D3 319467-1/2008/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Vorsitzenden und den Richter Dr. Peter CHVOSTA als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX, StA. Russische Föderation (Tschetschenische Republik), gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 28.04.2008, Zl. 06 13.762-BAW, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.02.2011 zu Recht erkannt:
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchteil I. und II. gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des bekämpften Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet gemäß § 10 Abs. 5 AsylG 2005 BGBl. I 100/2005 idF BGBl. Nr. 135/2009 auf Dauer unzulässig ist.
Entscheidungsgründe:
Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, gelangte am 19.12.2006 gemeinsam mit seiner Mutter, XXXX, unter Umgehung der Grenzkontrolle nach Österreich und stellte noch am selben Tag - damals vertreten durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin - einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 30.01.2007 wurde er gemeinsam mit seiner Mutter erstmals auf der Erstaufnahmestelle Ost befragt, wobei diese Befragung ausschließlich die Frage der Zuständigkeit eines anderen DUBLIN-Staates zum Gegenstand hatte.
Nach Zulassung ihres Verfahrens erfolgte eine Einvernahme des mj. Antragstellers, gemeinsam bzw. in Anwesenheit seiner Mutter als gesetzliche Vertreterin, durch das Bundesasylamt, Außenstelle Wien, am 10.10.2007. Der Beschwerdeführer gab an, dass er am XXXX in XXXX geboren sei und in Tschetschenien gelebt habe. Er sei in XXXX zur Schule gegangen. Zuletzt habe er die 7A Klasse der Mittelschule dort besucht. Er habe 14 Jahre lang in Tschetschenien gelebt. Die Schule sei 1 km vom Wohnsitz entfernt gewesen. Der Beschwerdeführer wurde auch zu der Wohnung bzw. zum dem "Atelier" seiner Mutter befragt. Er habe in der Schule ein Zeugnis bekommen. Er wisse jedoch nicht, wo sich dieses befinde. Einen Binnenpass habe er nicht ausgestellt bekommen. Er habe sich auch für die Aktivitäten der tschetschenischen Widerstandskämpfer nicht interessiert und sei mit diesen auch nicht in Kontakt gekommen. Er gab weiters an, dass er in die Schule gegangen sei und man ihm ein Paket gegeben hatte und 50,-- Rubel. Das Paket sei ca. 20 cm breit und 30 cm lang gewesen sowie ca. 3 kg schwer. Es sei ein gewöhnliches Paket gewesen in einem Sackerl. Was drinnen gewesen sei, habe ihn nicht interessiert. Er habe es irgendwo hintragen müssen und zwar habe er es den betreffenden Menschen gegeben. Es sei eine Hausruine gewesen. Er habe den Mann, dem er es habe übergeben müssen, nicht gekannt. Die Frage, ob er die Männer jeweils zuvor im Dorf gesehen habe, gab er an, dass er fast nie ins Dorf gegangen sei, nur wenn er etwas einkaufen habe müssen. Der Mann, der ihm das Paket gegeben habe, habe ihn gerufen. Seine Freunde seien weitergegangen. Seine Freunde hätten ihn auch nicht gefragt, was dieser Mann von ihm gewollt hätte. Er habe ihm nur das Paket gegeben und 50,-- Rubel, sonst habe er nichts gesagt. Er habe sich auch das Gesicht nicht gemerkt, sondern nur die Jacke des Mannes. Dieser habe ihm nur gesagt, dass ihn jemand erwarten würde. Am nächsten Tag sei ein Auto stehen geblieben. Man habe ihn gefragt, wo das Dorf sei. Er habe es ihnen gezeigt und habe sie dann dorthin begleiten wollen. Sie hätten ihn jedoch in das Auto gedrängt, hätten ihn zu einer Ruine gebracht und gefragt, wer die Leute gewesen seien, denen er das Paket übergeben habe. Er habe wahrheitsgemäß gesagt, dass er diese nicht kenne und sie vorher nicht gesehen habe. Sie hätten ihm dies jedoch nicht geglaubt und hätten ihn bedroht, dass sie ihn töten und begraben würden und hätten sie dann eine Teekanne genommen und gedroht, ihn mit Tee zu überschütten. Sie hätten den Tee getrunken, und dann hätten sie die Teekanne genommen und ihn beschüttet. Zuvor hätten sie die Schuhe ausgezogen, er sei in Socken gewesen. Das Wasser sei auf einer Elektroplatte gewärmt worden. Über Vorhalt, dass es in einer Ruine kaum Elektroplatten gebe, gab er an, dass es dort überall Strom gebe. Er sei einen Tag lang festgehalten worden. Die Personen, die ihn mitgenommen hätten, seien maskiert gewesen und hätten russisch gesprochen. Als sie ihm die Füße übergossen hätten, habe er das Bewusstsein verloren. Als