TE AsylGH Erkenntnis 2011/05/23 E2 413189-1/2010

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Veröffentlicht am 23.05.2011
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Spruch

E2 413189-1/2010/13E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. HUBER-HUBER als Vorsitzenden und die Richterin Dr. FAHRNER als Beisitzerin über die Beschwerde des XXXX, StA. Türkei, vertreten durch RA Mag. Klaudius MAY, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.04.2010, Zl. 0900.779-BAS, nach mündlicher Beschwerdeverhandlung am 20.04.2011 zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gem. § 3, 8, 10 AsylG 2005 BGBl I 100/2005 idF BGBl I 135/2009 als unbegründet abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) reiste am 17.01.2009 illegal in das Bundesgebiet von Österreich ein und stellte am 20.01.2009 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. In der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 21.01.2009 gab er zur Begründung des Antrages an, er habe im Heimatland den Beruf eines Hirten ausgeübt und sich deshalb viel in den Bergen aufgehalten. Aus diesem Grund habe er auch die Schlupflöcher der "Separatisten" gekannt und die dortigen Behörden hätten deswegen Druck auf ihn ausgeübt, weshalb er geflüchtet sei.

 

Der BF wurde sowohl am 12.02.2009 als auch am 10.03.2010 beim Bundesasylamt asylbehördlich einvernommen und er ergänzte seine bisherigen Ausführungen im Wesentlichen damit, dass er Kontakt mit den Guerilla gehabt habe, weil er sich mit seinen Kühen und Ziegen in den Bergen aufgehalten habe. Am 16.07.2008 sei es zu einer Auseinandersetzung gekommen, wobei ein Guerilla umgekommen wäre. Die Gendarmerie von XXXX habe dann dafür gesorgt, dass die Dorfbewohner das Dorf nicht verlassen und vermehrt Kontrollen durchgeführt. Der BF habe aus diesem Anlass am 21.07.2008 zur Gendarmeriedienststelle von XXXX kommen müssen, wo zwei Zivilpolizisten auf ihn gewartet und sich mit ihm unterhalten hätten. Im Gespräch hätten sie von ihm verlangt, dass er mit dem Staat zusammenarbeitet und sie hätten ihm Geld, ein Auto und ein Haus angeboten. Auf diesen Vorschlag sei der BF nicht eingegangen und hätte abgelehnt. Daraufhin hätte man ihm zwei Ohrfeigen versetzt und versucht, ihn unter Druck zu setzten. Er sei weggeschickt worden und man habe ihm aufgetragen, sich so früh wie möglich zu entscheiden. Anschließend sei er noch zweimal zur Dienststelle geladen bzw. abgeholt worden. Zum ersten Mal hätten Sie ihn zwei Tage und beim zweiten Mal vier Tage festgehalten.

 

Der BF habe im Herkunftsstaat weder Probleme wegen seiner Religion gehabt noch sei er politisch tätig gewesen. Hinsichtlich seiner Volksgruppenzugehörigkeit führte er jedoch an, dass Kurden weder die eigene Sprache sprechen noch sich als Kurden bezeichnen und nicht kurdisches Fernsehen verwenden dürften.

 

Im Falle der Rückkehr befürchte er, dass man ihm Unterstützung der Guerilla vorwerfen würde, zumal er auf den Vorschlag der Polizisten nicht eingegangen war. Er befürchte auch, dass eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verhängt werden würde.

 

Bei der zweiten asylbehördlichen Befragung am 10.03.2010 wurde der BF zunächst zu seinen Lebens- und Wohnverhältnissen in Österreich befragt. Dabei gab er an, dass zwei seiner Brüder bereits zu einem früheren Zeitpunkt nach Österreich gekommen wären und einen Asylantrag gestellt hätten. Es handelt sich dabei um S. P. (ho GZ: E2 231.704) sowie um R. P. (ho GZ: E2 237.627). Außer seinen Brüdern habe er in Österreich keine ihm besonders nahe stehenden Personen. Seine Brüder würden ihn geringfügig finanziell unterstützen, es ginge ihnen jedoch finanziell auch nicht sehr gut. In der Türkei habe er von der elterlichen Landwirtschaft gelebt.

 

Neuerlich zu den Flüchtgründen befragt, bestätigte der BF die bisher gemachten Angaben und bekräftigte, andere Fluchtgründe würde es nicht geben. Im Juli 2008 hätte es eine Auseinandersetzung mit Guerilla gegeben und nach dieser Auseinandersetzung sei die Gendarmerie in das Dorf gekommen und habe das Dorf für fünf Tage "umzingelt". Der BF sei festgenommen und zur örtlichen Gendarmeriedienststelle gebracht worden. In der Folge wiederholte der BF seine Erstangaben ergänzte jedoch, dass er am 14.08.(2008) von der Gendarmerie abgeholt und in den Keller gesperrt worden sei. Dort sei er noch einmal zur Zusammenarbeit aufgefordert worden und nach dem er abgelehnt hatte, habe man ihn geschlagen, ihm nichts zu Essen gegeben und zwei Tage im Keller festgehalten. Diesen Druck habe der BF dann nicht mehr Stand gehalten und letztlich eingewilligt, mit den Behörden zusammen zu arbeiten. Am 09.10.(2008) sei er dann neuerlich in diesen Kellerraum gesperrt worden und dabei habe man ihn noch heftiger geschlagen. Erst als er eingewilligte, mit zu machen, habe man ihn freigelassen. Trotzdem habe man ihm drei Wochen Zeit gegeben, um eine klare Antwort zu geben. In diesen drei Wochen sei er dann geflüchtet. Zur Untermauerung seiner Angaben legte der BF eine Bestätigung vor, aus der sich ergibt, dass er von der Gendarmerie gesucht werde. Außerdem legte er einen Internetauszug vor, in dem von Auseinandersetzungen mit Guerilla berichtet wird.

 

Das Bundesasylamt hat dem BF umfangreiche Länderfeststellungen über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei zur Kenntnis gebracht. Der BF ließ durch seinen ausgewiesenen Vertreter eine ausführliche Stellungnahme dazu einbringen. Mit der Stellungnahme wurden unter Verweis auf Berichte von Amnesty International und zahlreiche Internetadressen von innerhalb und außerhalb der Türkei tätigen Medienunternehmen die Zunahme von Berichten über Folter und Misshandlungen in der Türkei, der Einsatz von exzessiver Gewalt bei Auflösung von Versammlungen, geringe Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Beamten, die verdächtig sind, Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, weiterhin bewaffnete Auseinandersetzungen mit der PKK, überschießendes Vorgehen gegen Kinder und Menschenrechtsaktivisten, unfaire Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Vorwürfen der PKK-Mitgliedschaft, ungenügende Haftbedingungen und die Situation von Wehrdienstverweigerung sowie die Ereignisse im Zusammenhang mit Parteienverbotsverfahren, insbesondere jene der DTP, thematisiert. Insgesamt werden Zweifel an den Berichten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Deutschland und des deutschen auswärtigen Amtes wegen der NATO-Partnerschaft der Staaten Türkei und Deutschland und der daraus resultierenden Rücksichtnahme bei der Beurteilung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, sowie Zweifel an der EU- Kommission, die den EU-Beitritt der Türkei "forciere" und von dort deshalb ebenfalls kein ausgewogener Bericht zur Lage in der Türkei zu erwarten wäre, angeführt.

