A14 255.232-0/2008/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. LASSMANN als Vorsitzende und die Richterin Dr. SINGER als Beisitzerin über die Beschwerde des XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch Dr. Josef Habersack, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 09.11.2004, FZ. 04 15.397-BAE, in nichtöffentlicher Sitzung, zu Recht erkannt:
Die Beschwerde des XXXX wird hinsichtlich Spruchteil I. und II. gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003, abgewiesen.
Hinsichtlich Spruchteil III. des angefochtenen Bescheides wird der Beschwerde stattgegeben und festgestellt, dass die Ausweisung des XXXX gem. § 10 Abs. 2 Z. 2 und Abs. 5 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 135/2009, auf Dauer unzulässig ist.
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der (nunmehrige) Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Nigerias, reiste nach eigenen Angaben am 29.07.2004 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte noch am selben Tag einen Antrag auf Asylgewährung. Er wurde hierzu sowohl am 03.08. als auch am 05.11.2004 vor dem Bundesasylamt im Beisein eines Dolmetschers für die englische Sprache niederschriftlich einvernommen. Hierbei brachte er vor die Sprachen Englisch und Ibo zu beherrschen. Er sei ledig und verfüge in seiner Heimat über zwei erwachsene Kinder.
Zur Begründung seines Antrags gab er im Wesentlichen an, dass er in seinem Heimatland von Angehörigen der OPC gesucht werde. Konkret habe der Asylwerber ungefähr 18 Jahre lang am XXXX in Lagos ein Textilgeschäft betrieben und hätten Ende 2003 die Händler dieses Umschlagplatzes versucht, die mittlerweile akut gewordene Raumnot vor Ort durch eine entsprechende Ausdehnung der Fläche zu bekämpfen. Im Jänner 2004 wären sämtliche für dieses Projekt erforderlichen Genehmigungen vom zuständigen Gouverneur eingeholt und bereits kurze Zeit später alle geplanten Bauarbeiten abgeschlossen worden. Ende Juni 2004 hätten die Händler des Marktes jedoch unerwarteten Besuch von mehreren OPC-Anhängern erhalten und sei man an die Kaufleute mit der Forderung herangetreten, monatlich Pacht an die Anführer der eben genannten Gruppe zu bezahlen. Mit Verweis auf die ohnehin bereits an die Regierung in periodischen Abständen regelmäßig zu überweisenden 20.000,- Naira und der darauf basierenden wirtschaftlich begründeten Unmöglichkeit darüber hinausgehender Ausgaben wären die von den OPC-Mitgliedern geltend gemachten Ansprüche bestritten worden und sei es in weiterer Folge zu Ausschreitungen zwischen den beiden Interessensgruppen gekommen. Im Verlauf dieser gewaltsamen Auseinadersetzungen wären Geschäfte zerstört beziehungsweise niedergebrannt und zwei Händler getötet worden. In der ersten Juliwoche 2004 sei abermals die Situation zwischen den beiden verfeindeten Lagern eskaliert und habe sich der Antragsteller daraufhin nach Hause zurückgezogen. Seine vor Ort befindlichen Kinder hätte er bei seiner Schwester in Sicherheit gebracht und wäre er anschließend wieder in sein Heim zurückgekehrt. Am 16.07.2004 sei das Gebäude jedoch völlig niedergebrannt worden und vermute der Beschwerdeführer OPC-Sympathisanten hinter dem Anschlag. Er selbst habe sich aufgrund dieser dramatischen Entwicklung in die XXXX bis zu seiner endgültigen Ausreise am 28.07.2004versteckt gehalten. Mit der Hilfe eines weißen Priesters namens XXXX hätte der Asylwerber schließlich sein Heimatland am Luftweg unter Verwendung eines fremden Reisepasses verlassen und sei dieser letztlich illegal in Österreich eingereist. Im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria befürchte er von den OPC-Mitgliedern verfolgt, misshandelt und im schlimmsten Fall sogar ermordet zu werden. An die Polizei habe er sich mit seinem Problem nicht gewandt, zumal sich die Angehörigen der OPC außerirdischer Kräfte bedienen würden, mit deren Hilfe "sie sich zum Beispiel unsichtbar machen und an einer Stelle wieder auftauchen können (Seite 49 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes)."
2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 09.11.2004, FZ. 04 15.397 - BAE, wurde der am 29.07.2004 gestellt Antrag gemäß § 7 AsylG 1997, BGBl Nr. I 76/1997 idF BGBl I Nr. 101/2003, abgewiesen (Spruchpunkt I) und gemäß § 8 Abs 1 leg. cit. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Nigeria für zulässig erklärt (Spruchpunkt II). Gemäß § 8 Abs 2 AsylG wurde der Antragsteller aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen (Spruchpunkt III).
Begründend wurde ausgeführt, dass das Vorbringen des Genannten bezüglich einer aktuellen Bedrohungssituation in Nigeria als grundsätzlich unwahr zu qualifizieren sei. Die Behörde gelange zum Schluss, dass dem behaupteten Sachverhalt bezüglich einer aktuellen Bedrohungssituation in Nigeria nicht zuletzt deshalb kein Glauben geschenkt werden könne, zumal sein diesbezügliches Vorbringen, wie auch jenes hinsichtlich seines angeblichen Reiseweges, ausgesprochen vage und widersprüchlich geschildert worden wäre. Bei tatsächlichem Erleben sei nach allgemeiner Lebenserfahrung eine weitaus detailliertere Darstellung der dramatischen Erlebnisse zu erwarten, in vorliegendem Fall hätte der Asylwerber jedoch lediglich inhaltsleere Floskeln und äußerst rudimentäre Eckpunkte seiner Fluchtgeschichte präsentiert. Zudem habe er während des gesamten Verlaufes der Einvernahme den Eindruck vermittelt, eine bloß mangelhaft einstudierte Geschichte wiederzugeben. Doch selbst unter hypothetischer Zugrundelegung der präsentierten Fluchtgründe als tatsachenkonform würden diese vor dem Hintergrund der Genfer Flüchtlingskonvention keinerlei Asylrelevanz entfalten. Hinsichtlich der unter Spruchpunkt II. ausgesprochenen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Antragstellers nach Nigeria sei festzuhalten, dass dieser keinerlei exeptionellen Gründe ins Treffen geführt hätte, welche in diesem Zusammenhang eine Verletzung seiner in Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte möglich erscheinen ließen. Die unter Spruchpunkt III. angeführte Ausweisungsentscheidung erweise sich nicht zuletzt angesichts fehlender familiärer Bindungen im Bundesgebiet auf der einen Seite und dem Vorhandensein mehrerer Kinder, einer Lebensgefährtin und einer Schwester in seinem Heimatland als gerechtfertigt.
3. Gegen diese Entscheidung erhob der Antragsteller fristgerecht und zulässig Berufung (nunmehr Beschwerde) und monierte in seinem Rechtsmittelschriftsatz im Wesentlichen inhaltliche Rechtswidrigkeit sowie die Verletzung von Verfahrensvorschriften. So wären sämtliche Schilderungen des Asylwerbers entgegen den anderslautenden Behauptungen im angefochtenen Bescheid nicht oberflächlich und widersprüchlich gewesen. Vielmehr habe es die belangte Behörde unterlassen, konkrete Fragen zu stellen. Die Niederschriften der erstinstanzlichen Behörde würden nicht sämtliche seiner Aussagen korrekt wiedergeben - so habe der Antragsteller etwa durchaus vorgebracht, die Polizei vor Ort mit seinem Problem aufgesucht zu haben, aber hätte diese jegliche Hilfestellung verwehrt. Aus dem ACCORD Länderbericht "Nigeria, August 2004" gehe zudem die generelle Gewaltbereitschaft der OPC sowie das gespannte Verhältnis zu staatlichen Einrichtungen hervor. Des Weiteren habe das Bundesasylamt keine vollständige Überprüfung der für die Ausweisungsentscheidung ausschlaggebenden Faktoren im Umfeld des Beschwerdeführers vorgenommen, da sie anderenfalls die Unzulässigkeit der Ausweisung erkannt hätte.
