TE AsylGH Erkenntnis 2011/04/12 D6 246035-2/2008

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Veröffentlicht am 12.04.2011
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Spruch

D6 246035-2/2008/5E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Vorsitzenden und den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Beisitzer über die Beschwerde der XXXX, StA. Ukraine, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.9.2004, Zl. 04 00.988-BAT, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

In Erledigung der Beschwerde wird Spruchpunkt I. des bekämpften Bescheides behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG iVm § 23 Abs. 1 AsylGHG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Die Beschwerdeführerin, eine ukrainische Staatsangehörige, stellte nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 19.1.2004 den vorliegenden Antrag auf Gewährung von Asyl. Zuvor hatte sie unter Angabe einer falschen Identität am 4.3.2003 einen Asylerstreckungsantrag gestellt, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes abgewiesen wurde, wobei der Unabhängige Bundesasylsenat in Erledigung der dagegen erhobenen Berufung den angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes mit Bescheid vom 29.1.2004, 246.035/0-VII/20/04, behob, da die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 15.1.2004 den Asylerstreckungsantrag zurückgezogen hatte).

 

1. In ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 8.4.2004 gab die Beschwerdeführerin insbesondere an, sie habe in Tschechien Probleme mit Zuhältern und dem Vater ihres Sohnes gehabt, weshalb sie zunächst einen falschen Namen angegeben habe. In der Ukraine sei ihr Lebensgefährte, der sich als Drogenkurier entpuppt habe, verschwunden. In der Folge sei sie von Mitarbeitern seiner Firma aufgesucht und nach seinem Aufenthaltsort gefragt worden, da er angeblich einen hohen Geldbetrag schuldig geblieben sei. Weil ihr die Situation zu viel geworden sei, habe sie eine Anzeige bei der Miliz erstattet, sei jedoch kurz darauf von der Miliz angerufen und zur Zurücknahme der Anzeige aufgefordert worden. Schließlich hätten drei bzw. fünf Personen die im sechsten Monat schwangere Beschwerdeführerin derart zusammengeschlagen, dass sie ihr Kind verloren habe. Die Täter hätten dabei stets angemerkt, sie seien von der zuvor erwähnten Firma. Die Männer hätten sie zwei Mal vergewaltigt; einmal habe man ihr gewaltsam Drogen verabreicht und sie mittels verunreinigter Injektionsnadel mit einer Geschlechtskrankheit infiziert. Wegen ihrer Krankheit sei sie in einer Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten registriert worden. Sie habe "das alles" zur Anzeige gebracht, wobei ihr von den Ermittlungsbeamten geraten worden sei, die Anzeige zurückzuziehen. In der Zwischenzeit habe sie erfahren, dass ihr Freund getötet worden sei, wobei man zwar sein Auto als Wrack gefunden habe, nicht jedoch seine Leiche.

 

Sie habe sich - so die Beschwerdeführerin weiter - nicht nur an die Behörden, sondern auch an die Partei "Ruch" gewandt, welche die geschilderten Vorfälle in deren Zeitung veröffentlicht habe. In der Folge sei ihr Sommerhaus angezündet worden, und die Firma ihres damaligen Lebensgefährten habe ihr das Auto gestohlen. Mit ihrer in der Ukraine lebenden Mutter sei sie nach wie vor in Kontakt. Diese habe ihr auch berichtet, dass die Beschwerdeführerin dort noch immer gesucht werde. In Tschechien sei sie bei der Suche nach Arbeit von einer russisch-tschetschenischen Bande an den Besitzer eines Nachtclubs verkauft worden, in der Folge jedoch aus dem Club geflüchtet. Danach habe sie in einer Fabrik zu arbeiten begonnen, sei jedoch für ihre Tätigkeit nicht entlohnt worden.