 

2. Das Bundesasylamt hat den Antrag des BF auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 28.04.2010, FZ: 09 00.779-BAS bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde der Antrag auf internationalen Schutz gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.) und der BF gem. § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

 

Die Entscheidung des Bundesasylamtes wurde im Wesentlichen damit begründet, dass dem Vorbringen weder Asylrelevanz noch Glaubwürdigkeit zugebilligt werden könne. Es hätten sich auch nicht genügend Anhaltspunkte für die Annahme einer dem BF konkret drohenden Gefahr im Falle der Rückkehr in die türkische Republik ergeben, weshalb auch der Status des Subsidiärschutzberechtigten nicht zuerkannt werden könne.

 

Der BF lebe alleine im österreichischen Bundesgebiet und es bestehe keine Lebenspartnerschaft, somit wäre auch kein bestehendes Familienleben anzunehmen. Insoweit er seine zwei in Österreich als Asylwerber aufhältigen Brüder als Bezugspersonen geltend macht, verweist das Bundesasylamt auf ein Privatleben, dass er aber eben so gut in der Türkei führen könne und eine durch die Ausweisung stattfindende Einschränkung des Privatlebens jedenfalls wegen Überwiegens der öffentlichen Interessen am privaten Interesse des BF gerechtfertigt wäre.

 

3. Gegen diese Entscheidung wurde rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde eingebracht und neuerlich dargelegt, der BF sei in der Zeit von Juli bis Oktober 2008 insgesamt drei Mal verhaftet und in der örtlichen Gendarmeriestation schwer misshandelt und jeweils für mehrere Tage inhaftiert gewesen. Im Zusammenhang mit dem Wideraufflammen der Kämpfe der türkischen Streitkräfte mit der PKK hätte der BF zwangsweise zu Spitzeldiensten für Sicherheitsorgane der Türkei gezwungen werden sollen. Dies deshalb, weil er sich als Hirte in der Gegend gut auskenne und er andererseits als Bruder von zwei nach Österreich geflüchteten Kurden unverdächtigt für die von ihm verlangte Tätigkeit sei. Er habe hinsichtlich seiner Verhaftungen exakte und überprüfbare Angaben gemacht und dies mit vorgelegten Urkunden auch belegt. Dass er nach Ableistung des Militärdienstes im Jahr 2005 nicht sofort ausgereist sei, sei darauf zurückzuführen, dass die Lage in dieser Zeit ruhiger war und erst 2008 die Kämpfe wieder aufgeflammt seien. Sein Vorbringen bestünde darin, eben nicht als politischer Aktivist verfolgt zu werden, sondern mit Gewalt zu Spitzeldiensten gezwungen worden zu sein. Im Übrigen interessiere er sich politisch für die Kurdensache. Unter dem Umstand, dass er Spitzeldienste verweigert habe, sei er nicht als gewöhnlicher Kurde anzusehen, der nicht verfolgt wird. Die belangte Behörde sei ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen. Bei den vorgelegten Fahndungsbestätigungen des Dorfvorstehers handle es sich nicht um bloße Gefälligkeitsbestätigungen, zumal der Dorfvorsteher sich dadurch der Verfolgung wegen eines Amtsmissbrauches aussetzten würde, was nicht ohne weiters angenommen werden könne. Im Falle der Abschiebung drohe ihm Gefahr, von den Sicherheitskräften verfolgt zu werden, die ihn aufgrund seiner Flucht der Zusammenarbeit mit den kurdischen Guerillas verdächtigen würden. Der BF habe sich außerdem auch bereits ausreichende Grundkenntnisse der deutschen Sprache angeeignet und habe engste Beziehungen zu seinen in XXXX lebenden Geschwistern S. und R. Bei seinem Bruder R. habe er Unterkunft und er werde von diesem finanziell unterstützt. Die Ausweisung sei daher unzulässig.

 

4. Der Asylgerichtshof hat für den 20.04.2011 eine öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung anberaumt und dazu den BF, seines ausgewiesenen Vertreter, einen Vertreter des Bundesasylamtes und eine Dolmetscherin für die türkische Sprache geladen. Die Beschwerdeverhandlung wurde in Anwesenheit des BF und der Dolmetscherin durchgeführt. Der BF verzichtete auf das Erscheinen seines ausgewiesenen Vertreters. Ein Vertreter des Bundesasylamtes hat unter Angabe von Gründen an der BF nicht teilgenommen.

 

II. DER ASYLGERICHTSHOF HAT ERWOGEN:

 

1. Beweis wurde erhoben durch:

 

Einsichtnahme in den vorliegenden Verfahrensakt unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Antragstellers vor dem Bundesasylamt, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes; Einsichtnahme in die Verfahrensakten der Brüder des GZ E2 231.704 und E2 237.629, persönliche Einvernahme des BF in öffentlicher mündlicher Beschwerdeverhandlung und Feststellung der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei anhand nachfolgend angeführter Quellen:

 

Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 08.04.2011 und 11.04.2010.

 

EU-Kommission, Mitteilung der Kommission an das europäische Parlament und den Rat, Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2009 - 2010 vom 14.10.2009

 

Home Office, Country of Origin Information Report, Turkey, August 2010

 

USDOS: Country Reports on Human Rights Practices 2009: Turkey, 11.03.2010,

 

USDOS: International Religious Freedom Report Turkey, 19.9.2008

 

APA0332 v. 2.1.2009: "Türkisches Staatsfernsehen sendet Kurdisch - "TRT-6, be xer be"

 

BAMF, Bericht über das Eurasil Meeting zur Türkei vom 24. Juni 2008, Oktober 2008

 

Erkenntnisse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Türkei vom April 2008

 

Gutachten der Ländersachverständigen XXXX im Verfahren zu GZ E3

314.889

 

2. Festgestellt wird nachstehender Sachverhalt:

 

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen:

 

Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen, ist türkischer Staatsangehörige der kurdischen Volksgruppe und XXXX geboren. Er besuchte von 1991 bis 1999 in XXXX die Grundschule, spricht Türkisch und Kurdisch und arbeitete nach Abschluss der Grundschule bis zur Ausreise in der elterlichen Landwirtschaft in C. als Hirte. Den Militärdienst hat der BF von August 2004 bis Oktober 2005 abgeleistet. Von den Familienmitgliedern des BF leben die Eltern, 2 Brüder und 5 Schwestern in der Türkei. Zwei seiner Brüder sind bereits zu einem früheren Zeitpunkt - nämlich 2001 und 2002 - aus der Türkei ausgereist und haben in Österreich ebenfalls einen Asylantrag gestellt. Die betreffenden Asylverfahren werden ho. unter GZ E2 231.704 und E2 237.627 im Stande der Beschwerde und aufgrund des Familienzusammenhanges unter einem geführt.