er wieder zu sich gekommen sei, hätten ihn Leute nach Hause gebracht. Seine Großmutter und seine Mutter hätten ihn mit einer Salbe geheilt. Er habe tatsächlich die ganze Zeit in Tschetschenien gelebt und zwar bei seiner Großmutter. An den 1. Tschetschenienkrieg habe er keine Erinnerung, da sei er noch zu klein gewesen. Der 2. Tschetschenienkrieg sei schrecklich gewesen. Sie hätten sich im Keller versteckt und überall sei geschossen worden. Nach nochmaliger Frage, ob er sich während der Kriege nicht bei seinem Onkel in XXXX aufgehalten habe, gab er an, dass er klein gewesen sei und sich nicht erinnere. Anschließend wurde der Beschwerdeführer vom Polizeichefarzt untersucht, welcher zu dem Schluss kam, dass Verbrennungen 1. und 2. Grades aufgrund der Untersuchungen nicht ausgeschlossen werden könnten, tiefgreifende Verbrennungen jedoch in der Regel Narbenzüge hinterlassen würden.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Wien, vom 28.4.2008, Zl. 06 13.762-BAW, wurde unter Spruchteil I. der Antrag auf internationalen Schutz vom 19.12.2006 gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen und der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt, unter Spruchteil II. dem Antragsteller gemäß § 8 Abs. 1 AsylG auch der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt und unter Spruchteil III. gemäß § 10 Abs. 1 leg. cit. der Antragsteller aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. In der Begründung des Bescheides wurden die bereits oben wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und anschließend Feststellungen zu Tschetschenien getroffen. Beweiswürdigend wurde anschließend insbesondere ausgeführt, dass sich die Angaben der gesetzlichen Vertreterin und des Antragstellers im Hinblick auf die vorgelegten Dokumente und die widersprüchlichen Aussagen als unglaubwürdig erweisen würden. Es hätten sich überdies Hinweise ergeben, dass die gesetzliche Vertreterin und der Antragsteller, nicht wie von ihnen behauptet, dauernd in Tschetschenien aufhältig gewesen seien, sondern vielmehr unbehelligt im Gebiet von XXXX gelebt hätten. Beispielsweise habe die Mutter des Beschwerdeführers für ihren Sohn eine Geburtsurkunde, wonach er am XXXX in XXXX geboren sei, vorgelegt, jedoch behauptet, dieser wäre in XXXX geboren. Sie habe weiters behauptet, dass dieser in Tschetschenien in die Schule gegangen sei, habe jedoch weder ein Zeugnis, noch einen Binnenpass vorgelegt, noch ein Datum des Schulbeginns angegeben können. Während die Untersuchung durch den Chefarzt der BPD Wien ergeben habe, dass es sich nur um Verbrennungen 1. und 2. Grades gehandelt habe, behauptete die gesetzliche Vertreterin des Antragstellers, dass es zu schweren Verbrennungen mit Hautablösung, die sie wegschneiden habe müssen, gekommen sei. Außerdem erscheint es wenig plausibel, dass in Häuserruinen eine Stromversorgung vorhanden sei. Bezüglich der Lage und Größe des Ateliers befragt, habe der Antragsteller zu seiner Mutter unterschiedliche Angaben gemacht. Es sei daher insgesamt den Angaben keine Glaubwürdigkeit zuzubilligen gewesen. Rechtlich begründend wurde zunächst ausgeführt, dass ein Familienverfahren iSd § 34 AsylG vorliege und zu Spruchteil I. das aufgrund unglaubwürdiger Angaben keine Verfolgung oder drohende Verfolgung iSd GFK glaubhaft dargelegt worden sei und überdies eine inländische Fluchtalternative in XXXX wo der Beschwerdeführer und seine Mutter permanent angemeldet gewesen seien, vorliege. Zu Spruchteil II. wurde nach Darlegung der bezughabenden Rechtslage und Judikatur ausgeführt, dass im vorliegenden Fall nicht von einer Glaubhaftmachung der Fluchtgründe gesprochen werden könne, weshalb auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 50 FPG ausgegangen werden könne und überdies sich im vorliegenden Fall kein Abschiebungshinderniss in die Russische Föderation ergeben habe, zumal auch kein konkretes in der Person des Antragstellers gelegenes Merkmal, aus welchem die Gefahr einer Bestrafung oder Erniedrigung in schwerer Form zwangsläufig zu erwarten wäre, hervorgekommen sei. Es würden daher keine stichhaltigen Gründe bestehen, dass der Antragsteller oder seine gesetzliche Vertreterin im Falle einer Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung Gefahr liefen, in der Russischen Föderation einer unmenschlichen