Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Grohmann, Mag. Wurzer und Mag. Dr. Wurdinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K*****, vertreten durch Dr. Farhad Paya, Rechtsanwalt in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 11.768,59 EUR sA und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 27. April 2011, GZ 6 R 19/11b-13, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 14. Februar 2011, GZ 22 Cg 164/10g-9, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 815,70 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung zu ersetzen.
Text
Begründung:
In einem Verfahren vor dem Bezirksgericht Klagenfurt (Anlassverfahren) war eine Kollision zwischen einer Radfahrerin, die das Verkehrszeichen „Halt“ missachtet hatte, und einem bei der Amtshaftungsklägerin haftpflichtversicherten PKW zu beurteilen. Die verletzte Radfahrerin machte Schadenersatzansprüche gegen den PKW-Lenker und den Haftpflichtversicherer geltend. Ergebnis dieses Verfahrens war eine Verschuldensteilung von 3:1 zu Lasten der klagenden Radfahrerin. Dem PKW-Lenker wurde eine Reaktionsverspätung vorgeworfen, was die Klägerin im Amtshaftungsverfahren als unvertretbare Rechtsauffassung ansieht.
Im Amtshaftungsverfahren gingen die Vorinstanzen von einem vertretbaren Ergebnis des Vorprozesses aus und wiesen die Klage ab. Das Berufungsgericht ließ nachträglich die Revision zu.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision der Klägerin ist entgegen dem nach § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.
Fragen der Verschuldensteilung bei Verkehrsunfällen sind immer von den Umständen des Einzelfalls abhängig, was den entscheidenden Organen einen Ermessensspielraum einräumt (vgl RIS-Justiz RS0087606 [T1 bis T3]). Eine unrichtige, aber vertretbare Rechtsauffassung begründet keinen Amtshaftungsanspruch (RIS-Justiz RS0049955 [T1]). Gerade dort, wo dem entscheidenden Organ ein Ermessensspielraum eingeräumt ist, liegt Unvertretbarkeit seiner Entscheidung nicht schon dann vor, wenn eine neue Prüfung des Ermessensspielraums zu einer anderen Entscheidung führte (RIS-Justiz RS0049955 [T4]).
Richtig ist zwar, dass in der höchstgerichtlichen Judikatur geringfügige Reaktionsverspätungen gegenüber einer Verletzung des Vorrangs als bei der Verschuldensteilung vernachlässigbar qualifiziert wurden (2 Ob 15/80 = ZVR 1981/13; 8 Ob 68/80 = ZVR 1981/29; 2 Ob 33/82 = ZVR 1983/135; RIS-Justiz RS0058796 [T1]; vgl RS0027073). Reaktionszeit ist die Zeitspanne zwischen dem Erfassen der Verkehrslage und der Ausführung der entsprechenden Maßnahmen durch die Betätigung der in Betracht kommenden Einrichtungen (RIS-Justiz RS0074853 [T1]; RS0074859 [T1]). Allerdings ist die Reaktionszeit entgegen den Berechnungen der Revisionswerberin zu einer kausalen Reaktionsverspätung von zwei Zehntelsekunden nicht zwingend mit einer Sekunde anzusetzen: Es gibt nämlich kein allgemein gültiges Maß für die Dauer der Reaktionszeit (RIS-Justiz RS0074868). Bei einer Verpflichtung des Kraftfahrers zu besonders vorsichtigem und bremsbereitem Fahren reduziert sich die zuzubilligende Reaktionszeit auf bis zu 0,6 Sekunden (vgl RIS-Justiz RS0058376; vgl RS0074901).
Im Anlassfall eine entsprechende Verpflichtung des PKW-Lenkers anzunehmen, ist nicht unvertretbar, war er doch seinerseits gegenüber dem Verkehr auf der S***** Straße, in die er einbiegen wollte, wartepflichtig und bei Annäherung an die Kreuzung mit dieser Straße bzw dem davor liegenden durch einen Grünstreifen abgetrennten Geh- und Radweg aufgrund des Verkehrszeichens „Vorrang geben“ zur Vorsicht verpflichtet. Mit ihren Argumenten, die unterlassene Reaktion des PKW-Lenkers wäre gar nicht kausal für die Kollision gewesen, ignoriert die Revisionswerberin die Feststellungen zur Vermeidbarkeit des Unfalls bei prompter Reaktion.
Die Auffassung des Berufungsgerichts, die im Anlassverfahren vorgenommene Verschuldensteilung sei bei der gänzlich unterbliebenen Reaktion des PKW-Lenkers vertretbar, ist aus diesen Erwägungen (noch) kein vom Obersten Gerichtshof zu korrigierendes Ergebnis.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 41 und § 50 Abs 1 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.
Schlagworte
Gruppe: AmtshaftungsrechtTextnummer
E98366European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0010OB00154.11W.0901.000Im RIS seit
30.09.2011Zuletzt aktualisiert am
04.10.2011