 

Der BF ist weder krank noch nimmt er Medikamente.

 

Er war weder politisch tätig noch hatte er wegen seiner Religionszugehörigkeit Probleme. Nach seinen Angaben ist er auch nicht vorbestraft. Eine Verfolgung durch Private wurde verneint.

 

Das Asylvorbringen des BF ist nicht glaubhaft. Es wird zwar nicht in Abrede gestellt, dass der BF als Hirte tätig war, es entspricht aber nicht den Tatsachen - wie in der Beweiswürdigung noch darzustellen sein wird - dass der BF als Spitzel oder Informant für die staatlichen Behörden rekrutiert werden hätte sollen und aus diesem Grund mehrmals festgenommen und gefoltert wurde.

 

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat einer asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung unterlag oder für den Fall seiner Rückkehr dorthin, einer solchen ausgesetzt sein wird.

 

Es konnten im konkreten Fall auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer aktuell Gefahr liefe, im Iran einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe bzw. einer sonstigen konkreten individuellen Gefahr unterworfen zu werden.

 

Seit der Einreise führt der BF ein Familienleben mit seinem Bruder S., mit dem er im gemeinsamen Haushalt lebt. Die durch die Ausweisung verursachte Einschränkung des Privat- und Familienlebens ist jedoch gesetzlich zulässig und gerechtfertigt.

 

2.2. Zur Situation in der Türkei:

 

Allgemeines

 

Die rechtliche Entwicklung der vergangenen Jahre ist gekennzeichnet durch einen tiefgrei- fenden Reformprozess, der wesentliche Teile der Rechtsordnung (besonders im Strafrecht, aber auch im Zivil- oder Verfassungsrecht) erfasst hat und auf große Teile der Gesellschaft ausstrahlt. Im Jahr 2010 hat die Regierung durch ein erfolgreiches Verfassungsreferendum wesentliche offene Aufgaben erledigt (z.B. Stärkung der Rechte der Gewerkschaften, Om- budsmann-Gesetz, Gleichstellung, Verfassungsbeschwerde, Datenschutz).

 

Politische Opposition

 

Die Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern ist geprägt von großer polarisie- render Härte; der Gemeinsinn über die Parteigrenzen hinweg ist wenig ausgeprägt. Immer wieder werden Konflikte bis zur versuchten Ausschaltung des politischen Gegners getrieben. Das politische System insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert, die Bedeutung des nach wie vor mächtigen Militärs ist graduell zurückgegangen. Es liegen jedoch weiterhin Hin- weise vor, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sowie die rechtsstaatlichen Garantien in Strafverfahren nicht immer konsequent eingehalten werden.

 

Politisch Oppositionelle werden in der Türkei nicht systematisch verfolgt.

 

Weiterhin sind Spannungen in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten und in den Ballungszentren des Landes zu verzeichnen. Die Politik der sogenannten "Demokratischen Öffnung" wurde mit Blick auf die anstehenden Wahlen im Juni 2011 vorerst eingefroren. Die PKK hat Ende Februar eine im vergangenen Herbst verkündete Waffenruhe bis zu den Wahlen im Juni aufgekündigt.

 

Meinungs- und Pressefreiheit:

 

Die Meinungs- und die Pressefreiheit werden nach wie vor aufgrund verschiedener, teils un- klarer Rechtsbestimmungen, erstinstanzlicher Nichtbeachtung der Rechtsprechung des EGMR und u. a.auch durch höchstrichterliche Rechtsprechung beeinträchtigt. Die vielfältige Presse- landschaft berichtet nach Einflussnahme der Regierung wenig regierungskritisch. Im März 2011 kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Journalisten. Ehemalige Tabu-Themen (Kur- den, Armenien, Militär) können dagegen offener diskutiert werden.

 

Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis

 

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Insbe- sondere im Südosten werden Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder dessen zivilem Arm zunehmend als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert, bei Befragungen des Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristi- sche Aktivitäten.

 

Untersuchungshaft wird regelmäßig mit schwacher rechtlicher Begründung verbunden mit sehr langen Haftzeiten verhängt. Die Untersuchungshaftzeiten wurden zum 01.01.2011 durch eine Gesetzesänderung des Art. 102 tStPO eingeschränkt. Während für Vergehen eine maximale Unter- suchungshaft von eineinhalb Jahren vorgesehen ist, beträgt diese für Verbrechen bis zu fünf, bei Verbrechen mit Terrorbezug bis zu zehn Jahren.

 

Seit 2008 hat sich die vormals zögerliche Haltung bezüglich der Verfolgung von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Aller- dings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen.

 

Das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden ist grund- sätzlich gewährleistet. Das Anti-Terror-Gesetz (ATG) sieht eine Ausweitung dieser Frist auf bis zu 48 Stunden vor und senkt die Verfahrensgarantien für Personen ab, die terroristischer Strafta- ten beschuldigt werden. So können unter bestimmten Umständen Sicherheitskräfte bei dem Ge- spräch zwischen dem Verdächtigen und seinem Anwalt anwesend sein.

 

Das Recht auf kostenlose Rechtsberatung bei Schuldvorwürfen mit einem Strafrahmen bis 5 Jahre wurde 2006 (mit Blick auf den Mangel an dafür geeigneten Rechtsberatern) eingeschränkt. Seit Dezember 2006 kann die kostenlose Rechtsberatung nur derjenige in Anspruch nehmen, der einem Tatvorwurf mit Strafandrohung von mindestens fünf Jahren ausgesetzt ist.

 

Nach spätestens 24 Stunden (in bestimmten Fällen organisierter Kriminalität bis 48 Stunden, Art. 250 Abs. 1 lit. a und c tStPO) zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden (Art. 91 tStPO). In Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der poli- zeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage verlängert werden. Bei Festnahmen in Sicherheitszonen kann die in Art. 91 Abs. 3 tStPO vorgesehene Frist von vier Tagen auf Antrag des Staatsanwaltes und Entscheidung des Haftrichters auf bis zu sieben Tage verlängert werden. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden.

 

Dem Auswärtigen Amt sind in jüngster Zeit keine Gerichtsurteile auf Grundlage von durch die Strafprozessordnung verbotenen, erpressten Geständnissen bekannt geworden. Anwälte berichten, dass Festgenommene in einigen Fällen durch psychischen Druck verleitet werden, Aussagen zu machen. Bekannt ist auch, dass Erkenntnisse aus unzulässigen Telefonüberwachungen in Strafverfahren Eingang finden. Human Rights Watch weist in diesem Zusammenhang auf den nachlässigen Umgang mit Beweismitteln hin. 2011 wurde ein Fall bekannt, bei dem einen Beschuldig- ten seitens der Sicherheitskräfte belastende Telefondaten auf das Mobiltelefon geladen wurden.