 

2. Mit Bescheid vom 15.9.2004 wies das Bundesasylamt den Antrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I 76, ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl. I 76 idF BGBl. I 101/2003 (im Folgenden: AsylG 1997), stellte es fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Ukraine nicht zulässig sei (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 3 iVm § 15 Abs. 2 AsylG 1997 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15.9.2005. Nach Wiedergabe des Einvernahmeprotokolls traf das Bundesasylamt Feststellungen zur Situation in der Ukraine und stellte darüber hinaus insbesondere die Identität und Nationalität der Beschwerdeführerin fest. Weiters stellte es fest, dass die Beschwerdeführerin ihr Heimatland aufgrund erlittener und auch künftig zu befürchtender körperlicher Übergriffe durch kriminelle Privatpersonen verlassen habe. Da eine asylrelevante Verfolgungsgefahr jedoch nicht vorliege, sei die Beschwerdeführerin nicht Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention.

 

Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt neben allgemeinen Ausführungen zur Glaubhaftmachung eines Vorbringens aus, das Vorbringen der Beschwerdeführerin entspreche diesen Anforderungen "nur teilweise" und wies auf die zunächst falschen Identitätsangaben der Beschwerdeführerin sowie auf die Gewalttätigkeit des zunächst als Ehemann ausgegebenen M. S. gegenüber der Beschwerdeführerin hin. Nach Darstellung des Verlaufes des von der Beschwerdeführerin eingeleiteten Asylerstreckungsverfahrens führte das Bundesasylamt schließlich aus, dass die Angaben der Beschwerdeführerin in ihrer Einvernahme vom 8.4.2004 "zur Entscheidung im Gegenstand herangezogen" worden seien. Die Beschwerdeführerin habe den unterbliebenen Schutz für sich und ihr Kind durch staatliche Stellen glaubhaft gemacht.

 

Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung vertrat das Bundesasylamt die Ansicht, dass die von der Beschwerdeführerin geschilderten Vorkommnisse einerseits die "geforderte Aktualität des Erlebten" nicht mehr erfüllen und andererseits nicht von den Behörden ihres Heimatlandes, sondern von gewaltbereiten Privatpersonen ausgehen würden. Dem Vorbringen seien keine Anhaltspunkte zu entnehmen, wonach der Beschwerdeführerin in ihrer Heimat irgendeine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung drohe. Die Gerichtsbarkeit der Ukraine befinde sich zudem erst im Aufbau, und die dortigen obersten Gerichte seien bemüht, Übergriffe und strafbare Handlungen bei Kenntniserlangung zu ahnden. Es könne jedoch von keinem Staat verlangt werden, jeden seiner Staatsbürger jederzeit zu schützen. Eine von gewaltbereiten Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung ausgehende Bedrohung der Bevölkerung sei dem Staat auch nur dann zurechenbar, wenn er nicht bereit oder gewillt sei, allenfalls notwendigen Schutz vor Übergriffen Privater auf die Bevölkerung zu bieten. Das Bundesasylamt gelange nach eingehender rechtlicher Würdigung zur Ansicht, es sei nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat Verfolgung drohe, weshalb der Antrag abzuweisen sei.

 

Zu Spruchpunkt II. wies das Bundesasylamt u.a. hin, dass die Beschwerdeführerin glaubhaft gemacht habe, dass die staatlichen Stellen nicht in der Lage gewesen seien, sie effektiv gegen die Übergriffe krimineller Personen zu schützen. Wenngleich eine asylrelevante Verfolgung nicht vorliege, sei doch zu befinden, dass sich die Ukraine in einer schwierigen Umwälzungsphase befinde. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin, die Berücksichtigung individueller Faktoren (Lage von allein stehenden Frauen mit Kindern, familiäre Lage, Anknüpfungspunkte etc.) sowie die derzeitige Lage in der Ukraine für allein stehende Frauen mit Kindern würden dazu führen, dass im gegenständlichen Fall die Kriterien für eine ausweglose Lage "derzeit (noch)" vorlägen und der Beschwerdeführerin somit die Lebensgrundlage im Herkunftsstaat entzogen sei.

 

3. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht (eine als Berufung bezeichnete) Beschwerde und wies insbesondere darauf hin, dass sie verfolgt werde, weil sie als alleinstehende Frau die Machenschaften einer kriminellen Organisation zur Anzeige gebracht habe.