4. Mit Schreiben vom 14.03.2008 legte der Genannte seine Heiratsurkunde vom XXXX, seinen nigerianischen Reisepass, seinen Meldezettel sowie ein Konvolut an medizinischen Unterlagen in Bezug auf seine Herzkrankheit, jeweils in Kopieform, vor, mit dem gleichzeitigen Ersuchen, selbige entsprechend im Verfahren zu berücksichtigen.
5. Der Asylgerichtshof brachte dem Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 01.09.2010 aktuelle Länderfeststellungen, die nunmehr auch den Gegenstand dieses Erkenntnisses bilden, gemäß § 45 Abs. 3 AVG zur Kenntnis und räumte ihm eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme ein. Zudem wurde dem Asylwerber mit genanntem Schriftsatz die Möglichkeit eingeräumt, zu seiner persönlichen Situation in Österreich (beispielsweise hinsichtlich Heirat, Arbeitsplatz, Kindern, schweren Krankheiten) Stellung zu nehmen.
Eine Stellungnahme des Genannten langte, zusammen mit einer Vertreterbekanntgabe am 20.09.2010 beim Asylgerichtshof ein. Demnach habe sich an den ursprünglich präsentierten Asylgründen inhaltlich nichts geändert und würden die vorgehaltenen Länderberichte die Situation in Nigeria bloß sehr oberflächlich wiedergeben. Ein Zusammenhang zu seinem eigenen individuellen Schicksal könne diesen nicht entnommen werden, vielmehr handle es sich hiebei um eine geschönte Form der Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse in Nigeria. Da der Beschwerdeführer aber aus einer kleinen Gemeinde stamme, sei dieser der Überzeugung, wonach die belangte Behörde zu Erhebungen vor Ort verpflichtet gewesen wäre. Seine bisherigen Ausführungen entsprächen jedenfalls den Tatsachen. So hätte der Genannte bis zu seiner Flucht aus seiner Heimat eine Apotheke besessen, welche niedergebrannt worden wäre. Zudem habe er als Marktsprecher fungiert. In Österreich sei er demgegenüber verheiratet, aber halte er nach wie vor Kontakt nach Nigeria. Abschließend werde neuerlich um eine wohlwollende Behandlung der Beschwerde ersucht.
6. Ein vom Asylgerichtshof in Auftrag gegebenes Sachverständigengutachten Dr.is XXXX, datiert vom 09.11.2010, kam basierend auf den vom Beschwerdeführer vorgelegten Arztbriefen respektive Befunden sowie einer persönlichen Anamnese zu dem Ergebnis, dass Letztgenannter an einer Hypertonie bei hypertropher Myocardiopathie; einer derzeit komponierten chronischen Niereninsuffizienz; Diabetes mellitus IIB, Hyperlipoproteinämie sowie einer st. p. Venenthrombose im rechten Auge mit insgesamt derzeit noch nicht eingeschränktem Visus leiden würde. Sämtliche der ebengenannten Diagnosen müssten permanent überprüft werden, um eine Organschädigung zu verhindern. Der Bluthochdruck sei nur durch eine sehr vielfältige Medikation einstellbar. Ein Aussetzen der Therapie würde zu schweren Organschädigungen bishin zum Tod des Patienten führen. Im Heimatland des Genannten wäre diese intensive Therapie und Kontrolle eher nicht gegeben (vgl. fachärztlichen Befund und Gutachten von Dr. XXXX vom 09.11.2010).
7. Mit Schriftsatz vom 06.12.2010 brachte der Asylgerichtshof das Sachverständigengutachten sowohl dem Bundesasylamt als auch dem Beschwerdeführer gemäß § 45 Abs. 3 AVG zur Kenntnis und räumte beiden Parteien eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme ein.
Die belangte Behörde brachte in ihrem Schreiben vom 17.12.2010, eingelangt am 20.12.2010, ihren Standpunkt dahingehend zum Ausdruck, wonach das als "Ärztlicher Befund und Gutachten" titulierte Schreiben von Univ. Dr. XXXX nicht den höchstgerichtlich festgelegten Kriterien eines Sachverständigengutachtens gerecht werde. So beschränke sich der Aufgabenbereich eines Sachverständigen lediglich auf die Ermittlung eines Sachverhalts sowie die Erhebung von Tatsachen, nicht jedoch auf die Lösung von Rechtsfragen. Die Behörde habe aufgrund der Tatsachenfeststellungen des Sachverständigen den Sachverhalt ohne Bedacht auf dessen Rechtsausführungen selbst rechtlich zu würdigen. In casu hätte der bestellte Fachexperte jedoch Rechtsfragen beantwortet, indem er etwa Mutmaßungen hinsichtlich der Verfügbarkeit der erforderlichen Therapie und Kontrolle angestellt habe. Zudem müsse jedes Sachverständigengutachten entsprechend begründet sein und sich der Expertise schlüssig entnehmen lassen, auf welchem Wege der Verfasser zu seinen Schlussfolgerungen gelangt sei. Im vorliegenden Fall wären jedoch nur die Erkrankungen des Genannten aufgezählt und lediglich die Schlussfolgerung gezogen worden, derzufolge alle Diagnosen laufend einer Überprüfung unterzogen werden müssten, um eine potentielle Organschädigung zu verhindern. Welche Medikamente der Beschwerdeführer derzeit benötige, ließe sich dem Schreiben demgegenüber nicht entnehmen. Inwieweit der konkret mit der Abfassung eines Gutachtens beauftragte medizinische Sachverständige zur Beurteilung der Frage nach dem Standard respektive der Verfügbarkeit der erforderlichen Behandlungseinrichtungen in Nigeria qualifiziert sei, könne ausschließlich auf dessen rein medizinischen Vorbildung ebenfalls nicht nachvollzogen werden. Über Art und Verlauf der Untersuchung des Asylwerbers würden sich in dem Schreiben genauso wenig verwertbare Hinweise finden lassen und sei zudem völlig unklar, welche Methodik der Sachverständige konkret angewandt habe. Insgesamt mangle es dem Gutachten in seiner Gesamtheit an einer objektiv nachvollziehbaren Anamnese.
In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 20.12.2010 unterstrich der Antragsteller abermals seine gesundheitlichen Probleme. So sei es ihm nur unter Verwendung eines mit einer entsprechenden Maske ausgestatteten Hilfsgeräts möglich zu schlafen. Eine effiziente Behandlung seiner Krankheit wäre zwar in Österreich, nicht jedoch in seinem Heimatland möglich. Zum Beweis seiner Krankheit wurden dem Schriftsatz die Ablichtungen eines Schlafnotfallpasses, sowie eines Patientenausweises der Nephrologischen Abteilung des XXXX und von vier Photographien, welche den Beschwerdeführer beim Schlafen zeigen, beigelegt.
II. Auf Grundlage der vom Bundesasylamt durchgeführten Ermittlungen und des dargestellten Ermittlungsverfahrens des Asylgerichtshofes wird folgender Sachverhalt festgestellt und der Entscheidung zu Grunde gelegt:
Der Genannte ist Staatsangehöriger von Nigeria. Die Identität des Asylwerbers konnte aufgrund der Vorlage von als unbedenklich zu qualifizierenden Personaldokumenten zweifelsfrei festgestellt werden. Der vom Antragsteller vorgebrachte Fluchtgrund (Furcht vor Verfolgung durch Mitglieder der OPC) wird der Entscheidung mangels Glaubwürdigkeit nicht zu Grunde gelegt. Der Reiseweg des Genannten (Zeitpunkt und Art der Reise von Nigeria nach Österreich) kann nicht festgestellt werden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Nigeria verfolgt wird oder gefährdet ist.
Der Beschwerdeführer ist seit XXXX mit der österreichischen Staatsbürgerin XXXX in aufrechter Ehe verheiratet (siehe Heiratsurkunde des Standesamtes XXXX). Er lebt mit dieser auch im gemeinsamen Haushalt in XXXX. Der Beschwerdeführer ist gerichtlich unbescholten und bezieht seit dem Jahr 2006 keine Grundversorgung mehr.