 

Folter

 

Die AK-Partei-Regierung hat alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, um Folter und Misshand- lung im Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" zu unterbinden: Beispielhaft genannt seien die Erhöhung der Strafandrohung (Art. 94ff. des tStGB sehen eine Mindeststrafe von drei bis zwölf Jahren Haft für Täter von Folter vor, verschiedene Tat-Qualifizierungen sehen noch höhere Stra- fen bis hin zu lebenslanger Haft bei Folter mit Todesfolge vor); direkte Anklagen ohne Einver- ständnis des Vorgesetzten von Folterverdächtigen; Runderlasse an Staatsanwaltschaften, Folterstraftaten vorrangig und mit besonderem Nachdruck zu verfolgen; Verhinderung der Verschlep- pung von Strafprozessen und der Möglichkeit, sich dem Prozess zu entziehen; Durchsetzung ärztlicher Untersuchungen bei polizeilicher Ingewahrsamnahme; Stärkung von Verteidigerrechten.

 

Trotz dieser gesetzgeberischen Maßnahmen und trotz einiger Verbesserungen ist es der Regie- rung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kommt es zu übermäßiger Gewaltanwendung. Es gibt An- zeichen, dass Misshandlungen nicht mehr in den Polizeistationen, sondern gelegentlich an ande- ren Orten, u. a. im Freien stattfinden. Über den Umfang inoffizieller Freiheitsbeschränkungen durch Zivilisten oder durch Sicherheitskräfte in Zivil in Verbindung mit Misshandlung oder Fol- ter vor Antritt der Ingewahrsamnahme liegen keine zuverlässigen Informationen vor.

 

Die Zahl der Beschwerden und offiziellen Vorwürfe, die im Zusammenhang mit mutmaßlichen Folter- oder Misshandlungsfällen stehen, ist nach Angaben von Menschenrechtsverbänden 2010 landesweit zurückgegangen. Nach glaubhaften Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV wurden bis Ende November 2010 wurden insgesamt 161 (2009: 252, 2008: 269) Personen registriert, die im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt wurden.

 

Hinsichtlich der Folter in Gefängnissen hat sich nach belastbaren Informationen von Menschen- rechtsorganisationen die Situation in den letzten Jahren erheblich gebessert; es werden weiterhin Einzelfälle zur Anzeige gebracht, vor allem in Gestalt von körperlicher Mißhandlung und psychi- schen Druck wie Anschreien und Beleidigungen. Auch die Regierung räumt ein, dass Folter in wenigen Ausnahmefällen vorkommt. Ein Beispiel war im Jahr 2008 der Tod des Linksaktivisten Engin Ceber, der erwiesenermaßen im Typ-F-Gefängnis von Sincan (für Häftlinge, die wegen Terror oder organisierten Verbrechens inhaftiert sind, vgl. Abschnitt III. 4.), vermutlich aber auch von Jandarma-Kräften unmenschlich behandelt wurde und laut gerichtsmedizinischer Untersu- chung an den Folgen seiner Verletzungen gestorben ist. Erstmalig hat sich eine türkische Regierung für einen solchen Vorgang öffentlich bei den Hinterbliebenen entschuldigt.

 

Straflosigkeit der Täter in Folterfällen ist weiterhin ein ernstzunehmendes Problem. Laut Bericht des UN-Komitees gegen Folter (CAT) vom November 2010 mangelt es an unabhängiger, unpar- teiischer und transparenter Untersuchung. Sicherheitskräfte, die unter Verdacht der Folter oderder unmenschlichen Behandlung stehen, würden zu selten vom Dienst suspendiert und gefährde- ten damit die effektive Aufklärung. Strafrechtliche Ermittlungen erfolgen, so CAT, oft auf der Grundlage von Artikeln, die Bewährung und mindere Haftstrafen vorsehen (Art. 256 "Exzessive Gewaltausübung", Art. 86 "Vorsätzliche Verletzung"), und nicht auf der Grundlage von Art. 94 bzw. 95 (Folter). Grundsätzlich beträgt der Strafrahmen für Folter und unmenschliche Behand- lung bis zu 12 Jahre; Freiheitsstrafen können in diesen Fällen nicht mehr in Geldstrafen umge- wandelt werden.

 

Ein Problem bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter ist die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen. Die seit Januar 2004 geltende Regelung, dass außer auf Verlangen des Arz- tes Vollzugsbeamte nicht mehr bei der Untersuchung von Personen in Gewahrsam bzw. Haft an- wesend sein dürfen und das Untersuchungsergebnis direkt dem Staatsanwalt versiegelt (ohne Kopie für die Vollzugsbeamten) auszuhändigen ist, wird nicht durchgehend angewandt. Zudem sind medizinische Gutachten nur von staatlich kontrollierten Stellen zugelassen; die Ärztekammer berichtet über Druck auf einzelne Ärzte und Einschüchterungsversuche durch Androhung von Dis- ziplinarverfahren durch das zuständige forensische Institut. Nach Angaben von Menschenrechts-Organisationen und NROs, die sich um Gefängnisinsassen kümmern, ist bei medizinischen Gut- achten die Qualität mitunter beeinträchtigt. Grundsätzlich kann gegen alle Sachverständigengut- achten - hierzu zählt auch ein medizinisches Gutachten - Einspruch erhoben werden.

 

Willkürliche kurzfristige Festnahmen im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen kommen vor. Sie werden von offiziel- ler Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Ver- einigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt.

 

Todesstrafe

 

Die Todesstrafe ist in der Türkei vollständig abgeschafft.

 

Staatliche Repressionen

 

Es gibt in der Türkei keine Personen oder Personengruppen, die alleine wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder alleine wegen ihrer politischen Überzeugung staatlichen Repressionen ausgesetzt sind.

 

Kurden

 

Ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei (72 Millionen) - also ca. 14 Millionen Menschen - ist zumindest teilweise kurdischstämmig. Im Westen der Türkei und an der Südküste lebt die Hälfte bis annähernd zwei Drittel dieser Kurden: ca. drei Millionen im Großraum Istanbul, zwei bis drei Millionen an der Südküste, eine Million an der Ägäis-Küste und eine Million in Zentralanatolien. Rund sechs Millionen kurdischstämmige Türken leben in der Ost und Südost-Türkei, wo sie in einigen Gebieten die Bevölkerungsmehrheit bilden. Nur ein Teil der kurdischstämmigen Bevölkerung in der Türkei ist auch einer der kurdischen Sprachen mächtig.

 

Türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeit sind aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Aus den Ausweispapieren, auch aus Vor- oder Nachnamen, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Kleinkindern dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben wer- den).

 

Der private Gebrauch des Kurdischen, d.h. der beiden in der Türkei vorwiegend gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmanci und Zaza, ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Kurdischunterricht und Unterricht in kurdi- scher Sprache an öffentlichen Schulen sind nicht erlaubt. Durch die verfassungsrechtliche Fest- schreibung von Türkisch als der einzigen Nationalsprache wird die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden, aber auch anderer ethnischer Gruppen erschwert. 2010 wurde in- des durch eine Änderung des Wahlgesetzes das Verbot von Wahlwerbung in einer anderen Sprache als Türkisch aufgehoben.