Behandlung oder der Todesstrafe unterworfen zu werden. Zu Spruchteil III. wurde insbesondere ausgeführt, dass kein Familienbezug zu einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden in Österreich vorliege, zumal die gesetzliche Vertreterin und der Antragsteller wohl in der gleichen Asylunterkunft wie der asylberechtigte Bruder bzw. Onkel lebe, jedoch kein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis und auch kein gemeinsamer Haushalt bestehe und dies auch nicht vor der Einreise bestanden habe. Es sei daher aufgrund des hoch einzuschätzenden öffentlichen Interesses am geordneten Vollzug des Fremdenwesens im vorliegenden Fall die Ausweisung, welche nur gemeinsam mit der gesetzlichen Vertreterin erfolgen dürfe, zulässig.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seine (damalige) gesetzliche Vertreterin, in einem gemeinsamen Schriftsatz Berufung, welche nunmehr als Beschwerde vor dem Asylgerichtshof zu werten ist. Der Bescheid wurde zur Gänze angefochten. Es wurde insbesondere kritisiert, dass die Behörde die Bestimmungen des § 18 AsylG 2005 missachtet habe und die Beschwerdeführer in mehreren Fälle nicht die Gelegenheit erhalten hätten, sich zu angeblichen, von der Behörde vermuteten Widersprüchen zu äußern. Die Behörde scheine zudem Berichte über die Situation im Herkunftsland nur selektiv wahrzunehmen. Hinsichtlich des Beschwerdeführers beantrage sie die Durchführung einer psychologischen Untersuchung, was bisher noch nicht passiert sei, obwohl die Beschwerdeführerin seine Verschlossenheit geschildert habe und vermute, dass es ihm aus psychischen Gründen nicht möglich sei, über den Vorfall zu sprechen. Nicht nachvollziehbar erscheine die etwas zu frei ausgefallene Beweiswürdigung der Behörde, die behaupte, die Beschwerdeführerin habe zuletzt unbehelligt im Gebiet von XXXX gelebt und sich nur zeitweilig in Tschetschenien aufgehalten. Wie sie bereits ausgeführt habe, hätte sie ihre Meldung in XXXX aufgrund der Kinderbeihilfe nicht aufgeben können und verwies auf das übermittelte Dokument, ausgestellt von der Administration von XXXX, die ihre Anwesenheit in dem von ihr angegebenen Zeitraum bestätige. Es sei zudem unzumutbar, dass man von ihr als Mutter eines dreizehnjährigen Jungen, der entführt und misshandelt worden sei, verlange, dass sie im Herkunftsstaat oder in das Land der Personen, die ihn misshandelt hätten, übersiedeln solle. Sie verwies diesbezüglich auf die übermittelte Bestätigung, wonach die Beschwerdeführerin den Vorfall im Zusammenhang mit ihrem Sohn bei den Behörden in XXXX gemeldet habe. Bei ihrer Einvernahme am 27.12.2006 habe man auch die Brandwunden auf den Füßen ihres Sohnes noch gesehen, dies wurde jedoch nicht im Protokoll vermerkt. Das Zufügen von Verbrennungen zweiten Grades bei einer Verschleppung zum Zweck der Erlangung von Informationen stelle laut UNO-Antifolterkonvention den Tatbestand der Folter dar, insbesondere wenn es sich beim Opfer um ein Kind handle. Sie sei auch als Mutter nicht dazu verpflichtet, auf die Zufügung schwerster Verletzungen zu warten. Hinsichtlich Spruchpunkt II schilderte die Beschwerdeführerin, dass sie und ihr Sohn im Falle ihrer Rückkehr erheblichen und realen Beeinträchtigungen ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit, ihrer Freiheit und ihres Lebens ausgesetzt seien. Die russische Gesellschaft habe sich in den letzten Jahren zunehmend zu einer fremdenfeindlichen entwickelt, was eine Rückkehr unmöglich mache und zitierte die Beschwerdeführerin diesbezüglich Auszüge aus einem Bericht der Minority Rights Group International aus 2008 sowie aus einem Bericht des US Department of State aus 2007. Ihre Ausweisung in Spruchpunkt III verstoße einerseits gegen das verfassungsrechtlich indizierte Gleichheitsgebot des Art. 7 B-VG und gegen Art. 8 EMRK.
