TE AsylGH Erkenntnis 2011/04/11 D3 401175-1/2008

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Veröffentlicht am 11.04.2011
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Spruch

D3 401175-1/2008/8E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Vorsitzenden und den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Beisitzer über die Beschwerde der XXXX, StA. Russische Föderation (Tschetschenische Republik), gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.08.2008, Zl. 08 03.535-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.03.2011 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG Asyl gewährt. Gemäß § 3 Abs. 5 leg.cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

Entscheidungsgründe:

 

Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsbürgerin und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, gelangte am 21.04.2008 unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz unter Vorlage ihres Inlandsreisepasses. Sie führte dabei zusammengefasst an, verwitwet zu sein und deshalb aus ihrem Heimatland ausgereist zu sein, weil ihr Sohn getötet worden sei und auch ihre beiden anderen Söhne im Herkunftsstaat Probleme bekommen hätten. Auch sei sie selbst für mehrere Stunden verhört worden, weswegen sie schließlich ihr Heimatland verlassen habe.

 

Im Zuge der ärztlichen Untersuchung im Zulassungsverfahren gab sie an, dass in Österreich noch zwei ihrer Söhne seit Herbst 2007 leben würden. Sie sei nach dem Tod ihres Mannes, der 2001 an den Folgen des Strahlenunfalls in Tschernobyl verstorben sei, auch ganz alleine gewesen und habe zu ihrer Familie gewollt. Nach der Flucht ihrer Söhne habe sie keine Ruhe mehr gehabt und man hätte auch bei ihr nach den Söhnen gesucht und sie gefragt, warum sie ihre Söhne zu den Rebellen gelassen habe. Im Zuge dieser ärztlichen Untersuchung wurden bei der Beschwerdeführerin insbesondere eine Anpassungsstörung mit Depression, Gedankenkreisen, eine Schlafstörung sowie das Restless-Legs-Syndrom festgestellt.

 

Am 03.07.2008 wurde sie vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, einvernommen. Sie führte neben Angaben zu ihrem Fluchtweg im Wesentlichen aus, sie habe in ihrem Heimatland keine Ruhe gehabt, weshalb sie flüchten habe müssen. Am XXXX sei ihr Sohn getötet worden, woraufhin sie mit ihren anderen beiden Söhnen nach Polen geflüchtet sei. Sie sei jedoch in der Folge ohne ihre Söhne unter Inanspruchnahme der polnischen Rückkehrhilfe im XXXX wieder nach Tschetschenien zurückgekehrt. Sie habe geglaubt, dass ihr nichts passieren könne, da ihre Söhne in Polen aufhältig gewesen seien. Im Herkunftsstaat sei jedoch die Polizei immer zu ihr gekommen, um nach ihren Söhnen zu fragen. Außerdem fühle sie sich gesundheitlich nicht gut und sie sei in ihrer Heimat alleine, da ihre Söhne in Österreich seien. Befragt nach einem Beweismittel für ihr Vorbringen zeigte die Beschwerdeführerin ein Handyvideo von ihrem im Sarg liegenden Sohn. Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat fürchte sie, dass sie nicht in Ruhe gelassen werde.

 

Nach der Zulassung des Verfahrens wurde die Beschwerdeführerin am 05.08.2008 vom Bundesasylamt, Außenstelle Traiskirchen, einvernommen. Sie legte diverse ärztliche Befunde vor und führte aus, dass sie bei ihren bisher gemachten Angaben bleibe. Sie gab zusammengefasst an, dass sie verwitwet sei und eine verheiratete Tochter sowie zwei Geschwister noch in ihrem Heimatdorf aufhältig seien. Ihre Tochter könne relativ in Frieden dort leben, da sie schon der anderen Familie angehöre. Ihr Sohn XXXX würde in XXXX und XXXX in XXXX leben, da sie jedoch von der Bundesbetreuung nach XXXX geschickt worden sei, könne sie ihre Söhne nicht öfter sehen. Sie besitze ein Haus im Herkunftsstaat, wo jedoch keiner einziehen könne, da dieses Haus unter Beobachtung stehe und man als Hausbewohner Probleme bekommen würde. Ihr Sohn und zwei andere Männer seien während eines Kampfes mit anderen Soldaten ermordet worden. Ihren Herkunftsstaat habe sie verlassen, da ihre Familie nach der Ermordung ihres Sohnes durch die Behörden unter Problemen gelitten habe. Auch nachdem ihre Söhne ausgereist wären, seien die Behörden immer noch zu ihnen gekommen und hätten sie nach ihren Söhnen befragt. Auch jetzt würden sie noch nach ihren Söhnen fragen, ua. auch bei ihrem Schwager und bei den Freunden ihrer Söhne. Damit nicht auch sie selbst mitgenommen werde, habe sie sich bei ihren Verwandten versteckt und sei schließlich auch ausgereist. Im XXXX - rund zwei bis drei Wochen vor ihrer Ausreise - sei sie auch gemeinsam mit den Eltern eines jungen Mannes, der zusammen mit ihrem Sohn ermordet worden sei, mitgenommen und fünf Stunden lang verhört worden. Während des Verhörs sei sie zwar nicht geschlagen worden, jedoch sei sie Beschimpfungen ausgesetzt gewesen und es sei ihr nicht gut ergangen, da es in diesem Raum sehr kalt gewesen sei. Sie sei befragt worden, ob sie ihren Sohn zu den Rebellen geschickt habe, was sie jedoch verneint habe und sie habe darauf verwiesen, dass ihr Sohn aufgrund von Misshandlungen 2006 zu den Rebellen gegangen sei. Ihre anderen Söhne hätten wegen ihm auch Probleme gehabt, sie hätten ihr jedoch nicht alles erzählt, damit sie sich nicht aufrege. Bei einer Rückkehr fürchte sie den Kontakt mit den Personen und die ewigen Fragen nach ihren Söhnen, was für sie unerträglich sei, auch sei sie nicht gesund.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Traiskirchen, vom 05.08.2008, Zl. 08 03.535-BAT, wurde unter Spruchteil I. der Antrag der Beschwerdeführerin vom 21.04.2008 gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen und ihr der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt, ihr unter Spruchteil II. der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt und unter Spruchteil III. der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 04.08.2009 erteilt.