 

Seit 2009 sendet der staatliche TV-Sender TRT 6 ein 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Zudem wurden alle bisher geltenden zeitlichen Beschränkungen für Privatfernsehen in "Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gesprochen werden" aufgehoben. An der staatlichen Atakule-Universität in Mardin wurde 2010 ein "Institut für lebende Sprachen" (u.a. Kurdisch) eingerichtet. Die staatliche Alpaslan-Universität in Mus bietet seit dem Wintersemester auch einen Magister in kurdischer Sprache an, die private Istanbuler Bilgi- Universität bietet Kurdisch seit 2009 als Wahlfach an.

 

Weiterhin sind Spannungen in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten des Landes zu verzeichnen. Allerdings sehen Regierung und Militär, dass die Probleme im Südosten nicht allein mit militärischen Mitteln zu überwinden sind. Seit Mitte 2010 ist jedoch die von Staatspräsident Gül und Ministerpräsident Erdogan in 2009 initiierte "Demokratische Öffnung" (zuvor "Kurdi- sche Öffnung") aufgrund nationalistischer Vorbehalte und andauernder Anschlägen durch die PKK zum Stillstand gekommen. Diese zielte insbesondere auf eine Lösung der Probleme des Südostens und beinhaltet politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Maßnahmen. PKK-inter- ne Opposition (Ungehorsam, Befehlsverweigerung etc.) und Abfall (Desertion) von der PKK werden von dieser konsequent sanktioniert.

 

Unterstellte Unterstützung der PKK

 

Die Unterstützung der PKK war in der Vergangenheit allenfalls nach § 169 türk. StGB (a.F.) strafbar. Anklagen waren selten geworden und von jeher war die Freispruchquote überdurchschnittlich hoch. Im neuen Strafrecht ist diese Bestimmung nicht mehr enthalten. Die Strafbarkeit richtet sich allenfalls nach 315 tStGB, 220 Abs. 7 tStGB bzw. nach den Allgemeinbestimmungen über die Beihilfe. Es sind auch die für den Täter günstigeren Bestimmungen des tStGB (n.F.) anzuwenden. (BAMF Türkei, Amnestien, Strafnachlass, Verjährung, Begnadigung Februar 2008.)

 

Sympathisanten und anderer Unterstützer der PKK, sofern sie wegen ihres Verhaltens strafrechtliche Verfolgung zu befürchten hätten, haben die Möglichkeit, von der tätigen Reue Gebrauch zu machen.

 

Auszug aus dem o. a. Gutachten der Ländersachverständigen XXXX:

 

"Im Zusammenhang mit meiner GA Stellungnahme vom 12.11.09 im Verfahren zu GZ E3 314.889 wurde mir die folgende Zusatzfrage gestellt:

 

"Kann man aufgrund dieser Ausführungen davon ausgehen, dass Personen, die nicht Mitglieder der PKK waren, sondern

 

-

allenfalls mit dieser sympathisiert haben

 

-

zu Unrecht beschuldigt wurden, der PKK anzugehören (und diesbezüglich Verhöre, Inhaftierungen und Misshandlungen behaupten)

 

-

die PKK geringfügig unterstützt haben (etwa, wie in den Verfahren fallweise vorgebracht: Unterstützung mit Lebensmitteln, kurzfristige Gewährung von Unterkunft etc., Verteilung von Propagandamaterial) umso weniger mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen haben? Bzw. gilt dies auch für Sachverhalte/Straftaten, die nach dem im Amnestiegesetz Nr. 4616 vom 21.12.2000 genannten Stichtag 23.04.1999 verwirklicht wurden?"

 

Die erste Frage zielt offenbar auf zwei Konstellationen, nämlich zum einen auf Personen, die, ohne Mitglieder der PKK zu sein, diese doch - wie immer geringfügig - ideologisch oder praktisch unterstützen, (unten 1.) zum anderen auf Personen, die in keinerlei Verhältnis zur PKK stehen, jedoch zu Unrecht einer Form der Unterstützung der PKK beschuldigt werden (siehe unter 2.). Hinsichtlich dieser beiden Kategorien ist die Frage zu beantworten, ob sie, zumal unter Berücksichtigung der veränderten sicherheitspolitischen Haltung der türkischen Behörden, im Falle ihres Aufenthalts in der Türkei mit strafrechtlichen Sanktionen zu rechnen hätten.

 

1. Zunächst ist festzuhalten, dass auch auf Verhaltensweisen, die eine bloß geringfügige propagandistische oder materielle Unterstützung der PKK darstellen, von der türkischen Strafjustiz die im Gutachten angeführten (schweren) Tatbestände angewendet werden, insbesondere die Artikel 7 Antiterrorgesetz und 220 Absätze 6 bis 8 Strafgesetz. In der Tat ist festzustellen, dass es sich nach Aussagen von Menschenrechtsorganisationen bei der überwiegenden Mehrheit der nach den im Gutachten angeführten Tatbestände angeklagten Personen um Sympathisanten oder Personen handelt, die die PKK geringfügig unterstützt haben. Mithin finden auf Handlungen, sofern sie überhaupt als strafbar erachtet werden, diese genannten Tatbestände Anwendung, sodass die Regelung der tätigen Reue nach Art. 221 des türkischen Strafgesetzes einschlägig ist (sei es wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Artikels 220 Strafgesetz, sei es zufolge der Verweisungskette von Artikel 7 des Antiterrorgesetzes zu

Artikel 314 und schließlich wiederum zu Artikel 220 Strafgesetz). Mit anderen Worten können Sympathisanten und andere Unterstützer der PKK, sofern sie wegen ihres Verhaltens strafrechtliche Verfolgung zu befürchten hätten, von der Möglichkeit der tätigen Reue in der Weise Gebrauch machen, wie dies im Gutachten dargestellt wird.

 

2. Wohl stellt sich für eine Person, die zu Unrecht der Unterstützung der PKK beschuldigt wird, generell die letztlich strategische Frage, ob er darauf vertraut, dass das Strafverfahren seine Unschuld erweisen wird, oder ob er lieber tätige Reue vortäuscht, um auf diesem Wege von Strafe verschont zu bleiben. Dies ist aber im Grunde keine Besonderheit der Regelung des Artikels 221 des türkischen Strafgesetzes, sondern ein Dilemma, das sich bei der Verteidigung eines zu Unrecht Beschuldigten in der einen oder anderen Form wohl häufig auftritt. Es ist kein praktisches Hindernis erkennbar, dass es einem zu Unrecht Beschuldigten erschweren würde, tätige Reue vorzugeben.

 

Zur zweiten Frage ist festzuhalten, dass Artikel 221 des türkischen Strafgesetzes auch bei solchen Straftaten zugute kommt, die zwar nach dem im Amnestiegesetz Nr. 4616 vom 21. Dezember 2000 genannten Stichtag des 23. April 1999, jedoch vor dem Inkrafttreten des Strafgesetzes im April 2005 begangen worden sind. Artikel 7 Absatz 2 des neuen Strafgesetzes enthält eine Bestimmung, der zufolge begünstigende Regelungen auch auf vor dem Inkrafttreten gesetzte Handlungen anzuwenden sind."