Der Asylgerichtshof beraumte daraufhin einen Verhandlungstermin für den 23.02.2011 an, welcher gemeinsam mit der Mutter des Beschwerdeführers erfolgte und wurde den Beschwerdeführern zusammen mit der Ladung auch Feststellungen zur Lage in Tschetschenien und zur inländischen Fluchtalternative von Tschetschenen in Russland zur Kenntnis gebracht. Die Behörde erster Instanz ließ sich für die Nichtteilnahme entschuldigen. Die Beschwerdeführer erteilten mündlich eine Vollmacht (ohne Zustellvollmacht) an Mag. XXXX (Verein Integrationshaus). Der Beschwerdeführer legte einen Schulpass der XXXX sowie (gemeinsam mit seiner Mutter) eine eidesstattliche Erklärung, dass sie in XXXX gelebt hätten, einschließlich einer Bestätigung der Gemeinde sowie eine Besuchsbestätigung eines Basislehrganges für Jugendliche und junge Erwachsene sowie eine Kursantrittsbestätigung über den Hauptschulabschluss und weiters eine Bestätigung über die Teilnahme am Projekt "Talentewerkstatt" sowie (gemeinsam mit seiner Mutter) zahlreiche Unterstützungsschreiben einschließlich eines Schreibens des Arbeiter XXXX vom 18.2.2011 vor. Seine Mutter gab hinsichtlich des Beschwerdeführers an, dass dieser Probleme mit russischen bzw. mit diesen verbündeten tschetschenischen Kräften gehabt habe, führte jedoch nach Aufforderung, diese näher zu schildern, an, dass die Russen bei Säuberungsaktionen die männlichen Jugendlichen immer provoziert hätten. Erst über nähere Nachfrage gab sie an, dass ihr Sohn am XXXX auf dem Schulweg von einem Mann eine Tasche bekommen habe und diese einem anderen Mann übergeben sollte und dafür 50,-- Rubel bekommen habe. 5 Tage später, am XXXX, sei er von zwei Männern in einem Auto angesprochen worden, um ihnen den Weg zu zeigen. Er sei dann in das Fahrzeug eingestiegen und entführt worden. Ihre Cousine, die als Lehrerin gearbeitet habe und bei der sie gewohnt habe, habe ihr um 12 Uhr, als sie nach Hause gekommen sei, gesagt, dass ihr Sohn nicht in der Schule gewesen sei. Sie sei daraufhin in die Schule gegangen, um sich zu erkundigen. Die anderen Kinder hätten auch nicht gewusst, wo er sei. Sie sei dann aufs Gemeindeamt gegangen und habe eine Anzeige gemacht, dass ihr Sohn verschwunden sei. Sie hätten dann gemeinsam nach ihm gesucht und ihn nicht gefunden. Sie seien auch auf die Kommandantur gegangen und hätten nach ihm gefragt. Sie sei verzweifelt gewesen. Am selben Tag am Nachmittag sei er von einem Taxifahrer auf der Straße gefunden worden, und heimgebracht worden. Der Taxifahrer habe ihn ohnmächtig gefunden, er habe einen Schock gehabt. Sie sei jedoch mit ihm zu keinem Arzt gegangen, sondern habe ihn gemeinsam mit ihrer Mutter selbst gepflegt. Die Füße seien verbrannt gewesen und sie habe die Brandwunden mit einer Salbe, die sie von einem alten Mann erhalten habe, kuriert. Am XXXX, als sich ihr Sohn etwas besser gefühlt habe, seien sie ausgereist. Schließlich führte sie aus, dass ihr Sohn gezwungen werde, sich entweder den Kadyrovzy oder dem Widerstand anzuschließen, wenn er zurückkehren würde und dass sie glaube, dass die Entführung dazu gedient habe, dass er als Spitzel hätte arbeiten sollen. Weiters gab sie an, dass ihr Sohn ihrem Cousin geholfen habe, indem er die Tasche überbracht habe.
Der Beschwerdeführer selbst gab an, dass er sein bisheriges Vorbringen aufrecht halten wolle und dieses weder korrigieren noch ergänzen wolle; er sei Tschetschene und Moslem und am XXXX in XXXX geboren, laut Geburtsurkunde jedoch in XXXX. Er habe die ganze Zeit in XXXX gelebt. Als er ein Kind gewesen sei, habe er ein paar Mal seinen Onkel in XXXX besucht, aber das sei nur ein paar Tage lang gewesen. Er habe 7 Klassen die Grundschule in XXXX besucht. Er habe auch Kontakt zu tschetschenischen Kämpfern gehabt, derzeit habe er jedoch keinen mehr. Als sie zu ihm nach Hause gekommen seien, hätte er sich mit ihnen unterhalten und er habe ihnen geholfen, indem er ihnen etwas gebracht habe. Über Aufforderung auszuführen, was er ihnen gebracht habe, gab er an, er wisse nicht was drinnen gewesen sei, er habe eine Tasche transportiert. Er wisse auch nicht, wem er die Tasche übergeben habe, aber er habe die Tasche von einem Verwandten seiner Mutter erhalten. Er habe ihm nur gesagt, dass er die Tasche übergeben solle, er habe ihm nicht gesagt, was in dieser Tasche drinnen sei. Er habe die Tasche ca. 10 Minuten lang getragen, dabei habe es keine Kontrollen gegeben. Die Frage, warum jener Verwandte, der ihm die Tasche übergeben habe, diese nicht selbst weitergetragen habe, gab er an, dass er ihm gesagt habe, dass es für Erwachsene gefährlicher sei, als für Jugendliche. Es sei das erste Mal gewesen, dass er so einen Botendienst gemacht habe. Er habe für diese Tätigkeit 50,-- Rubel erhalten. Die Tasche sei ca. 3-4 kg schwer gewesen, es sei ein Plastiksack gewesen.
