TE OGH 2009/2/24 10Ob43/08h

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Veröffentlicht am 24.02.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Narin R*****, geboren am 20. September 2004, *****, vertreten durch das Land Wien als Jugendwohlfahrtsträger (Amt für Jugend und Familie Rechtsvertretung Bezirk 10, Van der Nüll Gasse 20, 1100 Wien), über den Revisionsrekurs der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Dezember 2007, GZ 45 R 729/07z-U31, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 11. Oktober 2007, GZ 8 P 62/07t-U22, bestätigt wurde, den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wie folgt zu lauten hat:

„Der mj Narin R*****, geboren am 20. 9. 2004, wird für den Zeitraum 1. 5. 2007 bis 30. 4. 2010 gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von 105,40 EUR gewährt.

Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien wird um die Auszahlung der Vorschüsse an den Zahlungsempfänger ersucht.

Dem Unterhaltsschuldner wird aufgetragen, die Pauschalgebühr in Höhe von 53 EUR binnen 14 Tagen zu bezahlen, und zwar auf die Kontoverbindung BLZ 60.000 Kto Nr 00005460528 des Bezirksgerichts Favoriten.

Ferner wird dem Unterhaltsschuldner aufgetragen, alle Unterhaltsbeträge - sonst hätten sie keine schuldbefreiende Wirkung - an den in der Pflegschaftssache genannten Jugendwohlfahrtsträger als gesetzlichen Vertreter des Kindes zu zahlen.

Der Jugendwohlfahrtsträger wird ersucht, die bevorschussten Unterhaltsbeträge einzutreiben und soweit eingebracht monatlich dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Wien zu überweisen."

Text

Begründung:

Die am 20. 9. 2004 geborene Narin R***** ist das Kind von Aneta R***** und Hüseyin K*****. Die Minderjährige lebt im Haushalt ihrer Mutter in Wien. Beide sind Staatsangehörige der Slowakei. Der Vater ist türkischer Staatsbürger. Von 1. 1. 2007 bis 23. 4. 2007 bezog er in Österreich Notstandshilfe (Überbrückungshilfe). Zwischen 1. 7. 2007 und 11. 9. 2007 war er in einem österreichischen Personalleasingunternehmen beschäftigt. Ab 20. 9. 2007 bezog er wieder Notstandshilfe (Überbrückungshilfe). Ob er am 1. 5. 2007 die Kriterien der Arbeitnehmereigenschaft im Sinn der Verordnung (EWG) 1408/71 erfüllte und/oder ob dies für die Mutter zutrifft, steht derzeit nicht fest. Anhaltspunkte dafür, dass der Vater sich nicht mehr in Österreich aufhält, liegen nicht vor.

Mit rechtskräftigem Beschluss vom 9. 5. 2007 wurde der Vater zur Zahlung eines vorläufigen Unterhaltsbeitrags von monatlich 105,40 EUR ab dem 28. 3. 2007 für seine Tochter verpflichtet. Über deren Antrag vom 30. 5. 2007 gewährte ihr das Erstgericht vorerst (mit Beschluss vom 4. 6. 2007 [ON U13]) gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG monatliche Unterhaltsvorschüsse von 105,40 EUR für die Zeit von 1. 5. 2007 bis 30. 4. 2010. Dem dagegen erhobenen Rekurs des Bundes (der sich darauf berief, dass die Elternteile der Antragstellerin keine „Wanderarbeitnehmer" in Sinn der VO 1408/71 seien und kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliege) gab es mit Beschluss vom 11. 10. 2007 (ON U22) selbst statt und behob den Bewilligungsbeschluss. Gemäß Art 12 der Präambel Verordnung (EG) Nr 859/2003 finde die Ausdehnung der VO 1408/71 samt DurchführungsVO auf Drittstaatsangehörige (hier: Slowakei [?] bzw Türkei) in Situationen, die mit keinem Element über die Grenze eines einzigen Mitgliedstaats hinauswiesen, keine Anwendung. Da hier keine Beziehungen zu einem weiteren Mitgliedstaat vorlägen und der Vater auch keinen versicherungsrechtlichen Bezug zu Österreich aufweise, fehlten die Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen. Das Rekursgericht gab dem gegen die Entscheidung des Erstgerichts erhobenen Rekurs der Minderjährigen (die sich auf „Ansprüche" des Vaters auf Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe sowie darauf berief, dass die Slowakei seit 1. 5. 2004 Mitglied der Europäischen Union sei und bezüglich der Türkei eine Gleichstellung bestehe) nicht Folge. Ob der Unterhaltspflichtige zum Zeitpunkt der Bewilligung des Unterhaltsvorschusses einen Anspruch auf Arbeitslosengeld gehabt hätte, könne dahingestellt bleiben, weil er zu diesem Zeitpunkt jedenfalls keines bezogen habe. Die bloße Tatsache der Arbeitslosigkeit vermöge keine Anspruchsberechtigung aus der VO 1408/71 zu begründen.