 

In der Begründung des Bescheides wurden die oben bereits wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt. In der Folge wurden Feststellungen betreffend die Beschwerdeführerin und zu Tschetschenien getroffen. Anschließend wurde beweiswürdigend ausgeführt, dass die Angaben der Antragstellerin, sie habe wegen der Suche nach ihren Söhnen das Herkunftsland verlassen, zum Gegenstand des Verfahrens erhoben worden sei, es sei aber eine asylrelevante Verfolgung ihrer Person daraus nicht zu erkennen. Es würde sich jedoch aus den ärztlichen Unterlagen in ihrem Asylakt ein Abschiebungshindernis ergeben.

 

Zu Spruchteil I wurde insbesondere ausgeführt, dass kein Asylgrund vorliegen würde, weil die geschilderten Befragungen der Beschwerdeführerin lediglich der Suche nach ihren Söhnen gedient hätten und auch keine anderen Fluchtgründe von ihr behauptet worden seien.

 

Zu Spruchteil II wurde nach Anführung der bezughabenden Rechtslage und Judikatur festgehalten, dass der Beschwerdeführerin aufgrund ihres derzeitigen Gesundheitszustandes eine Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht zumutbar gewesen sei, weshalb der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten positiv zu erledigen sei.

 

Zu Spruchteil III. folgten Ausführungen über die befristet zu erteilende Aufenthaltsberechtigung.

 

Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die Antragstellerin Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegende Verwaltungsverfahren mangelhaft sei, weil die belangte Behörde es unterlassen habe, das Vorbringen der Beschwerdeführerin durch spezifische Fragen zu verifizieren und sich mit den Angaben der Beschwerdeführerin konkret auseinander zu setzen. Die Behörde gehe zudem davon aus, dass sich die Verfolgung nur gegen die Söhne gerichtet habe, obwohl die Beschwerdeführerin geschildert habe, auch selbst verfolgt worden zu sein. Da die Behörde keine weiteren Fragen in diesem Zusammenhang gestellt habe, habe sie sie das Recht auf Parteiengehör verletzt. Deshalb werde die Parteieneinvernahme im Rahmen einer anzuberaumenden mündlichen Verhandlung beantragt. Aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung und unrichtiger rechtlicher Beurteilung habe die belangte Behörde nicht erkannt, dass sehr wohl eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung im Sinne der GFK vorliege. Man habe nämlich durch die wiederholten Befragungen und die Festnahme der Beschwerdeführerin Druck auf die gesamte Familie ausüben wollen und sei die Anhaltung der Beschwerdeführerin über eine gewöhnliche polizeiliche Befragung weit hinausgegangen. Die Verfolgung aus politischen Gründen habe sich nicht nur gegen die Söhne der Beschwerdeführerin, sondern gegen die gesamte Familie gerichtet, der man unterstellt habe, Unterstützer der Rebellen zu sein. Die ständig drohenden Übergriffe in Form von erniedrigenden Beschimpfungen, Verhören und Festnahmen hätten in ihrer Gesamtheit ein asylrelevantes Ausmaß erreicht.

 

Zusammen mit der Beschwerde wurde auch die mit 10.06.2008 datierte Vollmacht an Herrn Mag. XXXX übermittelt, die jedoch mit Schreiben vom 14.07.2009 widerrufen wurde.

 

Zwischenzeitig wurden der Beschwerdeführerin mit Bescheiden des Bundesaylamtes nacheinander befristete Aufenthaltsberechtigungen bisher bis zum 04.08.2011 erteilt.

 

Der Asylgerichtshof beraumte eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung für den 28.03.2011 an und räumte der Beschwerdeführerin das Parteiengehör (mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme bis längstens in der mündlichen Beschwerdeverhandlung) zu Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland ein.