Nach fünf Tagen, nämlich am XXXX, sei er mitgenommen worden, wisse aber nicht von wem. Sie hätten ihn am Schulweg angesprochen und nach dem Weg gefragt und dann gezwungen, in ein Auto zu steigen. Sie hätten ihn dann in ein Haus gebracht und ihn gefragt, wem er die Tasche übergeben habe. Er habe gesagt, dass er diese nicht kenne und sie hätten ihm gedroht ihn umzubringen. Sie hätten ihn mit kochendem Wasser überschüttet. Über Vorhalt, dass er beim Bundesasylamt gesagt hätte, er wäre mit Tee überschüttet worden, gab er an, dass er gemeint habe, es sei Wasser, das mit einem Teekocher warm gemacht worden sei. Über Vorhalt, dass es sich das Bundesasylamt für unplausibel erachtet habe, dass in einer Ruine, von der er gesprochen habe, Strom vorhanden sei, führte er aus, dass es ein beschädigtes Haus gewesen sei und es Strom gegeben habe. Nach seiner Freilassung habe ihn seine Mutter und seine Großmutter mit einer Salbe behandelt. Bis zur Ausreise habe es keine weiteren Vorfälle mehr gegeben. Er wisse nicht genau, wie lange er noch in Tschetschenien gewesen sei, etwa eine Woche oder mehr. Er habe noch einen Onkel väterlicherseits in XXXX und Verwandte mütterlicherseits in XXXX. Er würde mit diesen telefonieren, sie würden ihnen jedoch telefonisch nichts erzählen, weil dieses überwacht werde. Mit dem Onkel mütterlicherseits in XXXX habe er keinen Kontakt. In Österreich habe er eine Tante väterlicherseits in Graz und eine Tante mütterlicherseits in Linz sowie einen Onkel mütterlicherseits in Linz und einen weiteren in St. Valentin. Er habe in Österreich Kurse für den Hauptschulabschluss besucht und müsse für diese noch vier Prüfungen machen, dann bekomme er ein Zeugnis. Darüber hinaus habe er einen Basisbildungskurs für Jugendliche und junge Erwachsene besucht und betreibe Sport und zwar habe er Karate gemacht und übe jetzt Thaiboxen und Jiu-Jitsu aus und sei auch bei einem Club (XXXX), er habe auch österreichische Freunde. Er habe ein Jahr lang Termine bei einem Psychologen gehabt, jetzt jedoch nicht mehr. Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation oder nach Tschetschenien sei er sicher, dass er in Tschetschenien wieder entführt würde. Er wolle sich auch nicht den Kadyrow Leuten oder den tschetschenischen Kämpfern anschließen, sondern ein ruhiges Leben führen. Bei seinem Onkel in XXXX, wo er auch gemeldet war, könne er nicht leben, da es keinen Unterschied mache, ob er sich in Tschetschenien oder in XXXX aufhalte. Der Beschwerdeführer hat bei der Befragung teilweise in deutscher und teilweise in tschetschenischer Sprache geantwortet.
Anschließend wurde den Verfahrensparteien gem. § 45 Abs. 3 AVG am Schluss der Verhandlung die Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010 zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt: Weiters wurde den Beschwerdeführern die Möglichkeit eingeräumt innerhalb der selben Frist Unterlagen über deren Integration vorzulegen.
Am 04.03.2011 langte eine Stellungnahme für die Beschwerdeführerin und ihren Sohn beim Asylgerichtshof ein, der Kopien von mehreren Unterstützungsschreiben für die Beschwerdeführer beigelegt wurden. In der Stellungnahme wurde ausgeführt, dass Kadyrow derzeit den Islam dazu benütze, um die Menschen vollständig unter seine Kontrolle zu bringen und er habe aus diesem Grunde auch in Grosny eine riesige Moschee bauen lassen. Da der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nunmehr volljährig sei, würde er mit großer Wahrscheinlichkeit in das Visier der Kadyrow Leute geraten, da man annehmen würde, er sei nach Tschetschenien zurückgekehrt, um sich den Rebellen anzuschließen. Die Mutter des Beschwerdeführers habe große Angst vor einer erneuten Entführung ihres Sohnes und vor allem davor, dass man ihn diesmal nicht laufen lasse, weil man ihn als potenziellen Kämpfer der Rebellen betrachten würde.
Der Asylgerichtshof hat wie folgt festgestellt und erwogen:
Zur Person des Beschwerdeführers wird Folgendes festgestellt:
Er ist Staatsbürger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und wurde am XXXX geboren, nach seinen eigenen Angaben bzw. nach den Angaben seiner Mutter in XXXX, laut Geburtsurkunde jedoch in XXXX. Er lebte die meiste Zeit mit seiner Mutter in XXXX und besuchte dort auch die Grundschule. Zu den Fluchtgründen können mangels glaubhafter Angaben keine Feststellungen getroffen werden. Der Beschwerdeführer gelangte gemeinsam mit seiner Mutter, XXXX, am 19.12.2006 unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich und stellte noch am selben Tag (damals vertreten durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin) einen Antrag auf internationalen Schutz. Er hat sowohl Onkel als auch weitere Verwandte in Tschetschenien und in der Region XXXX, aber auch Onkel und Tanten in Österreich. Er hat in Österreich Kurse für den Hauptschulabschluss besucht. Es fehlen ihm für diesen noch vier Prüfungen. Weiters hat er einen Basisbildungskurs für Jugendliche und junge Erwachsene besucht und betreibt derzeit Thaiboxen und Jiu-Jitsu als Sport, wobei er auch bei einem Verein ist. Weiters hat er auch am Projekt "Talentewerkstattt" teilgenommen. Er verfügt über zahlreiche österreichische Freunde, die auch bereit waren den Beschwerdeführer (und seine Mutter) durch Unterstützungsschreiben zu unterstützten. Der Beschwerdeführer spricht auch schon gut Deutsch.
Zu Tschetschenien und einer inländischen Fluchtalternative von Tschetschenen in Russland wird Folgendes festgestellt:
Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.
In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.
Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut. Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.
Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten.
Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".
Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.
(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:
Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, )
1. Allgemeine Sicherheitssituation
Präsident Ramzan Kadyrow hat in Tschetschenien ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheitsals auch bei der Menschenrechtslage hatte sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wurde von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben. Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs reagierten die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Die Entführungszahlen stiegen wieder an: Memorial hat 74 Entführungsfälle für die erste Jahreshälfte 2009 registriert (im Gesamtjahr 2008 waren es im Vergleich 42). Die Entführungen wurden größtenteils den (vor allem republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden (nach Informationen von Memorial) - auch außerhalb Tschetscheniens - regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)
Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.
Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.
