen der ohnehin rechtzeitigen Offenlegung, des Nichtbestehens einer Offenlegungsverpflichtung oder der dauerhaften Unmöglichkeit der Offenlegung – ebenfalls nur um unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignisse im Sinn des § 283 Abs 2 UGB handeln kann, die hier zwar nicht offenkundig sein, aber jedenfalls die Organe an der fristgerechten Offenlegung gehindert haben müssen.

Zur Beantwortung der Frage, was unter einem „unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignis“ zu verstehen ist, kann auf die reichhaltige Lehre und Rechtsprechung zu § 146 ZPO (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) zurückgegriffen werden, wo der selbe Begriff verwendet wird. Auch die Gesetzesmaterialien (981 d.B. XXIV. GP, zu Art 34) verweisen darauf:

Unter Ereignis ist demnach in der Regel jedes Geschehen oder jede Tatsache zu verstehen (Deixler-Hübner in Fasching/Konecny² II/2 § 146 ZPO Rz 4). Unvorhergesehen ist es dann, wenn es die Partei tatsächlich nicht mit einberechnet hat und sie dessen Eintritt auch unter Bedachtnahme auf die ihr bzw. ihrem Vertreter persönlich zumutbare Aufmerksamkeit und Voraussicht nicht erwarten konnte (subjektiver Maßstab); die Partei muss aber alle ihr zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Prozesshandlung fristgerecht vornehmen zu können. Der Begriff „unvorhergesehen“ ist somit durch den Begriff „unverschuldet“ zu ergänzen (Deixler-Hübner aaO, Rz 6). Mangels einer dem § 146 Abs 1 letzter Satz ZPO vergleichbaren Bestimmung reicht im Zwangsstrafverfahren – wie bisher (RIS-Justiz RS0123571) - schon ein minderer Grad des Versehens (leichte Fahrlässigkeit) aus, um die Unvorhersehbarkeit zu beseitigen. Unabwendbar ist ein Ereignis dann, wenn sein Eintritt durch die Partei nicht verhindert werden konnte, auch wenn sie dessen Eintritt voraussah (objektives Kriterium; Deixler-Hübner aaO Rz 7).

              Das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis muss für die konkrete Versäumung auch kausal sein. Nur wenn die Versäumung ausschließlich auf dieses Ereignis zurückzuführen ist, kann dies einen tauglichen Einspruchsgrund darstellen. Die Gesellschaftsorgane sind daher verpflichtet, alles zu tun, um trotz des eingetretenen Ereignisses den Jahresabschluss rechtzeitig einzureichen. Es muss von ihnen erwartet werden, dass sie dabei alles unternehmen, was ihnen persönlich zugemutet werden kann, um die rechtzeitige Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten zu gewährleisten, wenn auch dabei der Bogen der Zumutbarkeit nicht überspannt werden darf (vgl. zum Wiedereinsetzungsverfahren Deixler-Hübner aaO, RZ 8 mwN; in diesem Sinne, wenn auch mit etwas anderer Begründung, schon die Rechtsprechung zur alten Fassung des § 283 UGB, vgl. wiederum RIS-Justiz RS0123571).

              4. (Keine) Rückwirkung

              Durch die Novellierung des § 283 UGB, insbesondere auch durch die Einfügung des Wortes „zeitgerechten“ vor „Befolgung“ (der Offenlegungspflicht), wurde der vom Gesetzgeber schon bisher beabsichtigte repressive Charakter der firmenbuchrechtlichen Zwangsstrafen (vgl. dazu die Ausführungen des Obersten Gerichtshofs in 6 Ob 282/08a und 6 Ob 252/09s) weiter betont. Es handelt sich nunmehr eindeutig um eine Strafe für das nicht zeitgerechte Einreichen des Jahresabschlusses. Damit stellt sich auch die Frage der Anwendbarkeit der für das Strafverfahren geltenden Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind für die Einordnung eines Verfahrens als „strafrechtlich“ im Sinne (insbesondere) des Art 6 EMRK drei Kriterien maßgeblich: die Qualifikation des Delikts als strafrechtlich gemäß der nationalen Rechtsordnung, der Charakter des Delikts und die Schwere der aufzuerlegenden Strafe (RIS-Justiz RS0120945). Dabei lässt der EGMR schon eines dieser Kriterien genügen, um die Anwendbarkeit des Art 6 EMRK zu begründen. So wurde etwa entschieden, dass die Verhängung eines Steuerzuschlags wegen Unregelmäßigkeiten in der Buchführung durch das Finanzamt Strafcharakter hat, auch wenn ein solcher Zuschlag bloß geringfügig (im Anlassfall: rund EUR 300,--) und nach nationalem Recht dem Steuerrecht zuzuordnen ist; entscheidend sei, dass die Verhängung auf einer allgemeinen Rechtsvorschrift beruht, die auf alle Steuerzahler gleiche Anwendung findet, und dass der Zuschlag nicht als finanzielle Entschädigung für entstandenen Schaden, sondern als Bestrafung mit abschreckendem Charakter gedacht ist (EGMR 23.11.2006, Bsw 73053/01).