Zur politischen und menschenrechtlichen Situation in Nigeria werden folgende Feststellungen getroffen:
I. Verfassung und Staatsaufbau:
Nigeria ist eine Föderation, die aus 36 Bundesstaaten sowie dem Bundesterritorium Abuja besteht. Unterhalb der Ebene der Bundesstaaten gibt es 774 kommunale Verwaltungseinheiten (vergleichbar den deutschen Landkreisen). In der Vergangenheit, besonders zu Zeiten der Militärregierung, wurden viele Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen zu Lasten der Bundesstaaten zentralisiert. Föderale Verfassungselemente wurden geschwächt. Die jetzige Verfassung wurde von der Übergangsregierung unter General Abubakar ausgearbeitet und trat am 29.05.1999 in Kraft. Sie sieht nach US Vorbild ein präsidiales System mit einem starken Exekutivpräsidenten vor, der gleichzeitig als Regierungschef den Federal Executive Council (Kabinett) leitet. Der Exekutive steht eine aus zwei Kammern gebildete Nationalversammlung als Legislative gegenüber, die sich aus Senat (direkt gewählte Vertreter der Bundesstaaten) und Abgeordnetenhaus zusammensetzt. Jeder der 36 Bundesstaaten verfügt über eine Regierung unter Leitung des Gouverneurs sowie ein Landesparlament. Seit Jahren gibt es eine breite Verfassungsreformdebatte, in Gang gehalten vor allem durch erkannte Schwächen des Grundgesetzes in der Praxis wie auch durch Kritik an den starken zentralistischen Elementen. Eine besondere Rolle spielt die Diskussion um die Verteilung der Öleinnahmen (sie bilden den Großteil der Staatseinnahmen); diese Gelder fließen zunächst der Föderation zu und werden dann nach einem festen Schlüssel verteilt. Ebenso wichtig im Vielvölkerstaat Nigeria ist die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass die verschiedenen Volksgruppen an der Macht in der Bundesregierung beteiligt werden können. Die aktuelle Verfassung versucht, dies über teils schwierig zu erfüllende Anforderungen an die Institutionen zu gewährleisten (z. B.: alle 36 Bundesstaaten müssen in der Bundesregierung vertreten sein; der Präsident muss bei seiner Wahl in allen Bundesstaaten bestimmte Quoren erreichen; Parteien, die nicht im ganzen Land organisiert sind, werden nicht zugelassen). Ein erster Versuch einer Verfassungsreform scheiterte im Frühjahr 2006, weil der damit verbundene Vorschlag einer dritten Amtszeit für den Staatspräsidenten von beiden Häusern des Parlaments abgelehnt wurde.
(AA-Auswärtiges Amt Nigeria Innenpolitik, November 2009 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/Nigeria.html LIS - Landeskundliche Informationsseiten, Westafrika - Nigeria. 25.03.2008 http://liportal.inwent.org/lis/?l=nigeria (Zugriff am 31.03.2010)
Die Verfassung von Nigeria garantiert das Recht sich politisch frei zu betätigen. In der Praxis wird dieses Recht ebenso respektiert. Darüber hinaus sieht die Verfassung die Möglichkeit vor, dass sich jeder zu einer politischen Gruppierung zusammenschließen kann. Ende des Jahres 2007 waren beim "Independent National Electoral Commission (INEC)" 51 politische Parteien registriert.
(U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices. Nigeria, 11.03.2010)
II. Innenpolitik:
Präsident Yar'Adua ist mit dem Versprechen angetreten, den Reformkurs seines Vorgängers fortzusetzen, der auf Einführung und Stärkung von "good governance", Korruptionsbekämpfung, Festigung ziviler Strukturen, Reform der Armee, Aufarbeitung der Vergangenheit, Wiederbelebung der Wirtschaft und Armutsbekämpfung ausgerichtet war. Das Reformkabinett Obasanjos erreichte in der Wirtschaftspolitik vor allem makroökonomische Ziele (Schuldenabbau, Inflationsbekämpfung, Bankenreform), während die von den Menschen erwartete "Demokratiedividende" eher ausblieb. Die sozialen Schieflagen konnten nicht abgebaut werden. Die Korruptionsbekämpfung hat zwar auf Bundesebene eindrucksvolle Erfolge erzielt, bleibt aber weiter ein Problem. Reichtum und Problem für Nigeria zugleich ist die komplexe ethnische, linguistische und religiöse Struktur des Landes. Neben den drei großen ethnischen Gruppen - Haussa/Fulani im Norden, Yoruba im Südwesten und Igbo im Osten - gibt es ca. 400 ethnische Gruppierungen, die das politische Gewicht der drei großen Völker oft als Dominanz empfinden. Im größten Teil der Geschichte Nigerias seit der Unabhängigkeit am 1. Oktober 1960 lag die politische Macht in den Händen des Nordens, wodurch sich insbesondere Yoruba und Igbo benachteiligt fühlten. Um diesen Vorwürfen den Boden zu entziehen, hat Präsident Yar'Adua (Nordstaatler) einen Angehörigen einer wichtigen Ethnie aus dem Niger-Delta zu seinem Vizepräsidenten ernannt. Verstärkt werden die ethnischen Gegensätze des Landes durch eine Nord-Süd-Teilung in Moslems (vor allem im Norden) und Christen (vor allem im Süden). Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen großen, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten oft als moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein. Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt der Zivilregierung 1999 erheblich verbessert. Die Regierung bekennt sich ausdrücklich zum Schutz der Menschenrechte, die auch in der Verfassung als einklagbar verankert sind. Schwierig bleiben allerdings die Rahmenbedingungen wie Armut, Analphabetentum, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes. Hinzu kommen "alte Gewohnheiten" der Sicherheitskräfte aus langen Jahren der Militärdiktaturen, die Ausübung und Wahrnehmung der Menschenrechte beeinträchtigen, wenngleich Polizeiwillkür nunmehr geahndet werden soll.
(AA-Auswärtiges Amt Nigeria Innenpolitik, November 2009 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/Nigeria.html (CIA - Fact Book. Nigeria, 24.03.2010, https://www.cia.gov/library/publications/the-worldfactbook/ geos/ni.html Zugriff am 31.03.2010)
Durch längere Krankheit und Behandlung in Saudi Arabien war Staatsoberhaupt Yar'Adua abwesend, übertrug aber die Staatsgeschäfte nicht, wie in der Verfassung vorgesehen, an Vizepräsident Goodluck Jonathan. Als es aufgrund der Wirtschaftskrise, gewalttätiger Auseinandersetzungen im Middle Belt und trotz Amnestie zu neuerlichen Anschlägen im Niger Delta kam, wurde dann doch die vorläufige Amtsführung vom Vizepräsidenten übernommen. Dieser setzte gleich in den ersten Tagen Yar'Adua-treue Politiker ab, die wegen Korruption kritisiert wurden. Kurze Zeit darauf löste er das 42-köpfige Kabinett auf. Ein Übergangskabinett wurde inzwischen bestellt. Dieses bildet nun voraussichtlich bis zu den Wahlen im Frühjahr 2011 die Regierung. Momentan ist die Lage stabil und Befürworter und Kritiker der Operation halten sich die Waage. Eine Ausgewogenheit der Ethnien ist in Nigeria unumgänglicher Anspruch an jede Regierungszusammensetzung.
Spiegel Online, Nigerias Mächtige rüsten zum Showdown, 24.03.2010, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,685303,00.html (Zugriff am 31.03.2010) Robert Kappel, GIGA, Nigeria: Die Instabilität wächst. 01.03.2010, http://www.gigahamburg.
de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/gf_afrika_1002.pdf (Zugriff am 31.03.2010)
Der nigerianische Präsident Umaru Yar¿Adua hat der nigerianischen Bevölkerung eine Verbesserung des politischen Systems während seiner Amtsübernahme versprochen. Obwohl es bisher noch keine wirkliche Lösung gegen Armut, Analphabetentum und Gewaltkriminalität, die noch das Land beherrscht, gibt, hat sich die Menschenrechtssituation seit seiner Amtsübernahme erheblich verbessert.