(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)
Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.
Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)
Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.
Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet werden. Dadurch konnte die Sicherheitslage in Tschetschenien weitgehend stabilisiert werden. Andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5)
2. Verfolgungsgefahr
2.1. Zivilbevölkerung
Glaubwürdigen Berichten von NROs, internationalen Organisationen und der Presse zufolge haben sich auch nach dem von offizieller Seite festgestellten Abschluss des "politischen Prozesses" zur Überwindung des Tschetschenienkonflikts dort erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)
Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:
Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.
In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)
Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Bisher gibt es nur sehr wenige Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Im Juni 2007 verhängte dasselbe Gericht in der "Sache Ulman" Haftstrafen zwischen neun und 14 Jahren gegen vier Offiziere wegen der Erschießung von sechs tschetschenischen Zivilisten im Dezember 2002. Ulman und Mittäter waren zuvor zwischen 2002 und 2005 zweimal von Geschworenengerichten freigesprochen worden, bis der russische Verfassungsgerichtshof diese Freisprüche kassierte und eine erneute gerichtliche Prüfung des Falls anordnete. Drei der Verurteilten sind allerdings untergetaucht. Für Aufsehen sorgte die vorzeitige Entlassung von Ex-Oberst Budanow. Er war 2003 zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er im Jahr 2000 eine 18-jährige Tschetschenin getötet hatte, und ist im Januar 2009 vorzeitig aus der Haft entlassen worden.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19)
Eine Gefahr für Zivilisten stellen nicht nur die Kämpfe zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften dar, sondern auch die in der Republik verbreiteten Anti-Personenminen. Rund 14.000 Hektar, etwa 1% des gesamten Territoriums sollen weiterhin vermint sein. 2008 starben 39 Personen, zwischen 2005 und 2008 insgesamt 171 Personen durch Anti-Personenminen und Blindgänger. Die Zahl der Todesfälle ging in diesen drei Jahren mit jedem Jahr zurück. Des Problems der Minen ist man sich bewusst, zuletzt sprach sich Präsident Medwedew im August 2010 für weitere Minenräumungen in Tschetschenien aus. (Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 19-20)
Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Dokku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.
Die Anführer der einzelnen Gruppen ("Dschamaat") nennen sich "Emir". Das traditionelle Rückzugsgebiet in den Wäldern der schwach besiedelten Bergregion im Süden des Landes wird nach wie vor genutzt. Insbesondere die Grenzgebiete zu den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan sind von Bedeutung. Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Dokku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)
Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Vorfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Sowohl bei den Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.
(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14)
Eine weitere Strategie, Rebellen zu bekämpfen, besteht darin, Angehörige vermeintlicher Rebellen unter Druck zu setzen, um diese zur Aufgabe zu bewegen. Nachdem dieses Vorgehen Menschenrechtsorganisationen zufolge in den letzten Jahren zurückgegangen war, wird seit 2008 wieder vermehrt über solche Repressalien berichtet. So etwa dokumentierte die NRO Human Rights Watch zwischen Juli 2008 und Juli 2009 über zwei Dutzend Fälle, bei denen tschetschenische Sicherheitskräfte Häuser von Familien angeblicher Untergrund-kämpfer angezündet haben - als Strafe dafür, dass ein Sohn oder Enkel Widerstandskämpfer sei. Seit Sommer 2009 erhielt Human Rights Watch weitere Berichte über Haus-Niederbrennungen, zuletzt im März 2010 in Schali. Hochrangige lokale Politiker wie Ramzan Kadyrow oder der Bürgermeister von Grosny Muslim Chutschijew sprachen sich explizit für diese Art der kollektiven Bestrafung aus. Des Weiteren gibt es Berichte, denen zufolge Sicherheitskräfte Rebellen zu vergiften versuchen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 12)
2.2.1. Das Vorgehen der Rebellen
In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Tschetschenische Kämpfer begannen zunehmend auf Terrorakte zu setzen, wie etwa die Geiselnahme im Moskauer Theater Dubrowka 2002, die Geiselnahme an der Schule von Beslan 2004 oder der Angriff auf Naltschik 2005. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.
Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können. Die kleine Gruppengröße (Berichten zufolge fünf bis zehn Kämpfer pro Gruppe) erleichtert es, flexibel zu bleiben, die Standorte häufig zu wechseln und die Infiltration durch Gegner zu erschweren. Regelmäßig - aus Medienberichten zu schließen mehrmals monatlich - kommt es zu Angriffen gegen staatliche Einrichtungen und Sicherheitskräfte, ebenso wie gegen vermeintliche Gegner der Rebellen. Seit 2008 führt die islamistische Rebellenbewegung im Nordkaukasus wieder vermehrt Selbstmordattentate durch, die insbesondere auf lokale Sicherheitskräfte abzielen, jedoch auch zahlreiche zivile Opfer fordern. Nachdem sich im Jahr 2001 die erste so genannte "Schwarze Witwe" in die Luft gesprengt hatte, kam es nicht zuletzt durch die Gründung des Selbstmordkommandos "Riyadus Salihin" ("Gärten der Tugendhaften") durch Schamil Bassajew regelmäßig zu Selbstmordanschlägen. 2004 riss diese Reihe ab, nach einer ungefähr vierjährigen Pause kam es zu einer Wiederbelebung der Riyadus Salihin durch Said Buryatsky (Alexandr Tichomirow) Ende 2008. Im Jahr 2009 kam es ab dem Sommer in Tschetschenien zu mindestens zehn Selbstmordanschlägen. Danach ging deren Häufigkeit zwar wieder zurück, dennoch kam es auch 2010 zu, je nach Quelle, ein bis zwei Selbstmordanschlägen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)
2.2.2. Schwächung der Rebellenbewegung
Im letzen Jahr kamen zahlreiche Anführer des Kaukasus Emirats ums Leben, darunter auch tschetschenische. Zuletzt wurde am 21. August 2010 der "Emir von Grosny", Chamsat Schamilew, bei einem Sondereinsatz getötet. Gerade in Tschetschenien selbst gelang es im Gegensatz zu Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien aber nicht, auch bedeutende Führungspersönlichkeiten wie Dokku Umarow, festzunehmen oder zu liquidieren. Ob die Tötung von Führungspersönlichkeiten zu einer Schwächung der tschetschenischen Rebellenbewegung führen würde ist fraglich. Das Beispiel der anderen Republiken zeigt, dass dies zumindest kurzfristig nicht zu einer entscheidenden Schwächung der einzelnen Dschamaat führt. 2009 wurden den offiziellen Angaben zufolge 148 Kämpfer "liquidiert", 290 Kämpfer und Unterstützer wurden verhaftet. Jedoch scheint der Zulauf zur Rebellenbewegung weiterhin stabil zu sein.
Die nordkaukasische Widerstandsbewegung wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert. Radikal-islamisches Gedankengut findet jedoch in Tschetschenien kaum Sympathien in der Bevölkerung, die Islamisten können sich durch den hohen Repressionsdruck nicht frei in der Öffentlichkeit bewegen. Obwohl die radikal-islamische Ausrichtung einige Männer abschrecken soll sich den Kämpfern anzuschließen, scheint die nordkaukasische Rebellenbewegung keine Probleme zu haben, neue Mitglieder zu rekrutieren. Dabei soll es sich um eine neue Generation vor allem junger Männer handeln, die aufgrund des gewalttätigen Vorgehens der lokalen Sicherheitskräfte gegen vermeintliche Rebellen und ihre Angehörige radikalisiert werden. Aber auch junge Frauen schließen sich vereinzelt der Rebellenbewegung an. Dazu kommen sozioökonomische Gründe: Bei der hohen Arbeitslosenrate fehlt vielen jungen Tschetschenen die Perspektive. Das radikal islamistische Gedankengut spielt bei der Rekrutierung eine untergeordnete Rolle, viele werden erst als Mitglied der Untergrundbewegung indoktriniert.
Obwohl die Rekrutierung neuer Mitglieder kein Problem darstellt, gehen den tschetschenischen Kämpfern einigen Beobachtern zufolge zusehends die Ressourcen aus, da es Kadyrow und russischen Sicherheitskräften gelungen sei, ihre Versorgungslinien abzuschneiden. Am 1. August 2010 wurde ein Video von Dokku Umarow veröffentlicht, in dem er seinen Rücktritt erklärte. Am nächsten Tag erklärte er in einem weiteren Video, dass ersteres gefälscht gewesen wäre und er nicht zurücktrete. Seitdem ranken sich die Gerüchte über die Gründe für diese widersprüchlichen Aussagen, zum Beispiel wird gemutmaßt, ob es einen Putsch jüngerer Emire gegeben hat, die Umarow zum Rücktritt gezwungen hatten oder ob Umarow unter Druck stand, weil er als schlechter militärischer Stratege betrachtet wird oder ihm die Schuld an der Schwächung des tschetschenischen Flügels des Emirats gegeben wurde.