 

4. In der Folge wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung der Beschwerdeführerin kontinuierlich verlängert.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Gemäß § 23 Abs. 1 Asylgerichtshofgesetz (Art. 1 BGBl. I 4/2008 idF BGBl. I 147/2008; im Folgenden: AsylGHG) sind - soweit sich aus dem Asylgesetz 2005, BGBl. I 100 (im Folgenden: AsylG 2005), nicht anderes ergibt - auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des AVG mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

2. Gemäß § 75 Abs. 1 erster Satz AsylG 2005 idF BGBl. I 29/2009 sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des AsylG 1997 (idF BGBl. 101/2003) zu Ende zu führen. Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 ist für Asylanträge, die vor dem 1.5.2004 gestellt wurden, das Asylgesetz 1997 idF BGBl. I 126/2002 anzuwenden; auf diese Verfahren sind jedoch gemäß § 44 Abs. 3 AsylG 1997 die Bestimmungen der §§ 8, 15 AsylG 1997 ebenfalls anzuwenden.

 

3. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG iVm § 23 Abs. 1 AsylGHG kann der Asylgerichtshof - wenn der ihm vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint - den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverweisen. Gemäß § 66 Abs. 3 AVG iVm § 23 AsylGHG kann der Asylgerichtshof jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.

 

Der Verwaltungsgerichtshof betonte in seiner langjährigen Rechtsprechung zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG in Asylsachen (vor Inkrafttreten des AsylGHG), dass dem Unabhängigen Bundesasylsenat - einer gerichtsähnlichen, unparteilichen und unabhängigen Instanz als besonderen Garanten eines fairen Asylverfahrens - die Rolle einer "obersten Berufungsbehörde" im Rahmen eines zweiinstanzlichen Verfahrens (mit nachgeordneter Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) zukomme (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084; 21.11.2002, 2002/20/0315; ähnlich auch VwGH 12.12.2002, 2000/20/0236; 30.9.2004, 2001/20/0135). In diesem Verfahren habe bereits das Bundesasylamt den gesamten für die Entscheidung über den Asylantrag relevanten Sachverhalt zu ermitteln, und es sei grundsätzlich verpflichtet, den Asylwerber dazu persönlich zu vernehmen. Diese Anordnungen würden aber unterlaufen, wenn ein Ermittlungsverfahren in erster Instanz unterbliebe und somit nahezu das gesamte Verfahren vor die Berufungsbehörde verlagert würde, sodass die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen zur bloßen Formsache würde. Das wäre etwa der Fall, wenn es das Bundesasylamt ablehnte, auf das Vorbringen des Asylwerbers sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen. Es liege nicht im Sinne des Gesetzes, wenn es die Berufungsbehörde ist, die erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und beurteilt, sodass sie ihre umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Eine ernsthafte Prüfung des Antrages solle nicht erst bei der "obersten Berufungsbehörde" beginnen und zugleich enden, sehe man von der im Sachverhalt beschränkten Kontrolle ihrer Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof ab. Dies spreche auch bei Bedachtnahme auf eine mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens dafür, nach § 66 Abs. 2 AVG vorzugehen.

 

Der erkennende Senat des Asylgerichtshofes sieht keinen Grund anzunehmen, dass sich die dargestellte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht auf die (mit Inkrafttreten der B-VG-Novelle BGBl. I 2/2008 sowie des AsylGHG geänderte) neue Rechtslage übertragen ließe. Es liegt weiterhin nicht im Sinne des Gesetzes, wenn der Asylgerichtshof erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und beurteilt, sodass er seine umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Eine ernsthafte Prüfung des Antrages soll nicht erst beim Asylgerichtshof beginnen und - sieht man von der auf Verfassungsfragen beschränkten Kontrollbefugnis durch den Verfassungsgerichtshof ab - zugleich enden.

 

4. Vorausschickend weist der Asylgerichtshof darauf hin, dass Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ausschließlich der Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist; auf der Grundlage der vom Bundesasylamt im vorliegenden Fall getroffenen Feststellungen, die der erkennende Senat hinsichtlich der tragischen Ereignisse, denen die Beschwerdeführerin insbesondere vor ihrer Einreise nach Österreich ausgesetzt war, nicht in Zweifel zieht, ist der Asylgerichtshof weder befugt, noch sieht er irgendeine Veranlassung, den Erwägungen des Bundesasylamtes, die zur Entscheidung im Spruchpunkt II. geführt haben, entgegen zu treten. Dessen ungeachtet können Aspekte, auf die bereits im Zusammenhang mit den vom erkennenden Senat nicht in Frage gestellten Erlebnissen der Beschwerdeführerin bei der non-refoulement-Prüfung zu Recht Bedacht genommen wurde (wie etwa die Frage der Zumutbarkeit einer Rückkehr in die Ukraine angesichts der erwähnten Ereignisse), bei der Frage der Asylgewährung nur insofern berücksichtigt werden, als dies die Genfer Flüchtlingskonvention (im Folgenden: GFK) als Beurteilungsmaßstab vorsieht.