 

Situation für Rückkehrerinnen und Rückkehrer

 

Grundversorgung In der Türkei gibt es keine mit dem deutschen Sozialrecht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förde- rungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität und Nr. 5263, Gesetz über Organisation und Aufga- ben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlas¿ma ve Dayanis¿ma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 3294 sind bedürftige - grundsätzlich auch ausländische - Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkom- men oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die durch eine kleine Unterstützung oder durch Gewährleistung einer Ausbildungsmöglichkeit gemeinnützig tätig und produktiv werden können.

 

Die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung werden von Amts wegen geprüft. Mithilfe ei- ner neu eingeführten Datenbank werden die Anträge, bei denen die Identitätsnummer angegeben werden muss, bewertet. Die Datenbank vernetzt die einzelnen Stiftungen, sowie zwölf weitere staatliche Institutionen wie das Finanzministerium, die Generaldirektion für Soziale Dienste und Kinderschutz, das Grundbuchamt etc., um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unter- kunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besondere Hilfeleistungen wie Ka- tastrophenhilfe oder die Volksküchen. Ziel der Behörde ist es, möglichst alle Menschen zu errei- chen, die mit weniger als 4,3 US-Dollar pro Tag auskommen müssen; dies entspricht rund 3 Mio. Menschen (ca. 4,3 % der Bevölkerung). Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt; in Einzelfällen entscheidet der Vorstand der Stiftung. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfe- programme haben.

 

Medizinische Versorgung

 

Das staatliche Gesundheitssystem befindet sich seit 2003 in einer Transformationsphase; es hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert; vor allem der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in ländlichen Gegenden sowie der Zugang für die arme, nicht kran- kenversicherte Bevölkerung hat sich deutlich verbessert. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die An- zahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle (insbesondere auch schwere und chronische) Krankheiten gewährleistet. Die Qualitätsunterschiede haben sich in den einzelnen Regionen und zwischen den einzelnen Krankenhäusern und Ärzten ganz erheblich reduziert.

 

Landesweit bestehen 1.389 Krankenhäuser mit einer Kapazität von ca. 195.000 Betten, davon ca. 60% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der "Praxisgebühr" unentgeltlich. Grundsätzlich können sämt- liche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. Das Gesund- heitsministerium hat ein zentrales Terminvergabesystem für die staatlichen Krankenhäuser einge- führt.

 

Alle Patienten müssen ähnlich der deutschen Praxisgebühr beim Arztbesuch (entweder ambulant im Krankenhaus oder Aufsuchen des Hausarztes) oder stationärem Krankenhausaufenthalt einen Eigenanteil in Höhe von 5 bis 25 TL (rd. 2,5 bis 12,5 ¿) pro Behandlung entrichten. Das neu ein- geführte und noch im Aufbau befindliche Hausarztsystem, das seit 2011 flächendeckend in allen Provinzen etabliert ist, ist von der Eigenanteil-Regelung ausgenommen. Nach und nach soll das Hausarztsystem mit bislang 20.185 Hausärzten, die bisherigen 4.254 (Stand: 2009) Gesundheits- stationen (Sag?lik Ocag?i) ablösen. Mit dem Hausarztsystem findet eine Verlagerung von der bis- lang stark krankenhausorientierten (ambulanten) Versorgung hin zu mehr dezentraler medizini- scher Grundversorgung und präventiver Vorsorge statt, die auf einer persönlichen Beziehung zwi- schen Arzt und Patient beruht. Die Inanspruchnahme des Hausarztes ist freiwillig. Jeder Bürger kann anhand seiner Identitätsnummer feststellen, welcher Hausarzt für ihn zuständig ist. Ein Wechsel des Hausarztes ist grundsätzlich möglich.

 

Das am 1. Oktober 2008 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Sozialversicherungsreform (Ge- setz Nr. 5510) dehnt die gesetzliche Krankenversicherung auf alle Personengruppen, einschließ- lich der unter 18-Jährigen, aus. Ziel ist die Sicherstellung einer einheitlichen gesundheitlichen Versorgung aller Bürger mit im Wesentlichen gleichen Bezugsvoraussetzungen und Leistungsansprüchen für Angestellte, Rentner und Selbständige. Auch bisher unversicherte Mittellose, die die sog. "Grüne Karte" (Yes¿il Kart) für eine kostenlose medizinische Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem nutzen, sollen einbezogen werden. Dazu gehören auch Staatenlose, Flüchtlin- ge sowie in der Türkei Aufenthaltsberechtigte, die nicht sozialversichert sind. Ursprünglich war als Datum für die Einbeziehung der 30.9.2010 vorgesehen, inzwischen geht man wegen des großen verwaltungstechnischen Aufwands von Januar 2012 aus. Die Beiträge der ärmeren Bevöl- kerungsgruppen wird der Staat zum großen Teil weiter entrichten, für einen Teil dieser Gruppe aber auch nach Leistungsfähigkeit gestaffelte Beitragsprämien zwischen 12,5 % des Mindestlohns und 12,5 % des 6,5-fachen Mindestlohns einführen.

 

In der Übergangszeit gilt weiter als Mittelloser im Sinne der "Grünen Karte", wer nicht sozial- versichert ist und nach Abzug von Steuern und Versicherungen über ein monatliches Einkom- men/Anteil am Familieneinkommen (einschl. Vermögen) von weniger als einem Drittel des staat- lich festgesetzten Mindestlohns (ab 01.01.2011 netto 630,- TL - ca. 315,- ¿) verfügt. Die ca. zwölf Mio. Inhaber der "Grünen Karte" haben grundsätzlich Zugang zu allen Formen der medizi- nischen Versorgung. Die stationäre Behandlung umfasst die Behandlungskosten sowie Medika- mentenkosten in Höhe von 100 %. Rückkehrer aus dem Ausland unterliegen dem gleichen Prüfungsverfahren wie im Inland lebende türkische Staatsangehörige. Die zuständige Kommission des Landratsamtes entscheidet unter Beteiligung weiterer Behörden über die Anträge; die Bearbeitungszeiten haben sich erheblich verkürzt. Mittels elektronischer Speicherung, bei der wie bei anderen Leistungen der Sozialen Sicherung die für alle vorgeschriebene Personenkennziffer verwendet wird, soll Missbrauchsfällen bei der "Grünen Karte" entgegengewirkt und sicherge- stellt werden, dass alle Personen in die Gesundheitsversorgung einbezogen werden. In Notfällen und bei Mutterschaft erhalten nun auch Selbständige, die Beitragsrückstände haben, Leistungen der Krankenversicherung.

 

Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern

 

Dem Auswärtigen Amt ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Akti- vitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristi- scher Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist. Auch seitens türkischer Men- schenrechtsorganisationen wurde kein Fall genannt, in dem politisch nicht in Erscheinung ge- tretene Rückkehrer oder exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Or- ganisationen menschenrechtswidriger Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt waren. Nach Auskunft der Vertretungen von EU-Mitgliedstaaten in Ankara (Dänemark, Schweden, Nie- derlande, Frankreich, England, auch der Kommission) sowie von Norwegen, der Schweiz und den USA im Frühjahr 2011 ist auch diesen aus jüngerer Zeit kein Fall bekannt, in dem exponierte Mitglieder, führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen sowie als solche eingestufte Rückkehrer unmenschlicher Behandlung oder Folter ausgesetzt waren.