 

Zu der für den 28.03.2011 anberaumten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung ließ sich das Bundesasylamt mit Schreiben vom 01.03.2011 entschuldigen und beantragte die Abweisung der Beschwerde. Der Verhandlung war ein Dolmetscher für die tschetschenische Sprache beigezogen.

 

In der Folge führte die Beschwerdeführerin, die einen Patientenbrief des XXXX vom 20.01.2011, einen Situationsbericht vom 21.01.2011 sowie einen Patientenbrief des KH XXXX vom 7.7.2010 in Vorlage brachte, über Befragung durch den vorsitzenden Richter und den beisitzenden Richter im Wesentlichen Folgendes aus:

 

Sie halte ihr bisheriges Vorbringen aufrecht und führte noch aus, dass sie bei der ersten Einvernahme angegeben habe, dass für sie in Tschetschenien keine Lebensgefahr bestehe. Da sie jedoch eine Woche später erfahren habe, dass auch eine alte Mutter in XXXX getötet worden wäre, wolle sie nunmehr angeben, dass für sie doch Lebensgefahr bestehe.

 

Sie sei Tschetschenin, Moslemin und sei am XXXX in XXXX im Gebiet XXXX, in Kasachstan geboren. Schon nach einem Monat sei sie nach XXXX im Rayon XXXX gekommen und bis zu ihrer Ausreise dort aufhältig gewesen. Sie sei bereits einmal nach Polen ausgereist, jedoch wieder nach Tschetschenien zurückgekehrt, da sie regelmäßig auf den Friedhof zu ihrem Sohn gehen habe wollen. Sie sei noch bis April 2008 in Tschetschenien aufhältig gewesen, einige Zeit davon sei sie jedoch bei ihrer Schwester und anderen Verwandten in XXXX gewesen. Sie habe acht Jahre die Grundschule in XXXX besucht, habe jedoch die Schule nicht regelmäßig besuchen können, weil sie sich um ihre kranken Eltern, die XXXX, gekümmert habe. Da ihr Ehemann während der Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl gearbeitet habe, sei er an den Folgen der Strahlenbelastung am XXXX verstorben. Sie habe ab ihrem 12. Lebensjahr in der Landwirtschaft gearbeitet. Nach ihrer Heirat habe sie als Postzustellerin gearbeitet und habe auch Gelegenheitsarbeiten am Bau verrichtet. Ihr Sohn XXXX, der XXXX geboren worden sei, habe unter Lungenproblemen gelitten, sei oft krank gewesen, sei ab ca. XXXX aktiver einfacher Kämpfer gewesen und erschossen worden. Er sei einmal vor seiner Kämpfertätigkeit mitgenommen und mit Strom gefoltert worden.

 

Die Beschwerdeführerin sei bereits 1995 zwei Mal operiert worden und sei immer wieder krank gewesen. Später habe sie wegen der Kämpfertätigkeit ihres Sohnes (auch zu seinen Lebzeiten) immer wieder Probleme gehabt. Nachdem sich ihr Sohn den Kämpfern angeschlossen hätte, seien sie immer wieder zu ihr gekommen, sie habe auch Ladungen erhalten und sie sei auch zwei bis drei Mal einfach in einem Auto mitgenommen worden. Bei ihrer längsten Anhaltung nach dem Tod ihres Sohnes habe sie fünf Stunden bei der Miliz verbringen müssen. Die Beschwerdeführerin sei bedroht worden und danach befragt worden, ob sie für ihren Sohn Waffen besorgt habe. Als sie ein Schreiben unterzeichnet hätte, habe man sie freigelassen. Sie sei nicht geschlagen, sondern erniedrigt und bedroht worden. Man habe ihr die bisher bezogene Rente, die sie als Witwe eines Arbeiters in Tschernobyl erhalten habe, gestrichen und ihr 48.000,- Rubel Strom- und Gaskosten auferlegt. Nach ihrer Rückkehr aus Polen sei sie am 13.04.2008 wieder ausgereist. Nur wenige Tage zuvor sei sie das letzte Mal mitgenommen worden und ihr sei dabei angedroht worden, dass sie nie mehr in Ruhe gelassen werde. Die Miliz sei immer wieder zu ihr nach Hause gekommen, die Personen seien grob zu ihr gewesen und hätten sie beschimpft. Sie hätten das ganze Haus durchsucht und sie auch danach befragt, ob andere Mütter von Kämpfern auch zu ihr gekommen seien. Sie hätten sie auch immer mitgenommen, wenn sie das Dachgeschoss durchsucht hätten, weil sie befürchteten, dass sie ihren bewaffneten Sohn XXXX versteckt habe. Sie habe gedacht, dass sie nie mehr in Ruhe leben könne. In ihrem Alter würde man nicht ohne Grund wegfahren, zudem habe sie ihre Tochter in Tschetschenien zurückgelassen. Ihr Bruder und ihre Schwester seien noch in Tschetschenien und sie würde manchmal mit ihnen telefonieren. Ihre Verwandten hätten Angst über Telefon etwas zu erzählen. Der Onkel ihres Schwiegersohnes sei bei der Miliz und habe gefragt, ob im Haus der Beschwerdeführerin noch jemand lebe, weil sich dort regelmäßig Kämpfer verstecken würden. Außerhalb von Tschetschenien, aber innerhalb der Russischen Föderation in XXXX würde noch ein Bruder ihres Mannes leben, der jedoch aufgrund der Tätigkeit ihres Sohnes keinen Arbeitsplatz finden könne und es auch für die Beschwerdeführerin selbst gefährlich dort wäre. Sie sei darüber informiert worden, dass bei der Miliz ein Bild ihres Sohnes hängen würde.