 

5. Der angefochtene Bescheid ist aus folgenden Gründen mangelhaft:

 

5.1 Zunächst erweist sich bereits die Begründung des angefochtenen Bescheides insofern als unschlüssig, als die belangte Behörde in ihrer Beweiswürdigung einerseits erklärte, dass das Vorbringen der Beschwerdeführerin "nur teilweise" den Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Vorbringens entspreche, andererseits jedoch gänzlich unterließ, mittels konkreter Ausführungen darzulegen, welcher Teil des Vorbringens aus welchen beweiswürdigenden Erwägungen glaubhaft sei und welcher nicht. Dies wiegt umso schwerer, als (aus der Sicht des erkennenden Senates) weder der Akteninhalt Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Schilderungen der Beschwerdeführerin in ihrer Einvernahme vom 8.4.2004 hervorruft, noch die Bescheidbegründung erkennen lässt, welche Aussage der Beschwerdeführerin von der belangten Behörde nicht einer rechtlichen Beurteilung unterzogen wurde; die Ausführungen zum Spruchpunkt II. erwecken vielmehr den Eindruck, dass die belangte Behörde sämtliche Angaben der Beschwerdeführerin ihrer Entscheidungsfindung zugrunde gelegt hat.

 

Vor diesem Hintergrund ist auch nicht nachvollziehbar, wenn die belangte Behörde im Rahmen ihrer rechtlichen Beurteilung - ohne nähere Begründung - von der mangelnden Aktualität der Verfolgung der Beschwerdeführerin ausgeht (S. 9 des angefochtenen Bescheides), obwohl die Beschwerdeführerin in ihrer Einvernahme ausgesagt hatte, dass laut Angaben ihrer Mutter die betreffenden Personen noch immer nach der Beschwerdeführerin fragen würden.

 

5.2 Der angefochtene Bescheid ist aber auch hinsichtlich der Länderfeststellungen zur Situation in der Ukraine fehlerhaft. So hat die belangte Behörde überhaupt keine Quellenangaben hinsichtlich der weniger als eine Seite umfassenden Länderberichte angegeben. Es ist in keiner Weise ersichtlich, auf welche Grundlagen die knappen, überdies äußerst allgemein gehaltenen und fast ausschließlich resümierenden Ausführungen beruhen. Damit hat die belangte Behörde es unterlassen, Länderfeststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin in einer Weise darzutun, die eine Rechtsverfolgung durch die Verfahrenspartei ermöglicht und einer nachprüfbaren Kontrolle durch den Asylgerichtshof zugänglich ist.

 

Die belangte Behörde hat aber auch verabsäumt, ausführliche Länderfeststellungen zur - gewiss - komplexen Frage der Schutzfähigkeit ukrainischer Behörden bei organisierter Kriminalität zu treffen, obwohl diese Frage gerade im vorliegenden Fall im Fokus der asylrechtlichen Beurteilung des Antrages der Beschwerdeführerin gestanden hat.

 

Soweit in den Länderfeststellungen hinsichtlich der Situation der ukrainischen Justiz auf Reformen, welche im Juli 2001 durchgeführt worden seien, Bezug genommen wird, waren die Länderfeststellungen bereits im Bescheiderlassungszeitpunkt als nicht mehr aktuell anzusehen.