 

Die rechtsstaatskonforme Behandlung zeigt sich zum Beispiel im Fall des M. I., der am 19.09.2007 auf Grund eines Auslieferungsersuchens aus Deutschland in die Türkei überstellt wurde. Der Genannte wurde nach Einreise in die Türkei in die 2. geschlossene Hochsicherheitsstrafanstalt von Ankara (Typ F) eingeliefert. Am 30.09.2007 wurde er in die Hochsicherheitsstraf- anstalt (Typ D) nach Diyarbakir verlegt. M. I. war gem. Artikel 125 des tStGB a. F. (Separatis- mus) angeklagt. Bei der fünften Verhandlung beim 5. Gericht für schwere Straftaten in Diyarba- kir am 05.06.2008 wurde M. I. freigesprochen, weil eine Tatbeteiligung und somit der Schuldvor- wurf nicht bewiesen werden konnte. Die Freilassung erfolgte am gleichen Tag. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Nach Angaben des Rechtsanwaltes, der die Vertretung des Angeklagten übernommen hatte, war M. I. während seiner Haft weder psychischen noch physischen Beein- trächtigungen durch staatliche Organe ausgesetzt.

 

Aufgrund eines Runderlasses des Innenministeriums vom 18.12.2004 dürfen keine Suchvermerke mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden. Angaben türkischer Behörden zufolge wurden Mitte Februar 2005 alle bestehenden Suchvermerke in den Personenstandsregistern ge- löscht. Es besteht für das Auswärtige Amt somit keine Möglichkeit mehr, das Bestehen von Suchvermerken zu verifizieren, auch nicht über die bisher damit befassten Vertrauensanwälte.

 

Einreisekontrollen

 

Bei der Einreise in die Türkei hat sich jeder einer Personenkontrolle zu unterziehen. Türkische Staatsangehörige, die ein gültiges türkisches, zur Einreise berechtigendes Reisedokument besit- zen, können die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. In Fällen von Rückführun- gen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier.

 

Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Ein Eintrag besteht nicht, wenn zuvor anhängige Ermittlungsverfahren oder eingeleitete Strafverfahren wegen Verjährung oder Amnestiebestimmungen eingestellt wurden oder die Person freigesprochen und ein Fahn- dungs- bzw. Haftbefehl aufgehoben wurde.

 

Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen. Ein Anwalt wird zur Durchführung des Verhörs, bei welchem der Festgenommene zu den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen gehört wird, hinzugezogen. Der Festgenommene wird ärztlich untersucht. Das Verhör wird durch den Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten im Namen der Staatsan- waltschaft vorgenommen. Der Festgenommene darf zunächst 24 Stunden festgehalten werden. Eine Verlängerung dieser Frist auf 48 Stunden ist möglich. Danach findet erneut eine ärztliche Untersuchung statt. Nach der ärztlichen Untersuchung wird der Festgenommene mit dem Bericht des Arztes dem Staatsanwalt vorgeführt, der nochmals eine Befragung im Beisein eines Anwaltes durchführt. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Ausstellung eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist ebenfalls der Anwalt anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen.

 

1.9. Exilpolitische Aktivitäten

 

Türkische Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind und sich nach türkischen Gesetzen strafbar gemacht haben, laufen Gefahr, dass sich die Sicherheitsbehörden und die Justiz mit ihnen befassen, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen. Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind nur dann strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können.

 

3. Beweiswürdigung:

 

3.1. Die Feststellungen zur Identität des BF und seinen Familienverhältnissen im Heimatland beruhen auf den vom BF im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Dokumenten sowie auf seinen diesbezüglich glaubhaften und im Laufe des Verfahrens gleichbleibenden Angaben, die mit den Angaben seiner Brüder in deren Beschwerdeverhandlung insofern weitgehend übereinstimmen.

 

3.2. Die Angaben des BF zu seinen Fluchtgründen entsprechen aus nachfolgend angeführten Gründen nicht den Tatsachen:

 

Die Darstellung des BF ist widersprüchlich. Nach der vorgelegten Bestätigung des Dorfvorstehers werde nach dem BF bereits seit 08.10.2008 gefahndet. Dies steht in einem unaufgeklärten Widerspruch zur Angabe des BF, dass er noch am 09.10 2008 im Gewahrsam der Gendarmerie gewesen sein soll. Weshalb bereits am 08.10.2008 nach ihm gefahndet worden sein soll, hat der BF nicht erklärt. Damit verliert aber auch die vorgelegte Bestätigung des Dorfvorstehers an Beweiskraft. Der Hinweis, dass dieser wegen Amtsmissbrauches verfolgt werden könnte und deshalb keine solchen Bestätigungen ausstellen wird, geht ins Leere. Zum Einen handelt es sich um ein völlig formloses Schreiben und enthält es die bloße Behauptung, dass der Betreffende gesucht wird, ohne irgendwelche Hinweise auf ein konkretes Verfahren, Aktenzahl oder Delikt oder sonstigen Fahndungsgrund. Zum Anderen wurde durch die Erhebungen des Bundesasylamtes über die österreichische Botschaft in Ankara widerlegt, dass gegen des BF ein Haftbefehl besteht. Auch die vom Asylgerichtshof in den Beschwerdeverfahren der Brüder des BF in Auftrag gegebene Überprüfung der Unterlagen - von den Brüdern wurde eine ähnliche Bestätigung des Dorfvorstehers vorgelegt bzw. befinden sich diese auch in Kopie im vorliegenden Verwaltungsakt - hat ergeben, dass nach diesen nicht gefahndet wird. Die hier getroffenen Feststellungen werden durch die Behauptung, der Dorfvorsteher würde durch die Ausstellung falscher Bestätigungen einen Amtsmissbrauch begehen, nicht entkräftet.

 

Das Vorbringen des BF ist inkonsistent. Der BF brachte in der Erstbefragung am 21.01.2009 zum Fluchtgrund vor, als Hirte die "Schlupflöcher" der Separatisten in den Bergen zu kennen und zu wissen, wo sie sich aufhalten. Deshalb hätten die Behörden auf ihn Druck ausgeübt. Er hat aber im gesamten Verfahren keine einziges solches "Schlupfloch" von Separatisten bekanntgegeben, womit er darlegen hätte können, dass zumindest dieser Umstand den Tatsachen entspricht. In der zweiten asylbehördlichen Einvernahme führte der BF dann den Grund seiner Verfolgung mit dem Engagement seiner Brüder und dass er sich gut in der Gegend auskenne ins Treffen, ohne diesmal wieder zu erwähnen, dass sein Wissen um den Aufenthalt von Separatisten in den Bergen ausschlaggebend gewesen wäre. Da der BF als Verfolgungsgrund das Engagement seiner Brüder bei den ersten Aussagen noch nicht erwähnt hat, nun aber als vorwiegend darstellt, ist dies nach Überzeugung des erkennenden Senates auf Absprache mit den Brüdern in Österreich zurückzuführen.