 

Am 31.03. wolle die Beschwerdeführerin einen Deutschkurs beginnen, derzeit lebe sie mit ihrem älteren Sohn, der vier Kinder habe, in einer Wohnung. Ihr jüngerer Sohn habe eine Frau und ein Kind.

 

Die Beschwerdeführerin sei in Österreich mehrmals operiert worden, habe Narbenschmerzen, Probleme mit dem Gedächtnis und mit der Orientierung. Sie habe immer Schwindelanfälle und Schlafstörungen. Im April habe sie einen Termin bei einer Psychologin, Medikamente erhalte sie von ihrem Hausarzt.

 

Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation würden dies ihre Nachbarn, die bei Kadyrow arbeiten würden, erfahren und sie würde sogleich mitgenommen werden. In Tschetschenien sei es nicht so schön, wie es berichtet werde. Ihr seien mehrere Vorfälle im Zusammenhang mit Rückkehrern bekannt.

 

Auf ihrem Mobiltelefon zeigte die Beschwerdeführerin schließlich noch eine Videosequenz von ihrem Sohnes XXXX als Kämpfer und seinen Leichnahm. Sie ersuchte um Gewährung des Status eines Asylberechtigten, wie er ihren Söhnen gewährt worden sei, da sie sich mit dem Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht ausreichend sicher fühle.

 

Befragt nach den übermittelten Tschetschenien-Feststellungen führte die Beschwerdeführerin aus, es sei nicht so wie es dort berichtet werde, da es verschönt wiedergegeben werde. Der Vater und die Ehefrau des Kämpfers, der zusammen mit ihrem Sohn getötet worden wäre, hätten auch das Land verlassen müssen und würden sich derzeit in Frankreich aufhalten.

 

Der Asylgerichtshof hat wie folgt festgestellt und erwogen:

 

Zur Person der Beschwerdeführerin wird Folgendes festgestellt:

 

Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsbürgerin und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, ist am XXXX in XXXX in Kasachstan geboren. Mit einem Monat übersiedelte sie nach XXXX im Rayon XXXX, wo sie bis zu ihrer Ausreise aufhältig gewesen ist. Seit ihr Mann 2001 an den Folgen des Strahlenunfalls in Tschernobyl verstorben ist, ist sie Witwe. Ihr XXXX geborener Sohn XXXX wurde verschleppt, mit Strom gefoltert und entschloss sich, sich den Rebellen anzuschließen. XXXX war in der Folge ab XXXX aktiver einfacher Kämpfer. Die Beschwerdeführerin wurde von Personen der Miliz immer wieder besucht und nach XXXX befragt, erhielt Vorladungen und wurde einige Male angehalten. Ihr Sohn XXXX wurde im XXXX zusammen mit zwei anderen Männern während eines Kampfes mit anderen Soldaten ermordet. Nach der Ermordung ihres Sohnes hatte die Beschwerdeführerin bei ihrer längsten Anhaltung fünf Stunden bei der Miliz verbringen müssen. Die Beschwerdeführerin wurde bedroht und dazu gezwungen ein Schreiben zu unterzeichnen, damit sie freigelassen wurde. Sie wurde erniedrigt, bedroht und man enthielt ihr die bisher bezogene Rente, die sie als Witwe eines Arbeiters in Tschernobyl erhalten hatte vor. Aufgrund ihrer eigenen Probleme mit den Behörden, und da man auch ihren beiden anderen Söhnen XXXX und XXXX die Unterstützung der Rebellen unterstellt hatte und diese gewaltsam verschleppt sowie misshandelt worden waren, verließ die Beschwerdeführerin zusammen mit ihren beiden Söhnen den Herkunftsstaat und flüchtete mit ihnen nach Polen. Die Beschwerdeführerin gelangte jedoch ohne ihre Söhne, die in der Folge weiter nach Österreich gelangt waren, unter Inanspruchnahme der polnischen Rückkehrhilfe im XXXX wieder nach Tschetschenien zurück. Auch nachdem ihre Söhne ausgereist waren, wurde die Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat weiterhin von den Behörden aufgesucht und nach ihren Söhnen befragt. Im XXXX - rund zwei bis drei Wochen vor ihrer endgültigen Ausreise aus dem Herkunftsstaat - wurde sie gemeinsam mit den Eltern eines jungen Mannes, der zusammen mit ihrem Sohn ermordet worden war, mitgenommen und fünf Stunden lang in einem sehr kalten Raum verhört, beschimpft, und ihr wurde angedroht, dass man sie nie mehr in Ruhe lassen werde. Ihr wurde unterstellt, dass sie ihrem ermordeten Sohn Waffen besorgt hätte. Schließlich gelangte die Beschwerdeführerin am 21.04.2008 unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich, wo sie den gegenständlichen Asylantrag stellte. Die Behörden im Herkunftsstaat erkundigen sich auch derzeit noch nach dem Aufenthalt ihrer Söhne. Die Beschwerdeführerin wurde mehrmals operiert und leidet an zahlreichen körperlichen Beschwerden sowie an einer Anpassungsstörung mit Depression und unter Schlafstörungen.