 

5.3 Darüber hinaus ist auch Folgendes zu beachten: Nach verwaltungsgerichtlicher Judikatur ist eine auf lediglich kriminellen Motiven beruhende Verfolgung grundsätzlich keinem Grund, der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK genannt wird, zuzuordnen (vgl. z. B. VwGH 8.6.2000, 99/20/0111). Wie die belangte Behörde im Grundsätzlichen zutreffend ausgeführt hat, ist eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure jedoch auch dann asylrelevant, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten. Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es im Ergebnis darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist; eine von Privatpersonen ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, soweit sie von staatlichen Stellen "infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt" nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.3.2000, 99/01/0256; 7.7.1999, 98/18/0037; 6.10.1999, 98/01/0311). Als politisch kann nach der verwaltungsgerichtlichen Judikatur alles qualifiziert werden, was für den Staat, für die Gestaltung bzw. Erhaltung der Ordnung des Gemeinwesens und des geordneten Zusammenlebens der menschlichen Individuen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist (vgl. z.B. VwGH 30.9.2004, 2002/20/0293 mwN; ferner Rohrböck, Das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (1999) Rz 408). Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird (vgl. etwa VwGH 30.9.1997, 96/01/0871).

 

Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin bereits in ihrer Einvernahme vorgebracht, dass sie sich an eine politische Partei gewandt habe und ihre "Geschichte" sogar in einer Zeitung veröffentlicht wurde, was u.a. die Inbrandsetzung ihres Sommerhauses zur Folge gehabt habe (S. 4 der Einvernahmeniederschrift). Die belangte Behörde hat dagegen jegliche Ermittlungen und darauf gründende Feststellungen in diesem Zusammenhang unterlassen, obwohl nach der derzeitigen Aktenlage nicht ausgeschlossen werden kann, dass die (in ihrer Intensität gewiss Asylrelevanz erlangende) Verfolgung der Beschwerdeführerin durch die erfolglose Anzeigeerstattung, die festgestellte Verweigerung staatlichen Schutzes mit der geschilderten Aufforderung, die Anzeige zurückzuziehen, in Verbindung mit einer gewissen (und in ihrem Umfang insofern noch ermittlungs- und feststellungsbedürftigen) Publizität der Ereignisse, denen die Beschwerdeführerin ausgesetzt war, in Summe eine politische Dimension erreicht hat, wie sie der Verwaltungsgerichtshof in seiner oben erwähnten Judikatur zur "politischen Gesinnung" iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK insbesondere in Fällen des Auftretens einzelner Personen gegen die organisierte Kriminalität als gegeben erachtet (vgl. dazu ausführlich VwGH 30.9.2004, 2002/20/0293; 13.11.2001, 2000/01/098; 16.9.1999, 99/01/0078).

 

5.4 Aufgrund der dargestellten Mängel wäre daher jedenfalls die Einvernahme der Beschwerdeführerin zu ergänzen, sodass eine der Voraussetzungen für die Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG normiert ist, nämlich, dass infolge des mangelhaften Sachverhaltes die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint; ob es sich um eine kontradiktorische Verhandlung oder um eine bloße Einvernahme handelt, macht nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keinen Unterschied (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084, 2002/20/0315; 11.12.2003, 2003/07/0079).

 

Der Umfang des noch durchzuführenden Ermittlungsverfahrens lässt den erkennenden Senat zum Ergebnis gelangen, dass dessen Nachholung durch den Asylgerichtshof ein Unterlaufen des zweiinstanzlichen Instanzenzuges bedeuten würde und daher im vorliegenden Fall nach § 66 Abs. 2 AVG vorzugehen ist. Dass eine unmittelbare Beweisaufnahme und Durchführung der mündlichen Verhandlung durch den erkennenden Senat des Asylgerichtshofes eine "Ersparnis an Zeit und Kosten" iSd § 66 Abs. 3 AVG erzielen würde, ist - angesichts des mit dem asylgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteien- und Senatsverfahren verbundenen erhöhten administrativ-manipulativen Aufwandes - nicht ersichtlich.

 

6. Im fortgesetzten Verfahren wird das Bundesasylamt hinsichtlich aller noch zu treffenden Feststellungen, insbesondere im Hinblick auf die aktuelle Situation der organisierten Kriminalität in der Ukraine und die Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der ukrainischen Behörden, die erforderlichen Ermittlungen durchzuführen und die entsprechenden Ergebnisse sowie aktuelle Länderberichte mit der Beschwerdeführerin - unter Beachtung des Parteiengehörs - zu erörtern haben.

 

7. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
29.04.2011
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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