(XXXX, Sachverständiger (UBAS) für Nigeria, Ghana u. Kamerun, Befund und Gutachten, 25.01.2008)
III. Parteien und Wahlen:
Im Bundesparlament sind seit den letzten Wahlen vom April 2007 fünf Parteien vertreten. Die Mehrheitsfraktion wird von der People's Democratic Party (PDP) gestellt, der auch Präsident Yar'Adua angehört. Wichtigste weitere Parteien sind die All Nigeria People's Party (ANPP) sowie der Action Congress (AC), eine Sammlungsbewegung von Gegnern des früheren Präsidenten Obasanjo. Die People's Progressive Alliance (PPA) und die Labour Party (LP) sind aufgrund des Mehrheitswahlsystems nur mit ganz wenigen Abgeordneten vertreten. Es gelang bei den letzten Wahlen nicht, die Zahl weiblicher Abgeordneter zu erhöhen. Parteien in Nigeria sind vor allem Wahlplattformen für Politiker (laut Verfassung können nur Parteienvertreter bei Wahlen antreten, Unabhängige sind nicht zugelassen); eine Ausrichtung an bestimmte Interessensvertretungen oder gar Weltanschauungen gibt es bei den großen Parteien nicht, eine Orientierung an ethnischen Gruppen ist ausdrücklich verboten. Zum Sieger der Präsidentschaftswahlen vom 21.04.2007 wurde mit 70 % der abgegebenen Stimmen (Wahlbeteiligung offiziell 60 %, laut Beobachtern weniger) der PDP-Kandidat Umaru Musa Yar'Adua (bisher Gouverneur des nördlichen Bundesstaates Katsina) erklärt. Der Wahl war ein heftiger Wahlkampf vorausgegangen, in dem Yar'Aduas Vorgänger Obasanjo die Kandidatur seines Stellvertreters Vizepräsident Atiku Abubakar verhindern wollte. Zweiter wurde der ehemalige Militärdiktator Buhari (ANPP), Dritter Atiku (AC). Die Regierungspartei PDP erhielt ein weiteres Mal die Mehrheit in den beiden Kammern der Nationalversammlung. Nach vereinzelten Korrekturen der Wahlergebnisse durch Gerichte stellen die Oppositionsparteien ANPP in drei, der AC in zwei, die PPA, die All Progressive Grand Alliance (APGA) und die Labour Party in je einem Bundesstaat die Staatsregierungen (Gouverneure), in den übrigen 28 Bundesstaaten gehören die Gouverneure dagegen der PDP an (Stand 31.01.2010).
Keiner der Gouverneure und nur 6 der 36 Vizegouverneure sind Frauen. Die Wahlen vom April 2007 sind national und international wegen ihrer mangelhaften Vorbereitung und Durchführung heftig kritisiert worden. Staatspräsident Yar'Adua hat selbst bei seiner Amtseinführung klare Defizite bei den Wahlen eingeräumt und eine Wahlrechtsreform angekündigt. Aufgrund verschiedener Mängel haben nigerianische Gerichte in Wahlanfechtungsverfahren bisher schon mehrere Gouverneurswahlen und Wahlen von Parlamentariern annulliert, teilweise wurden Wahlergebnisse korrigiert, teilweise Neuwahlen durchgeführt.
Am 12.12.2008 hat das Oberste Gericht in letzter Instanz die Beschwerden der unterlegenen Kandidaten gegen die Präsidentschaftswahlen vom Mai 2007 zurückgewiesen und damit Staatspräsident Yar'Adua endgültig in seinem Amt bestätigt. Das Urteil wurde von den Verlierern öffentlich akzeptiert. Die Regierungsführung des Präsidenten ist durch ein grundsätzliches öffentliches Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit und den Versuch, eine nachhaltige und reformorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben, geprägt.
(AA-Auswärtiges Amt Nigeria Innenpolitik, November 2009 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/01-Laender/Nigeria.html LIS - Landeskundliche Informationsseiten, Westafrika - Nigeria. 25.03.2008 http://liportal.inwent.org/lis/?l=nigeria (Zugriff am 31.03.2010) AA-Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand November 2008, S. 5, von 21.01.2009. AA-Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria,Stand Februar 2010, S. 7, von 11.03.2010
IV. Sicherheitslage:
Die Situation in Nigeria ist grundsätzlich ruhig, die Staatsgewalt (Polizei und Justiz) funktionsfähig. Anzumerken ist jedoch, dass die nigerianische Bundespolizei in personeller Hinsicht im Vergleich zu westlichen Staaten relativ schlecht ausgestattet und verschiedentlich auch mangelhaft ausgebildet ist, weshalb in einzelnen Bundesstaaten so genannte Bürgerwehren polizeiliche Aufgaben übernommen haben. In Nigeria können, meist kaum vorhersehbar, in allen Regionen lokale Konflikte zwischen dortigen Bevölkerungsgruppen mit gewaltsamen Zusammenstößen und Todesopfern aufbrechen. Ursachen und Anlässe sind sozial-politischer und nur vordergründig religiöser und/oder ethnischer Art. Meist sind diese Auseinandersetzungen von kurzer Dauer (wenige Tage) und örtlich begrenzt (meist nur einzelne Orte, in größeren Städten nur einzelne Stadtteile, nie ganze Bundesstaaten). Zuletzt gab es im Middle Belt in der Gegend um Jos gewalttätige Auseinandersetzungen, wobei nomadische Fulani sesshafte Berom - Bauern angriffen. Die Armee schritt ein. 91 Verantwortliche wurden vor Gericht gestellt.
(AA - Auswärtiges Amt, Reise- und Sicherheitshinweise Nigeria, Stand November 2009,
http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Nigeria heitshinweise.html; U.K. Home Office, Country Report Nigeria, 15.01.2010; AA - Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 11.03.2010). Vanguard, Jos killings: Trial of 91 suspects begins, 29.03.2010
V. Ethnische Konflikte:
Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Ethnie ist durch die Verfassung verboten. In einigen Bundesstaaten ist die Lage von Minderheiten problematisch. Aufgrund der jeweiligen demographisch begründeten Machtverhältnisse sind ethnische Minderheiten oft von politischem Einfluss und Ressourcen (Zugang zu Subventionen, Arbeits- und Ausbildungsplätzen) abgeschnitten. Kennzeichnend für das Zusammenleben von Mehrheiten und Minderheiten in Nigeria ist das unregelmäßige Aufflackern von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In Nigeria gibt es mehr als 250 Ethnien. Keine dieser Gruppen stellt landesweit eine Mehrheit. Die drei größten ethnischen Gruppen, die in der Summe rund zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind die Hausa-Fulani im Norden, die Yoruba im Südwesten und die Igbo im Südosten. Eine vierte große, durch Gewaltakte im Niger-Delta prominente Ethnie, die Ijaw, lebt in vielen Bundesstaaten. Die Yoruba siedeln hauptsächlich in den sechs Bundesstaaten Oyo, Ogun, Lagos, Osun, Ondo und Ekiti. Als starke Minderheiten leben sie in den Bundesstaaten Kogi und Kwara. Außerhalb Nigerias siedeln sie in Benin und Ghana. Der Name Hausa bezeichnet heute in Nigeria nicht nur das Volk, das vor ca. 1000 Jahren in den Norden Nigerias einwanderte, sondern alle Volksgruppen, die im Hausa-Land leben. Dazu gehören insbesondere die Fulbe (auch Fulani genannt). Die Vermischung zwischen den ursprünglichen Hausa und den Fulani ist so weit vorangeschritten, dass in der Lebensweise keine Unterschiede mehr festzustellen sind. Die Igbo, ein Volk der Sudaniden, lebt im Wesentlichen östlich des unteren Niger. Angehörige der Hausa-Fulani, Yoruba und Igbos finden sich aber in nahezu allen Landesteilen. Die Zusammensetzung der Regierung spiegelt einen gewissen Proporz zwischen den Hauptethnien wieder (so genanntes "Zoning": Der Regierung müssen laut Gesetz Vertreter aus allen 36 Bundesstaaten angehören). Die Staatsführung unter dem Nordnigerianer Yar'Adua (Haussa, Moslem) hat einen Vizepräsidenten aus dem Süden (Christ, Ijaw). Dennoch beklagen einzelne Gruppen immer wieder, dass sie nicht angemessen in Spitzenämtern repräsentiert sind.