Diese Überlegungen treffen auf das österreichische Zwangsstrafverfahren umso mehr zu, als der Strafcharakter hier vom Gesetzgeber sogar ausdrücklich gewollt und in den Materialien (981 dB XXIV. GP, zu Art. 34) ausdrücklich angeführt ist, und auch die angedrohten Strafen von bis zu EUR 3.600,-- (bei großen Kapitalgesellschaften gemäß § 283 Abs 5 UGB sogar bis zu EUR 21.600,--) pro Organ bzw. Gesellschaft nicht mehr als bloß geringfügig anzusehen sind. Nach Ansicht des Rekursgerichtes sind die strafrechtlichen Bestimmungen der EMRK daher auf das Zwangsstrafverfahren grundsätzlich anwendbar.

              Zwangsstrafen im Firmenbuchverfahren gehören – so wie die in der zitierten Entscheidung angesprochenen Steuerzuschläge - nicht dem Kernbereich des Strafrechts an, sodass strafrechtliche Garantien nicht zur vollen Anwendung gelangen müssen (vgl. neuerlich EGMR 23.11.2006, Bsw 73053/01). So kann im Zwangsstrafverfahren auf die in Art 6 EMRK vorgesehene öffentliche mündliche Verhandlung und Urteilsverkündung verzichtet werden. Sehr wohl anwendbar ist aus den genannten Gründen aber das Rückwirkungsverbot des Art 7 Abs 1 EMRK.

              Ein Verstoß gegen die Offenlegungspflicht kann somit nur dann zur Verhängung einer Zwangsstrafe führen, wenn er zur Zeit seiner Begehung strafbar war. Bis 31.12.2010 war es Voraussetzung der Strafbarkeit, dass das säumige Organ die ihm unter Strafandrohung gesetzte Nachfrist ungenutzt verstreichen lassen hatte (RIS-Justiz RS0113939); ohne vorhergehende Strafandrohung war ein Verstoß gegen die Offenlegungspflicht also nicht strafbar. Durch die am 1.1.2011 in Kraft getretene Novelle ist nun die Strafandrohung als Voraussetzung der Strafbarkeit weggefallen. Gemäß Satz 2 der Übergangsbestimmung des § 906 Abs 23 UGB ist die neue Rechtslage auf Verstöße gegen die in § 283 Abs 1 UGB genannten Pflichten anzuwenden, die nach dem 1.1.2011 gesetzt werden oder fortdauern. Daraus könnte geschlossen werden, dass auch alle vor dem 1.1.2011 begonnenen Verstöße nach neuer Rechtslage zu ahnden sind, wenn sie nicht spätestens am 1.1.2011 beendet wurden; damit würden rückwirkend auch solche Verstöße strafbar, die es bis dahin mangels Strafandrohung noch nicht waren.

Was die Strafverhängung betrifft, ist diese Problematik weitgehend dadurch entschärft, dass Zwangsstrafverfügungen nach neuer Rechtslage ohnehin nur dann verhängt werden dürfen, wenn die Offenlegung nicht bis zum 28. Februar 2011 nachgeholt wurde und auch nicht bis zum Tag vor Erlassung der Zwangsstrafverfügung bei Gericht eingelangt ist. Damit wird im Ergebnis nur eine nach In-Kraft-Treten der Novelle andauernde Säumnis sanktioniert. Auch die im vorliegenden Fall verhängten Strafen konnten nur deshalb verhängt werden, weil die Rekurswerber mit der Offenlegung der beiden ausständigen Jahresabschlüsse seit dem 28.02.2011 (weiterhin) säumig sind.

Relevant bleibt das Rückwirkungsverbot jedoch im Hinblick auf das Auftreten von unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignissen, die die fristgerechte Offenlegung hindern, und auf die Zurechnung von Hilfspersonen: Nach der Rechtsprechung des Rekursgerichtes zur alten Rechtslage war keine Zwangsstrafe zu verhängen, wenn während der vom Gericht gesetzten Nachfrist Hindernisse auftraten, die die Einreichung des Jahresabschlusses innerhalb der Nachfrist unmöglich machten. Die neue Rechtslage kann daher nicht so ausgelegt werden, dass nur dann von der Verhängung einer Zwangsstrafe abzusehen wäre, wenn das unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignis die Einreichung des Jahresabschlusses zum Fälligkeitstermin (neun Monate nach dem Stichtag) gehindert hätte. Dies würde nämlich eine mit dem Rückwirkungsverbot nicht vereinbare Schlechterstellung jener Fälle, in denen bis zum 31.12.2010 keine Nachfrist gesetzt wurde, gegenüber den Fällen bedeuten, in denen eine Nachfrist gesetzt wurde und in dieser Frist (somit lange nach dem gesetzlichen Einreichtermin) ein beachtlicher Hinderungsgrund aufgetreten ist.

Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die im Budgetbegleitgesetz 2011 „verpackte“ Novelle sehr kurzfristig in Kraft gesetzt wurde; die Beschlussfassung im Nationalrat erfolgte erst am 20.12.2010, die Kundmachung im Bundesgesetzblatt am 30.12.2010. Bis dahin konnten sich die Organe von Kapitalgesellschaften darauf verlassen, dass sie wegen der Nichtvorlage fälliger Jahresabschlüsse nicht ohne vorherige Strafandrohung unter Nachfristsetzung bestraft werden würden. Es gebietet daher das aus der EMRK abzuleitende Verhältnismäßigkeitsgebot, den Organen eine angemessene Übergangsfrist zur „Umstellung“ einzuräumen. Dies hat der Gesetzgeber mit der zweimonatigen Frist (bis 28.2.2011) des § 906 Abs 23 UGB getan.

              Die Übergangsbestimmung des § 906 Abs 23 UGB ist daher so auszulegen, dass auch unvorhergesehene oder unabwendbare Ereignisse, die zwar nach Ablauf der neunmonatigen Offenlegungsfrist, jedoch vor dem 1.3.2011 (also bis 28.1.2011) eingetreten sind, der Verhängung einer Zwangsstrafe entgegen stehen.

              5. Irrtum und „Lückenjahr“

              Auch ein unverschuldeter Irrtum kann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellen (RIS-Justiz RS0036742). Ein Sonderfall des Irrtums sind die immer wieder – so auch im vorliegenden Fall - auftretenden „Lückenjahre“:

              § 223 Abs 2 UGB schreibt die zwingende Angabe von Vorjahreszahlen im Jahresabschluss vor. Die Vorschrift entspricht Art 4 Abs 4 der 4. Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25.07.1978 (Bilanzrichtlinie) und § 265 Abs 2 dHGB und gibt einen Grundsatz ordentlicher Buchführung wieder (Reiner/Haußler/MünchKomm2 § 265 HGB Rz 7). Die Norm soll eine Erleichterung der Analyse der Jahresabschlüsse verschiedener Jahre bewirken. Wegen zahlreicher Schätzgrößen ist ein absolut richtiger Jahresabschluss nicht aufstellbar, der richtigen Anzeige der gegenüber zum Vorjahr eingetretenen Situationsänderung kommt daher besondere Bedeutung zu (Hofians/Straube/aaO § 223 Rz 9). Damit wird die Vergleichbarkeit der Jahresabschlüsse im Zeitablauf gefördert (Wiedmann/Ebenroth ua/aaO § 265 Rz 8). Demnach wäre eine Offenlegung lückenhaft, indem auf das Jahr 2007 sogleich die Einreichung für das Jahr 2009 folgte, weil dies den oben dargelegten Grundsätzen zur Bedeutung der Vorjahreszahlen (vgl hiezu auch OGH 19.03.2010, 6 Ob 262/09m) widerspräche. Fehlt ein Jahresabschluss, dürfte folglich der Nachfolgende nicht eingetragen werden.

              Werden daher nachfolgende Jahresabschlüsse ordnungsgemäß offengelegt und vom Firmenbuchgericht ohne Einmahnung des fehlenden Abschlusses aus dem Vorjahr – somit eigentlich rechtswidrig – eingetragen, und werden die vertretungsbefugten Organe auch in den folgenden Jahren niemals aufgefordert, die fehlende Bilanz nachzureichen, so haben diese keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass der fehlende Jahresabschluss eingereicht wurde. Ein solcher, als unverschuldet zu qualifizierender Irrtum kann nur durch das Firmenbuchgericht aufgeklärt werden, das ihn durch die unzulässige Eintragung der folgenden Abschlüsse verursacht hat. Ohne Aufforderung des Gerichts – die nach der bis 31.12.2010 geltenden Rechtslage auch unbedingte Voraussetzung für die Verhängung einer Zwangsstrafe gewesen wäre – haben die Organe auch keine Veranlassung, durch eine (per Internet grundsätzlich jederzeit mögliche, aber kostenpflichtige) Nachschau im elektronischen Firmenbuch zu überprüfen, ob der fehlende Jahresabschluss tatsächlich eingereicht worden ist.