 

Ihre verheiratete Tochter sowie zwei Geschwister leben derzeit noch im Heimatdorf der Beschwerdeführerin. Außerhalb von Tschetschenien, aber innerhalb der Russischen Föderation ist noch ein Bruder ihres Mannes aufhältig, dem es jedoch aufgrund der Kämpfertätigkeit ihres Sohnes nicht möglich ist, einen Arbeitsplatz zu finden.

 

Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.07.2008 wurde ihrem Sohn XXXX, Zl. 07 10.047, und mit rechtskräftigem Bescheid vom 24.07.2008 wurde ihrem Sohn XXXX, Zl. 07 08.177, gemäß § 3 AsylG 2005 in Österreich Asyl gewährt.

 

Zu Tschetschenien und einer inländischen Fluchtalternative von Tschetschenen in Russland wird Folgendes festgestellt:

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

 

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

 

Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut. Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.

 

Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten.

 

Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".

 

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

 

(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:

Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, )

 

1. Allgemeine Sicherheitssituation

 

Präsident Ramzan Kadyrow hat in Tschetschenien ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheitsals auch bei der Menschenrechtslage hatte sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wurde von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben. Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs reagierten die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Die Entführungszahlen stiegen wieder an: Memorial hat 74 Entführungsfälle für die erste Jahreshälfte 2009 registriert (im Gesamtjahr 2008 waren es im Vergleich 42). Die Entführungen wurden größtenteils den (vor allem republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden (nach Informationen von Memorial) - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)

 

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.

 

Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.

 

(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)

 

Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.

 

Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)

 

Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.

 

Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet werden. Dadurch konnte die Sicherheitslage in Tschetschenien weitgehend stabilisiert werden. Andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5)

 

2. Verfolgungsgefahr

 

2.1. Zivilbevölkerung

 

Glaubwürdigen Berichten von NROs, internationalen Organisationen und der Presse zufolge haben sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)

 

Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:

Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.

 

In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)

 

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Bisher gibt es nur sehr wenige Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Im Juni 2007 verhängte dasselbe Gericht in der "Sache Ulman" Haftstrafen zwischen neun und 14 Jahren gegen vier Offiziere wegen der Erschießung von sechs tschetschenischen Zivilisten im Dezember 2002. Ulman und Mittäter waren zuvor zwischen 2002 und 2005 zweimal von Geschworenengerichten freigesprochen worden, bis der russische Verfassungsgerichtshof diese Freisprüche kassierte und eine erneute gerichtliche Prüfung des Falls anordnete. Drei der Verurteilten sind allerdings untergetaucht. Für Aufsehen sorgte die vorzeitige Entlassung von Ex-Oberst Budanow. Er war 2003 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er im Jahr 2000 eine 18-jährige Tschetschenin getötet hatte, und ist im Januar 2009 vorzeitig aus der Haft entlassen worden.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19)

 

Eine Gefahr für Zivilisten stellen nicht nur die Kämpfe zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften dar, sondern auch die in der Republik verbreiteten Anti-Personenminen. Rund 14.000 Hektar, etwa 1% des gesamten Territoriums sollen weiterhin vermint sein. 2008 starben 39 Personen, zwischen 2005 und 2008 insgesamt 171 Personen durch Anti-Personenminen und Blindgänger. Die Zahl der Todesfälle ging in diesen drei Jahren mit jedem Jahr zurück. Des Problems der Minen ist man sich bewusst, zuletzt sprach sich Präsident Medwedew im August 2010 für weitere Minenräumungen in Tschetschenien aus. (Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 19-20)

 

Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Dokku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.