(AA, Nigeria, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: Februar 2010), 11.03.2010)
V.1. MASSOB:
MASSOB - Mouvement for the Actualisation of the Sovereign State of Biafra, wurde in Anlehnung an die Separationsbewegung um den Biafra Krieg in den 1960er Jahren Ende 1990 gegründet. Ein profunder Zusammenhang mit dem Biafra Krieg und der darauf folgenden Unabhängigkeitserklärung Biafras ist definitiv nicht gegeben. MASSOB propagiert einen unbewaffneten und gewaltfreien Kampf. Die in den Medien behaupteten Waffenfunde im Rahmen von Razzien wurden wiederholt dementiert. Die Bewegung reklamiert eine größere Selbständigkeit für den Südosten des Landes und verfolgt auch sezessionistische Ziele, weshalb Teilnehmer an MASSOB-Veranstaltungen immer wieder wegen landesverräterischer Aktivitäten vor ordentlichen Gerichten angeklagt. Laut Medienberichten wurden viele Angeklagte vorzeitig gegen Zahlung einer Kaution bzw. einer Ehrenerklärung freigelassen, in anderen Fällen endeten Verfahren mit Freispruch. Gegen aktive und prominente MASSOB Mitglieder wird zum Teil vehement vorgegangen; im Falle von Verhaftungen kann es zu Misshandlungen durch die Polizei kommen. Vor allen in Onitsha und Anambra State kam es wiederholt zu gewaltvollen Auseinandersetzungen mit der Regierung. Starken Zulauf findet die Organisation unter den Zugehörigen der Igbo. Die meisten der Anhänger sind junge, arbeitslose Igbos. Eine globale Abstempelung als MASSOB Mitglied allein auf Grund der Volkszugehörigkeit kann aber nicht festgestellt werden. Ebenso wenig sind jene Mitglieder polizeilicher Verfolgung ausgesetzt, die nur die Ziele und Ansichten von MASSOB unterstützen, aber nicht an Veranstaltungen, Demonstrationen etc. teilnehmen. Gegen den MASSOB-Führer, Chief Ralph Uwazurike (geb. 1962), wurde am 8. November 2005 ein Strafverfahren wegen Hochverrats eingeleitet. Im Oktober 2007 kam Uwazurike für drei Monate gegen Kaution frei und tauchte kurz unter. Im Jänner 2010 wurde er erneut verhaftet. Vorgeworfen wird ihm Inhaftierung des US-amerikanischen MASSOB-Mitglieds Pascal Okorie aufgrund dessen Aussagen in Radio Biafra. Uwazurike befindet sich in Untersuchungshaft, der Prozeß wurde verschoben (Stand 31.03.2010)
Gegenüber einer Delegation der norwegischen Landinfo stellte MASSOB fest, dass keine MASSOB Aktivisten im Ausland seien, dass auch keine Asylantragssteller im Ausland unterstützt würden und MASSOB keine Mitgliedsschaftsbeweise gegen Bezahlung ausgibt. Darüber hinaus wurde die Biafra - Halbinsel im August 2008 endgültig an Kamerun abgetreten. Nigeria erfüllte somit eine langjährige Forderung der Internationalen Gemeinschaft. "Pro Biafran Groups" distanzierte sich mittlerweile von MASSOB und "Chief Uwazuruike". Deren Vorsitzender, Dozie Osondu, rief alle mit der Biafra - Sache involvierten Personen auf, sich von MASSOB und "Chief Uwazuruike". zu distanzieren.
(AA, Nigeria, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: Februar 2010), 11.03.2010) Landinfo, Bericht der Landinfo, Norwegen, vom August 2006, "Fact-finding trip to Nigeria (Abuja, Lagos and Benin City 12. - 26. March 2006", zu MASSOB s. S. 14 - 17 "Home Office, UK Border Agency, Nigeria. Country Of Origin Report. 15.01.2010 All Africa.com, Nigeria: Group Slams Uwazuruike, 25.02.2010, http://allafrica.com/stories/printable/201001251197.html[24.02.2010 11:16:02] Zugriff: 24.02..2010 All Africa.com, Nigeria: No Beil for Uwazuruike Yet - Police, 15.01.2010, http://allafrica.com/stories/printable/201001150574.html[24.02.2010 18:29:37] Zugriff: 24.02.2010)
V.2. Niger Delta:
Bei den bewaffneten Auseinandersetzungen im Niger Delta handelt es sich um einen bewaffneten Konflikt zwischen rivalisierenden Milizen (hauptsächlich die Niger Delta People's Volunteer Force (NDPVF) und die Niger Delta Vigilante), sowie um Auseinandersetzungen zwischen regionalen Gruppen und multinationalen Ölunternehmen. Finanzielle Interessen sowie die Aufteilung und Kontrolle der Ressourcen stehen im Vordergrund. Trotz verfassungsmäßig garantierter Sondereinnahmen der Delta-Bundesstaaten ist im Niger Delta die Entwicklung auf Grund von Korruption und schlechter Regierungsführung nicht vorangekommen. Seit 2004 ist die NDPVF, deren Anhänger hautsächlich aus dem Volksstamm der Ijaw entstammen, mit bewaffneten Aktionen aktiv. Die Gruppe fordert offiziell neben einer Amnestie für ihre Mitglieder und sofortigen Neuwahlen eine größere Teilhabe der Bevölkerung an den Einnahmen aus Öl und Gas sowie die Einberufung einer Nationalen Konferenz über eine Revision der Verfassung. Kritiker sehen als wahre Motivation jedoch eher das Streben nach Macht und Einfluss. Deren Anführer, Mujahid Dokubo Asari, wurde nach mehreren Anschlägen auf Ölfördereinrichtungen im Niger Delta im September 2005 festgenommen und wegen des Verdachts des Hochverrats vor Gericht gestellt. Im Juni 2007 wurde er von der Regierung im Rahmen des Versuchs einer politischen Lösung des Konflikts mit den militanten Gruppen in der Niger-Delta-Region freigelassen. Die Forderungen werden seit 2006 auch von der ebenfalls militanten MEND vertreten, das die Verantwortung für verschiedenste Gewaltakte im Niger Delta, darunter auch die Entführungen von im Öl- und Bausektor tätigen Ausländern, übernommen hat. Die Mehrzahl der Entführungen und Geiselnahmen gehen jedoch auf das Konto von Kriminellen, die sich häufig als Mitglieder von MEND oder NDPVF ausgeben. Das Niger Delta stellt einen weitgehend rechtsfreien Raum dar; die Polizei ist oft nicht in der Lage oder zumeist auch nicht willens, die prekäre Situation in den Griff zu bekommen. Hauptbetroffen sind zumeist zivile Bürger, die in dieser Region leben und die im Zuge der andauernden Konflikte der rivalisierenden Milizen gezwungen waren, von ihren Dörfern oder Städten wegzuziehen. Die Auseinandersetzungen fanden hauptsächlich rund um die Stadt Port Harcourt statt. Dutzende Zivilisten fielen seit 2003 den Kämpfen zum Opfer. Bei den Wahlen 2007 war ein Ansteigen der Gewalt vermerkbar. Die Regierung geht oft brutal gegen die Anhänger der privaten Milizen vor.
Der Präsident bot den Niger Delta Gruppen bei Entwaffnung Amnestie und Integrierung in die nationalen Sicherheitskräfte an. Es kam jedoch zu neuerlichen Auseinandersetzungen Mitte April 2009, bei der die Joint Task Force (JTF) aktiv wurde. Die JTF ist eine neue hochaktive Sicherheitsgarde, die Teil des implementierten Niger Delta Master Plans ist. Weiters gehört dazu das neu geschaffene Ministerium "Ministry of Niger Delta Affairs". Die Amnestie wurde weitgehendst angenommen. Auch Anführer wie Tom Ateke von NDPVF gaben vor den Kameras die Waffen ab. Die Entwaffneten befinden sich noch in Lager. Eine Integrierung in die Sicherheitskräfte oder in andere Arbeitsstellen geht wenn auch schleppend voran. Diese letztgenannten Bemühungen der Regierung lassen auf ein Verbesserung der Lage im Niger Delta hoffen, auch dahingehend, da das Amnestieprojekt vor allem von dem jetzt die Regierungsgeschäfte führenden Vizepräsidenten Goodluck Jonathan ausgeht.