              Mit Inkrafttreten der Neufassung des § 283 Abs 1 UGB am 1.1.2011 fiel zwar das Erfordernis einer Aufforderung weg, doch müssen die Organe mangels irgendwelcher Anhaltspunkte auch weiterhin nicht damit rechnen, dass ein Jahresabschluss zu einem weit zurück liegenden Stichtag noch ausständig sein könnte. Vielmehr dürfen alle Beteiligten weiterhin davon ausgehen, dass sämtliche fälligen Jahresabschlüsse eingereicht sind. Dieser als unvorhersehbares Ereignis zu qualifizierende Irrtum fällt erst mit Zustellung der Zwangsstrafverfügungen weg. Haben sie dann den ausständigen Jahresabschluss innerhalb der aus § 283 Abs 2 UGB abzuleitenden vierwöchigen Nachfrist nachgereicht, so ist ihnen keine Säumnis vorzuwerfen und daher keine Zwangsstrafe zu verhängen.

              Dass ein solcher Irrtum erst ab Eintragung des nachfolgenden Jahresabschlusses bestanden haben kann, also eigentlich nicht die rechtzeitige Einreichung des Jahresabschlusses 9 Monate nach dem Stichtag hindern konnte, spielt keine Rolle, weil es im Hinblick auf das Rückwirkungsverbot (siehe oben 4.) nur darauf ankommt, dass das Hindernis die rechtzeitige Einreichung vor dem 1.3.2011 verhindert.

              Eine Bestrafung wegen eines „Lückenjahrs“ kommt daher nur infrage, wenn entweder den vorlegepflichtigen Organen bzw. deren Hilfspersonen stets bewusst war, dass ein Jahresabschluss fehlt, und somit kein Irrtum vorgelegen ist, oder wenn trotz Aufklärung des Irrtums der fehlende Jahresabschluss nicht in angemessener, maximal 4-wöchiger Frist nachgereicht wird.

6. Vorliegender Fall:

Wie schon aus den Einsprüchen hervorgeht und nun auch im Rekurs betont wird, waren die Gesellschaft und ihre Geschäftsführerin der Ansicht, den ausständigen Jahresabschluss zum 31.12.2006 am 24.Oktober 2007 per Post an das Handelsgericht Wien übermittelt zu haben. Obwohl die Sendung damals offenbar auf dem Postweg verloren gegangen sein muss, hat es das Erstgericht unterlassen, die Einreichung des fehlenden Jahresabschlusses zu urgieren, und den Jahresabschluss des Folgejahres 2007 unbeanstandet eingetragen. Unter diesen Umständen kann weder der Gesellschaft noch ihrer Geschäftsführerin deren guter Glaube an eine erfolgreiche Einreichung des Jahresabschlusses abgesprochen bzw im Sinne eines strafwürdigen Verschuldens vorgeworfen werden. Auch nach altem Recht hätte mangels vorangegangener Strafandrohung nach Eintragung des Jahresabschlusses zum 31.12.2007 kein Anlass mehr zu einer Überprüfung bestanden.

Der Irrtum über die erfolgte Einreichung des Jahresabschlusses zum 31.12.2006 ist daher als unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis zu qualifizieren, das die Gesellschaft an der Einreichung dieses Jahresabschlusses rechtzeitig vor Ablauf der Bestrafungsvakanz am 28.2.2011 hinderte. Erst mit Zustellung der Zwangsstrafverfügungen Anfang Mai 2011 ist dieser Irrtum aufgeklärt worden und damit das Hindernis weggefallen. Bereits wenige Tage später hat die Gesellschaft den ausständigen Jahresabschluss nachgereicht. Sie ist daher nicht strafbar, weshalb in Stattgebung des Rekurses das gegen sie eingeleitete Zwangsstrafverfahren einzustellen war.

Abschließend bleibt anzumerken, dass bei verfassungs- und richtlinienkonformer Interpretation im Sinne der obigen Ausführungen keine Bedenken gegen die Vereinbarkeit des § 283 UGB in der Fassung des BBG 2011 mit grundrechtlichen und europarechtlichen Normen bestehen. Das Rekursgericht sieht sich daher nicht veranlasst, ein Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union einzuleiten oder abzuwarten.

Ein Ausspruch über die Zulässigkeit des Revisionsrekurses konnte entfallen, weil durch die stattgebende Rekursentscheidung niemand beschwert ist.

Textnummer

EW0000517

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2011:00400R00453.11H.0829.000

Im RIS seit

26.09.2011

Zuletzt aktualisiert am

26.09.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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