 

Die Anführer der einzelnen Gruppen ("Dschamaat") nennen sich "Emir". Das traditionelle Rückzugsgebiet in den Wäldern der schwach besiedelten Bergregion im Süden des Landes wird nach wie vor genutzt. Insbesondere die Grenzgebiete zu den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan sind von Bedeutung. Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Dokku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)

 

Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Vorfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Sowohl bei den Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14)

 

Eine weitere Strategie, Rebellen zu bekämpfen, besteht darin, Angehörige vermeintlicher Rebellen unter Druck zu setzen, um diese zur Aufgabe zu bewegen. Nachdem dieses Vorgehen Menschenrechtsorganisationen zufolge in den letzten Jahren zurückgegangen war, wird seit 2008 wieder vermehrt über solche Repressalien berichtet. So etwa dokumentierte die NRO Human Rights Watch zwischen Juli 2008 und Juli 2009 über zwei Dutzend Fälle, bei denen tschetschenische Sicherheitskräfte Häuser von Familien angeblicher Untergrund-kämpfer angezündet haben - als Strafe dafür, dass ein Sohn oder Enkel Widerstandskämpfer sei. Seit Sommer 2009 erhielt Human Rights Watch weitere Berichte über Haus-Niederbrennungen, zuletzt im März 2010 in Schali. Hochrangige lokale Politiker wie Ramzan Kadyrow oder der Bürgermeister von Grosny Muslim Chutschijew sprachen sich explizit für diese Art der kollektiven Bestrafung aus. Des Weiteren gibt es Berichte, denen zufolge Sicherheitskräfte Rebellen zu vergiften versuchen.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 12)

 

2.2.1. Das Vorgehen der Rebellen

 

In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Tschetschenische Kämpfer begannen zunehmend auf Terrorakte zu setzen, wie etwa die Geiselnahme im Moskauer Theater Dubrowka 2002, die Geiselnahme an der Schule von Beslan 2004 oder der Angriff auf Naltschik 2005. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.

 

Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können. Die kleine Gruppengröße (Berichten zufolge fünf bis zehn Kämpfer pro Gruppe) erleichtert es, flexibel zu bleiben, die Standorte häufig zu wechseln und die Infiltration durch Gegner zu erschweren. Regelmäßig - aus Medienberichten zu schließen mehrmals monatlich - kommt es zu Angriffen gegen staatliche Einrichtungen und Sicherheitskräfte, ebenso wie gegen vermeintliche Gegner der Rebellen. Seit 2008 führt die islamistische Rebellenbewegung im Nordkaukasus wieder vermehrt Selbstmordattentate durch, die insbesondere auf lokale Sicherheitskräfte abzielen, jedoch auch zahlreiche zivile Opfer fordern. Nachdem sich im Jahr 2001 die erste so genannte "Schwarze Witwe" in die Luft gesprengt hatte, kam es nicht zuletzt durch die Gründung des Selbstmordkommandos "Riyadus Salihin" ("Gärten der Tugendhaften") durch Schamil Bassajew regelmäßig zu Selbstmordanschlägen. 2004 riss diese Reihe ab, nach einer ungefähr vierjährigen Pause kam es zu einer Wiederbelebung der Riyadus Salihin durch Said Buryatsky (Alexandr Tichomirow) Ende 2008. Im Jahr 2009 kam es ab dem Sommer in Tschetschenien zu mindestens zehn Selbstmordanschlägen. Danach ging deren Häufigkeit zwar wieder zurück, dennoch kam es auch 2010 zu, je nach Quelle, ein bis zwei Selbstmordanschlägen.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)

 

2.2.2. Schwächung der Rebellenbewegung

 

Im letzen Jahr kamen zahlreiche Anführer des Kaukasus Emirats ums Leben, darunter auch tschetschenische. Zuletzt wurde am 21. August 2010 der "Emir von Grosny", Chamsat Schamilew, bei einem Sondereinsatz getötet. Gerade in Tschetschenien selbst gelang es im Gegensatz zu Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien aber nicht, auch bedeutende Führungspersönlichkeiten wie Dokku Umarow, festzunehmen oder zu liquidieren. Ob die Tötung von Führungspersönlichkeiten zu einer Schwächung der tschetschenischen Rebellenbewegung führen würde ist fraglich. Das Beispiel der anderen Republiken zeigt, dass dies zumindest kurzfristig nicht zu einer entscheidenden Schwächung der einzelnen Dschamaat führt. 2009 wurden den offiziellen Angaben zufolge 148 Kämpfer "liquidiert", 290 Kämpfer und Unterstützer wurden verhaftet. Jedoch scheint der Zulauf zur Rebellenbewegung weiterhin stabil zu sein.

 

Die nordkaukasische Widerstandsbewegung wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert. Radikal-islamisches Gedankengut findet jedoch in Tschetschenien kaum Sympathien in der Bevölkerung, die Islamisten können sich durch den hohen Repressionsdruck nicht frei in der Öffentlichkeit bewegen. Obwohl die radikal-islamische Ausrichtung einige Männer abschrecken soll sich den Kämpfern anzuschließen, scheint die nordkaukasische Rebellenbewegung keine Probleme zu haben, neue Mitglieder zu rekrutieren. Dabei soll es sich um eine neue Generation vor allem junger Männer handeln, die aufgrund des gewalttätigen Vorgehens der lokalen Sicherheitskräfte gegen vermeintliche Rebellen und ihre Angehörige radikalisiert werden. Aber auch junge Frauen schließen sich vereinzelt der Rebellenbewegung an. Dazu kommen sozioökonomische Gründe: Bei der hohen Arbeitslosenrate fehlt vielen jungen Tschetschenen die Perspektive. Das radikal islamistische Gedankengut spielt bei der Rekrutierung eine untergeordnete Rolle, viele werden erst als Mitglied der Untergrundbewegung indoktriniert.