(Home Office, UK Border Agency, Nigeria. Coutry Of Origin Report. 05.12.2008 AA, Nigeria, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: November 2008), 21.01.2009 Human Rights Watch, Politics as War, S. 3-5.
Human Rights Watch, Nigeria, S. 3. iDMC, S. 5-6. Robert Kappel, GIGA, Nigeria: Die Instabilität wächst. 01.03.2010, http://www.gigahamburg.
de/dl/download.php?d=/content/publikationen/pdf/gf_afrika_1002.pdf (Zugriff am 31.03.2010) Afrol, Residents Flee Homes fearing reprisals from the army, 15.04.2009, http://www.afrol.com/articles/32955 Afrol, Yar'Adua proposes amnesty to armed Delta rebels, 03.04.2009, http://www.afrol.com/articles/32892)
V.3. MEND:
Bei der Organisation "Mouvement for the Emancipation of the Niger Delta" handelt es sichum eine militante Gruppe, die seit 2006 für mehrere Vorfälle im Niger Delta verantwortlich gemacht wird. Pipelines und Ölplattformen wurden wiederholt attackiert und Beschäftigte als Geisel genommen. Im Gegenzug wurde unter anderem die Freilassung von bedeutenden Ijaw Führern verlangt. Die Gruppe fordert im Wesentlichen die Einstellung der Erdölexporte und die uneingeschränkte Kontrolle der Erdölgewinnung, sowie die Aufteilung des Profis innerhalb der Bevölkerung der Niger- Delta- Region. MEND lehnte das Amnestieangebot des Präsidenten weitgehendst ab. Zur Bestätigung kam es Mitte März 2010 zu Bombenanschläge. Wie zumeist kam es auch dabei zur Sachbeschädigung. Getroffen werden sollten vor allem die internationalen Erdölkonzerne und jene Firmen und Politiker, die mit ihnen agieren.
(Home Office, UK Border Agency, Nigeria. Coutry Of Origin Report. 15.01.2010 NZZ, Bombenanschlag in Nigeria, 16.03.2010 Afrol, Yar'Adua proposes amnesty to armed Delta rebels, 03.04.2009, http://www.afrol.com/articles/32892)
V.4. OPC:
Der "Odua People's Congress" ist eine vordergründig ethnisch formierte, militante Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Interessen der Angehörigen des Yoruba Stammes zu vertreten. Der OPC operiert hauptsächlich im Südwesten ("Yorubaland") des Landes. 1999 wurde die Gruppe verboten. Zwischen 2004 und 2006 war eine besonders heftige Zeit der gewalttätigen Übergriffe sowohl von OPC-Mitgliedern und -Sympathisanten wie von außen auf sie. 2006 wurden die rivalisierenden Gruppenführer Fasehun und Adams kurzzeitig verhaftet. Die Gruppe ist trotz Verbot aktiv und erfreut sich auch über Unterstützung nicht nur der einfachen Bevölkerung der Yoruba sondern Unterstützung von hochrangigen Politikern und Institutionen der Yoruba-Gesellschaft. Der OPC ist in zwei Hauptfraktionen mit Unterfraktionen organisiert. Er tritt in der Praxis als Bürgerwehr in Erscheinung. In dieser Funktion erhält er auch die Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung Südwest Nigerias. Seine Einnahmen bezieht er durch Spenden, legale Abgaben (etwa in Lagos State) und illegale Geschäfte. Die Aktivitäten des OPC reichen von Straßenkontrollen, Veranstaltungssecurity bis zu Auftragsmorden. Oftmals wird der OPC sogar von Politikern zur politischen "Konfliktlösung" "engagiert". Er genießt zudem auch breite Unterstützung auf regionalpolitischer Ebene. Das Einschreiten der Polizei führte oftmals zu vermehrten Menschenrechtsverletzungen, einschließlich außergerichtlichen Tötungen. Bei den Anführern des OPC handelt es sich zumeist um gebildete Personen mit einem guten politischen Verständnis. Die Mitglieder stammen hingegen aus allen Bevölkerungsschichten und Altersklassen. Auch Frauen und Jugendliche sind vertreten.
(Home Office, UK Border Agency, Nigeria. Coutry Of Origin Report. 15.01.2010 AA, Nigeria, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: Februar 2010), 11.03.2010 CRISE, University of Oxford, The Making of an Ethnic Militia: The Odua People's Congress in Nigeria, 30.11.2006)
VI. Wirtschaftliche Situation:
Die wirtschaftliche Lage Nigerias hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Nigeria ist das bevölkerungsreichste Land Afrikas, verfügt über sehr große Öl- und Gasvorkommen, und die in den letzten Jahren eingeleiteten Reformen zeigen erste positive Resultate. Viele Beobachter sprechen von einem enormen Wachstumspotenzial in Nigeria. Grund hierfür sind vor allem die hohen Zusatzeinnahmen durch die Öl- und Gasreserven des Landes, die nach Plänen der nigerianischen Regierung zu einem großen Teil für Infrastrukturprojekte (Straßenbau, Schienenverkehr, Telekommunikation, Energieversorgung) ausgegeben werden sollen.
Weiterhin gelten allerdings folgende Herausforderungen: Die weitgehende Abhängigkeit von Öleinnahmen (über 90 % der Exporterlöse; 80 % der staatlichen Einnahmen und circa ein Drittel des BIP) besteht fort. Während Nigeria die reichsten Afrikaner des Kontinents beherbergt, leben etwa 70 % der Bevölkerung weiterhin in extremer Armut (weniger als 1 USD/Tag). Die Unruhen im Nigerdelta und die immense Korruption in Politik wie Wirtschaft führten zu eingeschränkten Öl- und Gasförderquoten und zu einer erheblichen Reduktion des Wirtschaftswachstums. Sie sind auch Grund für eine Verschlechterung der ohnehin schlechten inländischen Energieversorgung. Die Infrastruktur ist weiterhin mangelhaft und wird einhergehend mit der massiven Korruption als Haupthinderungsgrund für die wirtschaftliche Entwicklung von den Wirtschaftstreibenden genannt. Alles in allem hat sich das Wirtschaftsklima in Nigeria verbessert, aber privatwirtschaftliches Handeln ist weiterhin kostenintensiv und beinhaltet viele, teils unnötige und langwierige Prozeduren. Die Regierung ist jedoch sehr bemüht, Nigeria als Investitionsstandort besser aufzustellen. Die positiven Ergebnisse und Wirtschaftsdaten (Wachstum 2006 5,2 %, Inflation ca. 8,2 %, Entschuldung und Ausbau der Währungsreserven) sind zu einem großen Teil der günstigen Entwicklung des Ölsektors zuzuschreiben. Der Regierung gelang es gegen erheblichen Widerstand im Lande, die durch den hohen Rohölpreis erzielten, unerwarteten Mehreinnahmen auf ein Sonderkonto der Zentralbank festzulegen und damit einen einigermaßen stabilen Haushaltskurs zu fahren, einen Inflationsschub zu verhindern und Reserven für schlechtere Zeiten anzulegen.
(AA - Auswärtiges Amt, Nigeria Wirtschaft, November 2009 http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Nigeria/Wirtschaft.html,(Zugriff 31.03.2010) Le Monde diplomatique, Verflucht sei das Erdöl. 13.03.2009, http://www.mondediplomatique.
de/pm/2009/03/13.mondeText.artikel,a0043.idx,15).
In Nigeria herrscht derzeit keine Hungersnot mehr. Die Menschen leben in Familien zusammen und sorgen untereinander für sich. Jeder kann mit Arbeit bzw. Hilfsarbeiten sein notwendiges Geld für Essen, Bekleidung und Unterkunft verdienen.