Anderen Spekulationen zufolge hatten einige Emire der anderen Republiken nach dem Rücktritt Umarows dessen von ihm ernannten Nachfolger Aslanbek Wadalow (Emir Aslanbek) nicht anerkannt, was Umarow zu diesem "Rücktritt vom Rücktritt" zwang. Einer wiederum anderen Interpretation der Ereignisse zufolge handelte es sich um einen von langer Hand geplanten Coup des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), um Umarows Position als Anführer des Kaukasus Emirats zu unterminieren. Der tschetschenische Emir Aslanbek selbst trat Mitte August als Stellvertreter Umarows (naib), zu dem er erst im Juli 2010 ernannt worden war, zurück. Er und Husein Gakajew, ebenfalls erst im Juli zum Emir des Gebiets Tschetscheniens des Kaukasus Emirats ernannt, erklärten Umarow nunmehr nicht die Treue halten zu können. Dem folgten auch die beiden bekannten, in Tschetschenien aktiven Emire Tarchan und Muchannad, wenngleich sich alle als dem Kaukasus Emirat weiterhin verpflichtet erklärten. Andere Emire des in Kabardino-Balkarien und Karatschajewo-Tscherkessien tätigen Jarmuk Dschamaat und des inguschetischen und des Dagestan Dschamaat hingegen erklärten Umarow weiterhin ihre Loyalität. Diese jüngsten Vorgänge werden vielfach als Spaltung innerhalb der Rebellenbewegung interpretiert.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16-18)
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)
Die Rebellenbewegung erfuhr durch den Verlust hunderter Kämpfer und hochrangiger Kommandeure durch Tod oder Überlaufen eine Schwächung, die sich ab 2003 bemerkbar machte. Dies führte aber aufgrund des nicht abzubrechen scheinenden Zulaufs zur Rebellenbewegung nicht zu einer Ausmerzung dieser, Angriffe auf Sicherheitskräfte werden regelmäßig durchgeführt. Am 29. August 2010 wurde die Heimatstadt Ramzan Kadyrows, Zenteroi, von einer Gruppe von 30 bis 60 islamistischen Kämpfern angegriffen. Überraschend war hier vor allem, dass eine so große Einheit angriff. Der Angriff zeigt aber auch, dass die Rebellen zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind, schließlich gilt Zenteroi als die am besten bewachte Stadt Tschetscheniens.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 18)
2.2.3. Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen
Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Klanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)
Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Tschetschenische Parlamentsabgeordnete, die eine Geiselnahme fürchteten, flüchteten in den zweiten Stock. Russische Parlamentarier, die aus der Ural-Region Swerdlowsk angereist waren, wurden evakuiert. Tschetschenische Polizisten verließen mit blutenden Köpfen das Gebäude. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind. Kadyrow, das von Putin eingesetzte Oberhaupt Tschetscheniens, versuchte den Vorfall herunterzuspielen. Seine Sicherheitskräfte hätten nur 20 Minuten gebraucht, um den Angriff auf das Parlament abzuwehren. Doch nach Medienberichten dauerten die Feuergefechte über eine Stunde.
(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)
Am 6. Juli forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.
(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)
2.3. Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:
Der Mord an einer Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial im Juli 2009 zeigt, dass geäußerte Bedenken in Hinblick auf Rechte und Sicherheit der NRO Mitarbeiter derzeit nicht unbegründet sind. Am 15. Juli 2009 wurde Natalja Estemirova nach Inguschetien verschleppt und erschossen. Erwähnt sei auch der Mord an der NRO Mitarbeiterin Salema Sadulaeva ("Let¿s Save the Generation") und ihrem Ehemann Alik Dzhabrailov am 11. August 2009. Die beiden waren in einem Vorort von Grosny erschossen aufgefunden worden. Ob ihr Tod aber tatsächlich mit der Tätigkeit Sadulaevas in der NRO zusammenhängt ist unklar, da auch Vermutungen bestehen, dass der Mord aus Rache an ihrem Ehemann passierte. Unabhängig von den Mordmotiven scheint eine Aufklärung der Morde in allen drei Fällen unwahrscheinlich.
Bereits im Jänner 2009 waren in Moskau auf offener Straße Stanislav Markelov, ein prominenter Menschenrechtsanwalt der zahlreiche Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien vertreten hatte, und Anastasiya Baburova, eine junge Praktikantin für die Zeitung "Novaya Gazeta", für die bereits Anna Politkovskaya bis zu ihrem Tod gearbeitet hatte, erschossen worden. Im August 2008 starb der inguschetische Journalist und Anwalt Magomed Yevloev in einem Polizeiauto, nachdem er für eine Einvernahme festgenommen worden war. Somit kann bei Personen, die sich aktiv für Menschenrechte in Tschetschenien oder das Aufzeigen von dort begangenen Menschenrechtsverletzungen einsetzen, davon ausgegangen werden, dass diese im Allgemeinen einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind.
(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 6, 12 und 13)
Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen offiziellen tschetschenischen Einheiten, insbesondere zwischen solchen unter der Kontrolle Kadyrows und jenen unter der Kontrolle von Personen, die gemeinhin als seine persönlichen Gegner bezeichnet wurden, wie zum Beispiel der mittlerweile ermordete Sulim Jamadajew und der nunmehr aus Tschetschenien vertriebene Said-Magomed Kakijew. Bei diesen Zusammenstößen kam es auch zu Todesfällen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 10)
3. Versorgungslage
Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den Jahren seit 2007 deutlich verbessert.
Einige Indizien hierfür liefern die offiziellen Statistiken: Die Durchschnittslöhne in Tschetschenien liegen spürbar über denen in den Nachbarrepubliken. Das laufende föderale Hilfsprogramm zum Aufbau Tschetscheniens sieht 111 Mrd. Rubel (2,5 Mrd. ¿) für die Jahre 2008-2011 vor. Damit sind die Staatsausgaben in Tschetschenien pro Einwohner doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 19 und 20)
3.1. Wohnsituation
Im Juli 2003 führte die Regierung Kompensationszahlungen ein. Im Rahmen dessen sollten Personen, deren gesamtes Eigentum zerstört worden war, 350.000 Rubel bekommen. Der föderalen Regierung zufolge hatten bis Ende 2004 39.000 Personen solche Kompensationszahlungen erhalten. Zusätzlich zu Regierungsprogrammen unterhalten humanitäre Organisationen Programme zur Beschaffung von Unterkünften. Zwischen 2000 und 2007 wurden in Tschetschenien rund 20.000 Häuser mit der Hilfe humanitärer Organisationen repariert oder aufgebaut.
(BAA - ÖIF, Soziale Infrastruktur in Tschetschenien; August 2009, Seite 9)
Wohnraum bleibt ein großes Problem. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wu