 

Obwohl die Rekrutierung neuer Mitglieder kein Problem darstellt, gehen den tschetschenischen Kämpfern einigen Beobachtern zufolge zusehends die Ressourcen aus, da es Kadyrow und russischen Sicherheitskräften gelungen sei, ihre Versorgungslinien abzuschneiden. Am 1. August 2010 wurde ein Video von Dokku Umarow veröffentlicht, in dem er seinen Rücktritt erklärte. Am nächsten Tag erklärte er in einem weiteren Video, dass ersteres gefälscht gewesen wäre und er nicht zurücktrete. Seitdem ranken sich die Gerüchte über die Gründe für diese widersprüchlichen Aussagen, zum Beispiel wird gemutmaßt, ob es einen Putsch jüngerer Emire gegeben hat, die Umarow zum Rücktritt gezwungen hatten oder ob Umarow unter Druck stand, weil er als schlechter militärischer Stratege betrachtet wird oder ihm die Schuld an der Schwächung des tschetschenischen Flügels des Emirats gegeben wurde.

 

Anderen Spekulationen zufolge hatten einige Emire der anderen Republiken nach dem Rücktritt Umarows dessen von ihm ernannten Nachfolger Aslanbek Wadalow (Emir Aslanbek) nicht anerkannt, was Umarow zu diesem "Rücktritt vom Rücktritt" zwang. Einer wiederum anderen Interpretation der Ereignisse zufolge handelte es sich um einen von langer Hand geplanten Coup des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), um Umarows Position als Anführer des Kaukasus Emirats zu unterminieren. Der tschetschenische Emir Aslanbek selbst trat Mitte August als Stellvertreter Umarows (naib), zu dem er erst im Juli 2010 ernannt worden war, zurück. Er und Husein Gakajew, ebenfalls erst im Juli zum Emir des Gebiets Tschetscheniens des Kaukasus Emirats ernannt, erklärten Umarow nunmehr nicht die Treue halten zu können. Dem folgten auch die beiden bekannten, in Tschetschenien aktiven Emire Tarchan und Muchannad, wenngleich sich alle als dem Kaukasus Emirat weiterhin verpflichtet erklärten. Andere Emire des in Kabardino-Balkarien und Karatschajewo-Tscherkessien tätigen Jarmuk Dschamaat und des inguschetischen und des Dagestan Dschamaat hingegen erklärten Umarow weiterhin ihre Loyalität. Diese jüngsten Vorgänge werden vielfach als Spaltung innerhalb der Rebellenbewegung interpretiert.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16-18)

 

Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)

 

Die Rebellenbewegung erfuhr durch den Verlust hunderter Kämpfer und hochrangiger Kommandeure durch Tod oder Überlaufen eine Schwächung, die sich ab 2003 bemerkbar machte. Dies führte aber aufgrund des nicht abzubrechen scheinenden Zulaufs zur Rebellenbewegung nicht zu einer Ausmerzung dieser, Angriffe auf Sicherheitskräfte werden regelmäßig durchgeführt. Am 29. August 2010 wurde die Heimatstadt Ramzan Kadyrows, Zenteroi, von einer Gruppe von 30 bis 60 islamistischen Kämpfern angegriffen. Überraschend war hier vor allem, dass eine so große Einheit angriff. Der Angriff zeigt aber auch, dass die Rebellen zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind, schließlich gilt Zenteroi als die am besten bewachte Stadt Tschetscheniens.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 18)

 

2.2.3. Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen

 

Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Klanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)

 

Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Tschetschenische Parlamentsabgeordnete, die eine Geiselnahme fürchteten, flüchteten in den zweiten Stock. Russische Parlamentarier, die aus der Ural-Region Swerdlowsk angereist waren, wurden evakuiert. Tschetschenische Polizisten verließen mit blutenden Köpfen das Gebäude. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind. Kadyrow, das von Putin eingesetzte Oberhaupt Tschetscheniens, versuchte den Vorfall herunterzuspielen. Seine Sicherheitskräfte hätten nur 20 Minuten gebraucht, um den Angriff auf das Parlament abzuwehren. Doch nach Medienberichten dauerten die Feuergefechte über eine Stunde.

 

(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)

 

Am 6. Juli forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.

 

(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)

 

3. Versorgungslage

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den Jahren seit 2007 deutlich verbessert.