(XXXX, Sachverständige für UBAS, Gutachten vom 27.09.2007)
Nigerias Wirtschaft lebt zum einen vom Öl- und Gassektor, der 40 % des BSP, 80 % der Staatseinnahmen und 97 % der Exporterlöse ausmacht, zum anderen vom (informellen) Handel und der Landwirtschaft, die dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bietet. Die Industrie (Zentren im Südwesten, Südosten und Norden) liegt wegen Energiemangels danieder. Es bestehen große Defizite bei der Infrastruktur. Schätzungsweise 50-70 % der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze von 1 US-Dollar pro Tag. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen beträgt zwar ca. 1000,- US-Dollar, ist aber völlig ungleichmäßig zwischen einer winzigen Elite und der Masse der Bevölkerung verteilt. (AA - Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 06.11.2007)
Erwerbsmöglichkeiten von Frauen:
Grundsätzlich ist aufgrund der in Nigeria, wie auch in vielen anderen Ländern Afrikas, herrschenden Massenarmut nur in Ausnahmefällen davon auszugehen, dass sich eine Person ohne besondere Fähigkeiten oder ohne finanzielle Mittel durch unqualifizierte Arbeit bzw. ohne Unterstützung aus der Armut befreien wird können. Allerdings ist es, wie das Beispiel von Millionen armer und/oder sozial und wirtschaftlich schwacher Nigerianerinnen zeigt, durchaus möglich, sowohl seine eigenen Grundbedürfnisse als auch die abhängiger Familienmitglieder zu befriedigen, wenn auch auf dem landestypischen und schichtspezifisch niedrigem Niveau. Grundsätzlich besteht die Ansicht, dass junge Menschen, insbesondere Frauen auch mit geringer Schulbildung relativ gute Chancen auf dem nigerianischen Arbeitsmarkt haben bzw. auch in verschiedenen selbständigen Erwerbsarten.
(Dr. XXXX, Bericht - Erwerbsmöglichkeiten wirtschaftlich und sozial schwacher Frauen in Nigeria, Stand Dezember 2006)
VII. Geheimgesellschaften und Kulte:
Geheimbünde oder Kulte existieren in Nigeria, über ihre Natur und Praktiken ist aber wenig bekannt. Am meisten ist noch über den Ogboni Kult bekannt. Einige Kulte sind eng verbunden mit bestimmten Dörfern, einige mit ethnischen Gemeinschaften oder politischen Gruppen. Die Mitgliedschaft kann für Personen und ihre Familien vorteilhaft sein, wie z.B. soziale Integration und der bessere Zugang zu Ressourcen. Für gewöhnlich gibt es aber keine gezwungene Mitgliedschaft. Viele Personen empfinden aber - wegen der Vorteile - einen gewissen Druck ein Mitglied des Kultes zu werden. Der Beitritt ist nicht für jeden möglich, vorwiegend können nur Personen von angesehenen Familien Mitglieder werden. Diese Personen, die traditionsgemäß die Vollmacht haben Mitglieder aufzunehmen, suchen die passenden neuen Kandidaten aus. Wenn die ausgewählte Person oder jemand seiner Familie sich nicht anschließen möchte, kann er geächtet werden oder Besitz und Erbschaft verlieren. Er muss deswegen jedoch nicht um sein Leben fürchten. Den Geheimbünden und den Kulten werden übernatürliche Kräfte nachgesagt und deswegen fürchten sich viele auch vor ihnen. Wenn ein Mitglied den Bund oder Kult verlassen möchte, muss das nicht unbedingt ein Nachteil sein oder Verfolgung bedeuten. Es ist jedoch möglich, dass ein ehemaliges Mitglied Verfolgung provoziert, wenn es z.B. geheime Informationen über die Geheimgesellschaft weitergibt. Einige geheime Kulte verwenden Tiere als Opfergaben. Menschenopfer für rituelle Zwecke oder Kannibalismus gibt es extrem selten. Es gab noch keine Tötungen von Nichtmitgliedern durch Mitglieder einer Geheimgesellschaft. Weiters operieren verschiedene gewalttätige Studentenkulte auf den Universitäten. Es kommt immer wieder zu gewaltvollen Zusammenstössen, Fällen von Vergewaltigung und Misshandlung. Wie bei anderen Kulten erhoffen sich die Mitglieder aber auch hier Vorteile von der Mitgliedschaft, weshalb Studentenkulte nicht verboten sind und weiter Mitglieder rekrutieren. Personen die sich von Geheimgesellschaften und / oder Studentenkulten verfolgt fühlen, können dieser Verfolgung durch Flucht in ein anderes Gebiet in Nigeria entkommen, da Kulte immer nur lokal operieren.
(U.K. Home Office, Operational Guidance Note Nigeria, issued 14.04.2009; U.K. Home Office, Country Report Nigeria, 15.01.2010)
In Nigeria wird vielfach an Magie (Zauberei, Juju) geglaubt. Viele Volksgruppen Nigerias bekennen sich auch zu - regional unterschiedlichen - traditionellen Religionen. Diese werden teilweise neben der christlichen oder der islamischen Religion praktiziert. Ritualmorde und Menschenopfer sollen früher praktiziert worden sein. Heute sollen Menschenopfer im Zuge von religiösen Zeremonien hingegen nicht mehr vorkommen. Jedoch kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass es auch heute noch in Nigeria zu Gewalttaten mit religiöser oder ritueller Komponente kommt. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass solche Straftaten von den staatlichen Organen geduldet bzw. nicht verfolgt würden. Beispielsweise wurden im Jahr 2003 vom nigerianischen Höchstgericht Todesurteile gegen sieben Personen, denen Beteiligung an einem so genannten Ritualmord vorgeworfen wurde, bestätigt. Ritualmord oder der Besitz von Leichen, Leichenteilen oder menschlichem Blut ohne entsprechendes medizinisches Zertifikat ist in manchen Bundesstaaten sogar ein eigener Straftatbestand.
In Nigeria existieren Geheimkulte, deren bekanntester die Ogboni-Gesellschaft ist. Die Bedeutung der Geheimkulte liegt darin, dass die Mitgliedschaft häufig Ressourcen, Einfluss und Arbeit sichert und Bestandteil der sozialen Integration ist und damit über Leben und Status der jeweiligen Familie bestimmt. Normalerweise liegt keine Zwangsmitgliedschaft vor, doch fühlen sich viele Personen - in der Regel von der eigenen Familie - auf Grund der Vorteile, die ein Beitritt zu einem Geheimkult mich sich bringt, unter Druck gesetzt. Die Geheimgesellschaften akzeptieren nicht jedermann, sondern laden Mitglieder angesehener Familien zum Beitritt ein. Auf Unwillige, nur durch Zwang rekrutierte Mitglieder wird in der Regel kein Wert gelegt. Allenfalls kann derjenige, der sich weigert beizutreten, sein Eigentum und Erbe verlieren, muss aber nicht um sein Leben fürchten. Verfolgung durch einen Geheimkult ist allerdings dann zu befürchten, wenn jemand seine Geheimnisse preisgibt. Diese Geheimnisse sollen sich nicht auf die Namen der Mitglieder beziehen, da diese in der Regel ohnehin allgemein bekannt sind, sondern auf die Entscheidungen und Interna der Geheimgesellschaft. Wenn ein Mitglied des Geheimkultes diesen verlassen will, dann führt dies nicht zwangsläufig zu nachteiligen Auswirkungen oder einer Verfolgung. Geheimkulte beziehen einen Teil ihrer Macht aus dem verbreiteten Glauben daran, dass ihnen übernatürliche Kräfte zukommen.
Der Ogboni-Bund ist - als "traditionelle" Ogboni-Gesellschaft - zu unterscheiden von der "Reformed Ogboni Society" (ROF), einer Vereinigung einflussreicher Leute, die 1914 gegründet wurde. Vertreter der ROF leugnen einen Zusammenhang mit der traditionellen Ogboni-Gesellschaft, obwohl es Personen geben soll, die beiden Vereinigungen angehören. Die ROF soll sich selbst mit dem Freimaurer-Orden vergleichen. Die traditionelle Ogboni-Gesellschaft, von der im Folgenden die Rede ist, war Teil des sozialen und politischen Systems der Yoruba-Königreiche. Die Ogboni hatten eine religiöse und eine Rechtsprechungsfunktion; sie konnten den König "machen" und absetzen (d. h. zum Selbstmord zwingen; den letzten - erfolglosen - Versuch dieser Art soll es in den späten vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegeben haben). Es gab unterschiedliche Ränge; die Mitgliedschaft war vererblich dergestalt, dass eine Familie, in deren Eigentum ein Titel stand, den Nachfolger vorschlagen durfte. Die Mitgliedschaft im unteren Rang setzte keine Initiation voraus und brachte kein Geheimwissen mit sich, sie soll nach anderen Angaben einfach vererbt worden sein. Die Ogboni sollen heute noch beträchtlichen Einfluss und Verbindungen zu den offiziellen staatlichen Strukturen haben. Man muss annehmen, dass es eine Vielzahl von Ogboni-Gesellschaften gibt, die einander in Aufbau, Aufnahme von Mitgliedern, Ritualen und Sanktionsformen nicht unbedingt gleichen.