Das Rekursgericht sprach zunächst aus, dass der Revisionsrekurs nicht zugelassen werde, ließ den ordentlichen Revisionsrekurs über Zulassungvorstellung der Minderjährigen jedoch mit folgender Begründung [doch] zu:

Wesentliche Grundlage der Entscheidungen erster und zweiter Instanz sei gewesen, dass die Tatsache der bloßen Arbeitslosigkeit (also ohne Bezug von Arbeitslosengeld) zum Zeitpunkt der Bewilligung des Unterhaltsvorschusses (4. 6. 2007) eine Anspruchsberechtigung nach der Verordnung nicht begründe. Wie die Zulassungsvorstellung zutreffend ausführe, stehe diese Beurteilung jedoch nicht im Einklang mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vom 12. 7. 2005, 4 Ob 124/05x. Danach sei eine Person nämlich auch dann als „Arbeitnehmer" im Sinn der Verordnung anzusehen, wenn sie die materiellen Voraussetzungen erfülle, die von dem für sie geltenden System der sozialen Sicherheit objektiv festgesetzt worden seien, selbst wenn die für den Anschluss an dieses System erforderlichen Schritte nicht unternommen worden seien. Die Zulassungsvorstellung zeige daher eine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG auf.

Gegen die Entscheidung über den Rekurs richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss dahin abzuändern, dass antragsgemäß Unterhaltsvorschuss gemäß §§ 3, 4 Z 1 UVG ab 1. 5. 2007 gewährt werde.

Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien als Vertreter des Bundes und der Vater haben keine Revisionsrekursbeantwortungen erstattet. Mit Beschluss des erkennenden Senats vom 14. 10. 2008 wurden die Akten dem Erstgericht mit dem Auftrag zurückgestellt, eine Gleichschrift des Revisionsrekurses samt Ausfertigung des Zulassungsbeschlusses des Rekursgerichts auch der Mutter zur allfälligen Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zuzustellen. Nach fruchtlosem Verstreichen dieser Frist wurden die Akten dem Obersten Gerichtshof neuerlich zur Entscheidung vorgelegt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht angeführten Grund zulässig und auch berechtigt.

Die Revisionsrekurswerberin vertritt den Standpunkt, es reiche aus, wenn der Unterhaltsverpflichtete Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe gehabt habe. Sie beruft sich darauf, dass ihr Vater während des Jahres 2007 „immer wieder pflichtversichert" gewesen sei. Ein Abstellen auf das Beschlussdatum wäre unter diesen Umständen willkürlich und würde den Unterhaltsvorschussanspruch von Zufälligkeiten abhängig machen. Für die Bewilligung von Unterhaltsvorschüssen könne es nicht isoliert darauf ankommen, ob gerade zum Beschlusszeitpunkt eine Meldung beim Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger vorliege. Darüber hinaus sei nach der Entscheidung 4 Ob 124/05x - entgegen der Ansicht des Rekursgerichts - nicht darauf abzustellen, ob der Unterhaltsschuldner versichert sei. Entscheidend sei vielmehr, ob die Person die materiellen Voraussetzungen einer Pflichtversicherung erfülle und etwa nur deshalb nicht versichert sei, weil sie die dafür erforderliche Meldung oder Antragstellung unterlassen habe. Da der Vater „vor und nach Juni 2007" Leistungen des AMS bezogen habe, sei nicht einzusehen, weshalb er gerade zum Zeitpunkt, zu dem das Gericht die erste Entscheidung getroffen habe, keinen Anspruch auf Leistungen des AMS gehabt haben sollte. Außerdem komme es nicht auf diesen Zeitpunkt an, sondern auf den Zeitpunkt der letztlich vom Kind angefochtenen Entscheidung. Am 11. 10. 2007 sei der Vater aber pflichtversichert gewesen.

Die aufgeworfene Frage, ob der Vater dem Arbeitnehmerbegriff der VO 1408/71 unterliegt, stellt sich jedoch gar nicht; darauf kommt es nämlich, wie der Senat erst jüngst ausgeführt hat (E vom 9. 9. 2008, 10 Ob 76/08m und vom 4. 11. 2008, 10 Ob 54/08a, die vergleichbare Fälle betrafen [Mutter und Tochter bzw Mutter und Sohn waren jeweils beide tschechische bzw polnische Staatsbürger mit Wohnsitz in Österreich; der Vater war jeweils Österreicher mit Wohnsitz und möglichem Beschäftigungsort in Österreich]), aus folgenden Gründen nicht an:

„2. Anspruch auf Vorschüsse haben nach § 2 Abs 1 Satz 1 UVG 'minderjährige Kinder, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben und entweder österreichische Staatsbürger oder staatenlos sind'.