Einige Indizien hierfür liefern die offiziellen Statistiken: Die Durchschnittslöhne in Tschetschenien liegen spürbar über denen in den Nachbarrepubliken. Das laufende föderale Hilfsprogramm zum Aufbau Tschetscheniens sieht 111 Mrd. Rubel (2,5 Mrd. ¿) für die Jahre 2008-2011 vor. Damit sind die Staatsausgaben in Tschetschenien pro Einwohner doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19 und 20)

 

3.1. Wohnsituation

 

Im Juli 2003 führte die Regierung Kompensationszahlungen ein. Im Rahmen dessen sollten Personen, deren gesamtes Eigentum zerstört worden war, 350.000 Rubel bekommen. Der föderalen Regierung zufolge hatten bis Ende 2004 39.000 Personen solche Kompensationszahlungen erhalten. Zusätzlich zu Regierungsprogrammen unterhalten humanitäre Organisationen Programme zur Beschaffung von Unterkünften. Zwischen 2000 und 2007 wurden in Tschetschenien rund 20.000 Häuser mit der Hilfe humanitärer Organisationen repariert oder aufgebaut.

 

(BAA - ÖIF, Soziale Infrastruktur in Tschetschenien; August 2009, Seite 9)

 

Wohnraum bleibt ein großes Problem. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden während der kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1994 über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten, oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Verschiedene Schätzungen, u.a. des ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten des Europarates Gil Robles, gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 20)

 

3.2. Nahrungsversorgung

 

Der Bazar in Grosny wurde wiedereröffnet und es ist praktisch alles erwerbbar, allerdings nicht immer zu leistbaren Preisen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat seine Aufmerksamkeit weg von Hilfsleistungen hin zum Aufbau von eigenständiger Versorgung gelenkt. So wurden Projekte für die Förderung der Eröffnung von kleinen Geschäften - z.B. Schuhreparaturwerkstätten, Bäckereien, Verarbeitung von Wolle und Herstellung von Kleidung - ins Leben gerufen.

 

Auf Grund zahlreicher Landminen und der bestehenden Bodenverschmutzung ist es in Tschetschenien nur schwer möglich, Landwirtschaft oder Viehzucht zu betreiben. Haupteinnahmequelle ist der Handel, viele Familien leben auch davon, dass Familienangehörige Geld aus anderen Teilen Russlands oder dem Ausland nach Tschetschenien schicken. Berichten des World Food Programm zu Folge ist die Versorgungslage in Tschetschenien jedoch nach wie vor schlecht. Etwa 80% der Betroffenen würden unter der Armutsgrenze der Russischen Föderation leben. Überdies seien 10% der Kinder akut unterernährt.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010)

 

Das Notfall- und Rehabilitationsprogramm im Nordkaukasus soll für die Ernährungssicherheit und Ernährung durch "Empowerment" gefährdeter Bevölkerungsgruppen sorgen. Diese Ziele sollen dadurch erreicht werden, indem man die landwirtschaftliche und die auf Viehzucht basierende Produktion wiederaufnimmt und gleichzeitig verstärkt neue Kenntnisse über Ernährung und Klein-Farmbetriebe anwendet.

 

Die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation) nahm am Inter-Agency-Transitional-Arbeitsplan für den Nordkaukasus 2007 teil, der die Durchführung von Aktivitäten zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und Stärkung ländlicher Existenzmöglichkeiten in der Region beabsichtigt. Insbesondere gehören zu den wichtigsten Zielen der FAO im Bereich der Wiederaufnahme der landwirtschaftlichen Produktion die Wiedereingliederung von sozial benachteiligten Gruppen, die Bereitstellung von landwirtschaftlichen Betriebsmitteln für Einkommen schaffende Maßnahmen, der Wiederaufbau der wichtigen landwirtschaftlichen Infrastruktur, die Gewährung von Dienstleistungen sowie die Stärkung der institutionellen Kapazitäten in der Landwirtschaft.

 

Landwirtschaftliche Projekte wurden in der Region durch die 2006 von der FAO errichtete Emergency and Rehabilitation Coordination Unit (ERCU) umgesetzt. Laufende FAO-Aktivitäten beinhalten derzeit die Förderung der Gewächshausproduktion und die Vermarktung von hochwertigen Nutzpflanzen. Die FAO realisiert gerade zwei Projekte, die sich mit Gewächshausproduktion beschäftigen, von denen ein Projekt auch eine kleine Imkerei beinhaltet. Diese Projekte zielen auf Grundversorgungsempfänger ab, die vom Konflikt betroffen sind, mit dem Ziel der Verringerung der Abhängigkeit von externer Hilfe in Tschetschenien und Inguschetien durch vielversprechende Ertragsmöglichkeiten und der Gründung der landwirtschaftlichen Genossenschaften. Die Herangehensweise der FAO, die sich daran orientiert Klein-Agrarbetriebe zu errichten, stimuliert lokale kleine landwirtschaftliche Märkte.

 

(Homepage der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation), Zugriff am 11. Jänner 2011,

http://www.fao.org/countries/55528/en/rus/)

 

3.3. Arbeitslosigkeit und soziale Lage

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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