In der Literatur wird ein - offenbar nur historisch relevanter - Fall erörtert, in dem jemand wegen der Weigerung, dem Ogboni-Bund beizutreten, mit Sanktionen bis zur Tötung bedroht wurde, der Fall nämlich, dass sich ein Mitglied der Oyo Misi, die eine Art Staatsrat bildeten und automatisch Mitglied der Ogboni waren, der Verantwortung entziehen wollte, die mit dieser Funktion verbunden war.
Der Ogboni-Gesellschaft gehören nur Yoruba oder Angehörige ihrer Unterstämme an; andere werden nur ausnahmsweise aufgenommen. Voraussetzungen für die Aufnahme sind ein gewisses Alter, nämlich etwa 30 Jahre, sowie ein bestimmter sozialer Status und Wohlstand. Üblicherweise gehören einer Ogboni-Gesellschaft auch einige Frauen an. Im Einzelfall kann die Familie großen Druck auf jemanden ausüben, um ihn zum Beitritt zu bewegen. Gerüchte über Menschen- und Blutopfer oder über Kannibalismus sollen der Abschreckung und dazu dienen, die Ehrfurcht vor den Ogboni zu steigern. Ritualmorde und Menschenopfer sollen früher praktiziert worden sein, kommen aber heute nicht mehr vor.
Home Office, Country of Origin Information Report Nigeria, 13.11.2007, Pkt. 29.01, 29.02; Home Office, Immigration and Nationality Directorate, Operational Guidance Note Nigeria, 18.01.2007, Pkt. 3.12; Immigration and Refugee Board of Canada, Country of Origin Research, Nigeria, 12.07.2005; Gutachten von Reinhard Schmidt-Grüber, 05.10.2004, Fragen 26-31; ACCORD, Birgit Kirsten Müllner/Barbara Svec, Nigeria. Länderbericht August 2004, S. 57-68.
Verschiedene Kulte sind weiterhin in verschiedenen Teilen des Landes sehr aktiv. Das umfasst auch spezielle Studentenkulte. Jedoch sind Kulte nicht in der Lage Personen im ganzen Land zu verfolgen.
(EURASIL, Workshop on Nigeria in Brüssel, 20.12.2005)
VIII. Medizinische Versorgung:
In den Großstädten ist eine ausreichende medizinische Versorgungslage gegeben. Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser. Gesundheitszentren werden auf Bundesstaatenebene finanziert und bieten Grundversorgung ("Primary Health Care System"). Arzneimittel sind vorhanden. Krebspatienten erhalten diese gratis. Ebenso sind psychische Krankheiten Teil des Primary Health Care System. Das Angebot medizinischer Dienstleistungen durch private und gemeinnützige (NGO) Institutionen/Organisationen ist qualitativ besser, in Einzelfällen sogar mit amerikanischen Standards vergleichbar. 2003 wurde eine Krankenversicherung eingerichtet, die allerdings nur für Beschäftigte im "formalen Sektor" gilt, während die meisten Nigerianer als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner arbeiten. Die Möglichkeit der Behandlung von speziellen Erkrankungen (z.B. Krebs) ist auf bestimmte Krankenhäuser beschränkt. Rund 5% Nigerianer sind offiziell HIV-infiziert. Die Regierung setzt bei HIV-Infektion/AIDS auf Aufklärung und Vorbeugemaßnahmen. Die damit einhergehend oft benötigte Dialysebehandlung ist prinzipiell in mehreren Städten Nigerias möglich, jedoch ist die Behandlung oft mit langen Wartezeiten und teilweise hohen Kosten verbunden. Antiretroviral (ARV)-Arzneimittel sind erhältlich, derzeit sind etwa 270.000 Infizierte in Behandlung. In jedem Bundesstaat Nigerias existieren zumindest ein psychiatrisches Krankenhaus sowie private Einrichtungen. Private Behandlung ist sehr teuer und Psychotherapien sind eher selten. Der Zugang zu Antidepressiva gilt aber als gewährleistet und erschwinglich.
(Home Office, UK Border Agency, Operational Guidance Notes, 14.04.2009, AA - Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, (Stand: Februar 2010), 11.03.2010 ACCORD Anfragebeantworung, Möglichkeiten und Kosten einer Dialysebehandlung, 08.02.2008).
IX. Rückkehr:
Erkenntnisse darüber, dass abgelehnte Asylbewerber bei Rückkehr nach Nigeria allein wegen der Beantragung von Asyl mit staatlichen Repressionen zu rechnen haben, liegen nicht vor. Verhaftung bei Rückkehr aus politischen Gründen oder andere außergewöhnliche Vorkommnisse bei der Einreise von abgeschobenen oder freiwillig ausgereisten Asylbewerbern aus Deutschland sind nicht bekannt geworden. Staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen für zurückkehrende unbegleitete Minderjährige sind in Lagos grundsätzlich vorhanden. Diese befinden sich jedoch in einem derart desolaten Zustand, dass zum Beispiel eine ausreichende Versorgung von minderjährigen Rückkehrern dort nicht ohne weiteres gewährleistet wäre.
(AA - Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, (Stand: Februar 2010) 11.03.2010; U.K. Home Office, Country Report Nigeria, 15.01.2010)
X. Hilfsorganisationen:
Es gibt eine Vielzahl von Menschenrechtsorganisationen, die sich grundsätzlich frei betätigen können. Sie sind nach Art, Größe und Zielrichtung sehr unterschiedlich und reichen von landesweit verbreiteten Organisationen wie der CLO (Civil Liberties Organization), der CD (Campaign for Democracy) und dem CRP (Constitutional Rights Project), die sich in erster Linie in der Aufklärungsarbeit betätigen, über ethnisch verankerte Organisationen, die sich vorrangig für die Rechte bestimmter ethnischer Gruppen einsetzen, und Frauenrechtsgruppen bis hin zu in örtlichen Gemeinden verankerten Gruppen, die vor allem konkrete Entwicklungsanliegen bestimmter Gemeinden vertreten.
(AA - Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, (Stand: Februar 2010) 11.03.2010
Zahlreiche lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen können im Allgemeinen ohne Einschränkungen durch die Regierung arbeiten und ihre Berichte auch veröffentlichen. Die Regierung ist im Wesentlichen kooperativ und reagiert auch auf Anschuldigungen seitens der NGOs.
(U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices - Nigeria, 2009, 11.03.2010)
XI. Innerstaatliche Fluchtalternative:
Die Verfassung gewährleistet Freizügigkeit, ein amtliches Meldewesen ist in Nigeria nicht vorhanden, deshalb besteht grundsätzlich die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung oder Repression Dritter durch Umzug in einen anderen Teil Nigerias auszuweichen. Alle nigerianischen Großstädte sind multi-ethnisch. In der Regel wohnen die Angehörigen der jeweiligen Volksgruppe möglichst in derselben Gegend, wenn sie nicht sogar ausschließlich ganze Stadtviertel belegen. Jeder der fremd in eine Stadt kommt, wird sich in die Gegend begeben, wo er "seine Leute" findet. Unter "seinen Leuten" können nicht nur Angehörige derselben Ethnie, sondern auch Personen desselben Religionsbekenntnisses, Absolventen derselben Schule oder Universität, Bewohner desselben Dorfes oder derselben Region verstanden werden. Von diesen Personengruppen kann der Betreffende Unterstützung erwarten. In der Regel wird ihm die Bestreitung des Lebensunterhaltes ermöglicht werden. In Nigeria gibt es keine Bürgerkriegsgebiete und Bürgerkri