Im Gefolge des EuGH-Urteils vom 15. März 2001, Rs C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261, hat der Bundesminister für Justiz in einem Erlass vom 20. Juni 2001, JMZ 4.589/358-I 1/2001 (ÖA 2001, 227), darauf hingewiesen, dass die Verordnung (EWG) 1408/71 (Wanderarbeitnehmerverordnung) Vorrang gegenüber der österreichischen Gesetzeslage genieße; § 2 Abs 1 UVG sei daher so zu lesen, als ob anstelle des Begriffs 'österreichische Staatsbürger' der Begriff 'EWR-Bürger' stehen würde. Dies bedeute, dass alle in Österreich wohnenden EWR-Bürger unter den selben Voraussetzungen wie Inländer Anspruch auf Unterhaltsvorschuss hätten.

3. Die vom Revisionsrekurswerber aufgeworfene Frage, ob der geldunterhaltspflichtige Vater dem Arbeitnehmerbegriff der Wanderarbeitnehmerverordnung unterliege, stellt sich im vorliegenden Fall gar nicht:

3.1. Art 12 EG verbietet jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Für den Bereich der Sozialrechtskoordinierung wird dieses allgemeine Diskriminierungsverbot durch Art 3 der VO 1408/71 umgesetzt. Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, haben im Geltungsbereich der VO die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates (Fuchs in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 [2005] 20f). Jede unmittelbare oder mittelbare Vorzugsstellung der Angehörigen des leistungspflichtigen Staates gegenüber den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten wird dadurch unterbunden (Eichenhofer in Oetker/Preis, EAS B1200 Rz 108; Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union2 [2003] Rz 96 ff).

3.2. Nun ist es richtig, dass die Gleichstellungsbestimmung des Art 3 Abs 1 der VO 1408/71 eine Einschränkung auf den persönlichen Geltungsbereich der Verordnung (Art 2) enthält und damit hinsichtlich der Anspruchsberechtigung auf die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft nach Art 1 lit a der Verordnung verweist. Allerdings enthält das österreichische UVG keine Bestimmung, die die Anspruchsberechtigung an die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft des Vaters binden würde. Wenn aufgrund des Wohnsitzes des Vaters (bzw seines möglichen Beschäftigungsortes) im Rahmen der Sozialrechtskoordinierung nur die Anwendung der österreichischen Vorschriften in Betracht kommt - und nicht wie im Rechtsmittel angeführten Entscheidungen 4 Ob 4/07b und 6 Ob 121/07y auch die Anwendung der Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats -, würde die ebenfalls in Österreich wohnhafte Antragstellerin im Vergleich zu einem Kind in der gleichen Lage, das die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, unmittelbar diskriminiert, würde man ihr den Vorschussanspruch unter Berufung auf § 2 Abs 1 Satz 1 UVG versagen (in diesem Sinn auch Barth, Geltendmachung von Unterhaltsforderungen im EU-Ausland durch den österreichischen Jugendwohlfahrtsträger, ÖA 2004, 4). Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, dass bei einem Kind mit österreichischer Staatsbürgerschaft unter den gegebenen Umständen ein Vorschussanspruch bejaht würde, weil eben die Arbeitnehmer- oder Selbständigeneigenschaft des geldunterhaltspflichtigen Elternteils für den Vorschussanspruch nicht vorausgesetzt wird."

Für den vorliegenden Fall kann nichts anderes gelten:

Da aufgrund des Wohnsitzes des Vaters (bzw seines möglichen Beschäftigungsortes) im Rahmen der Sozialrechtskoordinierung nur die Anwendung der österreichischen Vorschriften in Betracht kommt, würde die ebenfalls in Österreich wohnhafte Antragstellerin im Vergleich zu einem Kind in der gleichen Lage, aber mit österreichischer Staatsbürgerschaft, unmittelbar diskriminiert, würde man ihr den Vorschussanspruch im Hinblick auf § 2 Abs 1 Satz 1 UVG versagen (RIS-Justiz RS0124262).

Das Gericht erster Instanz hat dem Kind im (ersten) Beschluss vom 4. 6. 2007 (ON U13) somit zu Recht Unterhaltsvorschuss gewährt, weil auch im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte für eine Berufstätigkeit des Vaters im EU-Ausland bestehen. Dem Revisionsrekurs war daher Folge zu geben und diese Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.

Anmerkung

E9013610Ob43.08h-2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00043.08H.0224.000

Zuletzt aktualisiert am

15.04.2009
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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