 

Der BF gab zunächst an, das Angebot der Gendarmerie anlässlich der ersten Festnahme (man habe ihm Geld, Auto und ein Haus versprochen) abgelehnt zu haben. Dann habe man ihm zwei Ohrfeigen versetzt und ihn nach Hause geschickt. Danach habe man ihn noch zwei Mal festgenommen und ihn zuerst 2 Tage und dann 4 Tage in einem Keller angehalten. Dort sei er auch gefoltert worden. In der späteren Aussage führte der BF davon abweichend aus, er habe aufgrund der Schläge zugesagt, für den türkischen Staat zu arbeiten. Es ist in diesem Zusammenhang nicht plausibel, dass der BF, der schon zugesagt haben soll, neuerlich verhaftet wird, neuerlich gezwungen wird, mit dem Staat zusammenzuarbeiten und ihm danach wieder eine Frist gewährt wird, sich das noch einmal zu überlegen, obwohl er bereits zugesagt hat. Eine Erklärung für diesen ungewöhnlichen Ablauf einer Informantengewinnung hat der BF nicht dargelegt. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass jemand zur Informationsbeschaffung angeworben und später misshandelt wird, wenn er zugesagte Informationen nicht wie vereinbart liefert. Der BF hat jedoch nie behauptet, dass er zwischen den beiden Festnahmen Informationen liefern hätte sollen oder solche tatsächlich nicht geliefert hat. Der BF hat auch nicht ausgeführt, welche konkreten Informationen nun von ihm verlangt worden seien. Vielmehr ging es nach der Darstellung des BF immer nur darum, ob er nun als Spitzel für die Behörden arbeiten würde oder nicht. Ein derartiger Geschehensablauf ist für den erkennenden Senat jedenfalls nicht einwandfrei plausibel. Im Übrigen erscheint es doch sehr unwahrscheinlich, dass die Rekrutierung von Informanten für staatliche Zwecke, um von diesen Informationen unspezifischer Art pro futuro zu bekommen, auf Basis von Folter und Gewaltanwendung erfolgt, setzt doch die Beziehung zwischen dem Informationsnehmer und dem Informationsgeber stets eine gewisse Vertrauensbasis voraus, da sonst der Informationsnehmer wohl Gefahr liefe, Fehlinformationen zu bekommen bzw. der Informationsfluss in die nicht gewünschte, umgekehrte Richtung stattfindet. Der geschilderte Ablauf ist nach Ansicht des erkennenden Senates äußerst realitätsfern und unplausibel.

 

Für die persönliche Unglaubwürdigkeit des BF spricht, dass er in der Beschwerdeverhandlung zunächst in Abrede stellte, im Jänner 2009 in Deutschland gewesen zu sein und dort ebenfalls einen Asylantrag gestellt zu haben. Erst als er auf die Wahrheitswidrigkeit seiner Aussage hingewiesen wurde, räumte er ein, zwar in Deutschland gewesen zu sein aber zu dem Zeitpunkt nicht gewusst haben zu wollen, dass er sich in Deutschland befindet. Dass er einen Asylantrag gestellt hätte, stellte er weiterhin in Abrede. Somit steht fest, dass der BF verbergen wollte, jemals in Deutschland gewesen zu sein. Nach dem Bericht der deutschen Polizeibehörde (AS 167) hat der BF dort einen Asylantrag gestellt und wurde vermutet, dass er sich danach nach Österreich abgesetzt hat (was nachvollziehbar ist, zumal sich seine Brüder in Österreich befanden und der BF offensichtlich vermeiden wollte, dass er wieder nach Deutschland zurückgestellt wird).

 

Weiters spricht für die Unglaubwürdigkeit des BF, dass er in der Beschwerdeverhandlung erstmals schilderte, er sei von Guerilla-Kämpfern aufgefordert worden, diesen Essen und Zigaretten aus dem Dorf zu bringen und dies habe er auch getan (VS, S 4). Er bot keine Erklärung dafür an, warum er diesen Umstand erst in de Beschwerdeverhandlung ins Treffen führte. Auch schilderte der BF in der Beschwerdeverhandlung das Geschehen bei den Anhaltungen abweichend zu den Aussagen vor der Erstinstanz. So ordnete der die

3. Festnahme am 10.09. (2008) ein und nicht wie in der erstinstanzlichen Aussage am 09.10 2008. Viele Details erwähnte der BF in der Beschwerdeverhandlung zum ersten Mal, obwohl er im erstinstanzlichen Verfahren ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, diese anzugeben. So erwähnte er erstmals von sich aus (d.h. ohne dass er danach gefragt wurde), dass ihm im Keller die Augen verbunden worden seien und beschrieb er erstmals von sich aus detailliertere Folterhandlungen: Während der zweitätigen Anhaltung habe er kein Wasser bekommen und hätte er auch nicht zur Toilette gehen dürfen. Es sei auf ihn eingetreten worden. Bei der viertätigen Anhaltung sei ihm befohlen worden, mit verbundenen Augen in der Zelle zu laufen, wobei er gegen die Wand gestoßen wäre. Als er in der Beschwerdeverhandlung noch einmal aufgefordert wurde, die Folterhandlungen zu beschreiben, erzählte er von Schlägen mit Knüppeln und Fußtritten, dass er gezwungen worden sei, Liegestützen zu machen, dass ihm nicht nur die Augen verbunden worden seien, sonder er sich auch nackt ausziehen hätte müssen und er mit Wasser bespritzt worden sei. Auch habe er unter ein Gitterbett kriechen müssen und jedes Mal, wenn ein Körperteil herausragte, sei auf diesen getreten worden. Betreffend seine Tätigkeit als Hirte in den Bergen erwähnte er in der Beschwerdeverhandlung erstmals, dass er sogar persönlich mit den Guerillas Kontakt aufgenommen hätte. Es ist festzustellen, dass der BF sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens enorm gesteigert hatte. Der BF ist daher keineswegs glaubwürdig.

 

Insoweit der BF das Schreiben seiner Schwester zur Bekräftigung seiner Gefährdung vorlegen möchte, kommt der erkennende Senat in der Bewertung dieses Bescheinigungsmittels zu der Überzeugung: Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Mitglieder der Familie durchaus öfters von staatlichen Organen befragt werden, gibt es doch Anhaltspunkte dafür, dass die Guerilla in der Region immer wieder aktiv ist. Diese Befragung führt aber noch nicht zu dem Schluss, dass asylrelevante Verfolgungshandlungen gegen die befragten Familienmitglieder gesetzt wurden. Es erscheint auch durchaus plausibel, dass nach dem Bruder des BF, R., gefragt wurde, hat sich dieser doch dem Wehrdienst entzogen. Für die Annahme von den geschilderten, äußerst gravierenden Folterhand

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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