Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Schenk als Vorsitzende und durch die Hofräte Dr. Vogel, Dr. Jensik, Dr. Musger und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Martin S*****, vertreten durch Stolz & Schartner Rechtsanwälte GmbH in Radstadt, gegen den Beklagten Wolf S*****, vertreten durch Dr. Bruno Heinz, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 10.504,30 EUR und Feststellung (Streitwert 1.500,00 EUR), infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 4. August 2008, GZ 53 R 230/08t-25, mit dem infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts St. Johann/Pongau vom 21. April 2008, GZ 2 C 1487/07y-20, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung - unter Berücksichtigung des rechtskräftig zuerkannten und des rechtskräftig abgewiesenen Begehrens - nunmehr zu lauten hat:
„1. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 10.454,30 EUR samt 4 % Zinsen aus 4.096,54 EUR vom 10. 3. 2007 bis 25. 2. 2008 und aus 10.454,30 EUR seit 26. 2. 2008 binnen 14 Tagen zu zahlen.
2. Das Mehrbegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 50 EUR samt 4 % Zinsen seit 26. 2. 2008 binnen 14 Tagen zu zahlen, wird abgewiesen.
3. Es wird festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche zukünftige, derzeit nicht bekannte, Schäden und weitere Behandlungen aus dem Unfall vom 10. Jänner 2007 auf der „Almabfahrt" in Obertauern haftet.
4. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 7.338,83 EUR (darin 795,52 EUR USt und 2.565,71 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens erster Instanz binnen 14 Tagen zu ersetzen."
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.931,52 EUR (darin 304,92 EUR USt und 2.102 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger erlitt am 10. 1. 2007 gegen 10:45 Uhr einen Schiunfall, an dem er, sein Schiführer und der Beklagte beteiligt waren.
Der 1960 geborene Kläger ist seit 1999 fast blind: Am linken Auge ist er zur Gänze erblindet, das rechte Auge weist eine Sehkraft von 5 - 8 % auf. Er ist geübter Schifahrer und betreibt seit drei Jahren Schisport mit jenem Schiführer, mit dem er am Unfallstag unterwegs war; dieser ist als Schiführer für sehbehinderte und blinde Menschen ausgebildet. Beide sind ein „eingespieltes Team" und haben sich in den letzten zwei Jahren auch an Schirennen beteiligt. Bei der Sportausübung tragen sie neongelbe Warnwesten in Leuchtfarbe mit den Aufschriften „Guide" bzw „sehbehindert" am oberen Schulterrücken. Über ein Funksprechgerät erteilt der Schiführer dem Kläger die notwendigen Kommandos: „hopp" für eine Richtungsänderung, „geht" für eine Geradeausfahrt. Am Beginn der Fahrt wird vereinbart, ob die Abfahrt mit einem Links- oder einem Rechtsschwung begonnen wird. Der Schiführer fährt dem Kläger in einem Abstand von rund einem Meter, der sich fallweise auch auf bis zu zwei Meter vergrößern kann, voraus. Nach zwei bis drei Schwüngen sieht der Schiführer über eine Schulter nach hinten, um seinen Abstand zum Kläger zu beurteilen.
Zum Unfallszeitpunkt herrschte heitere Witterung, die vom Kläger gewählte Piste war präpariert und glattgefahren und wies ein gleichbleibendes Gefälle auf. Der Kläger fuhr mit seinem Schiführer nahe dem rechten Pistenrand in gleichmäßigen - eher kurzen - Schwüngen, bei denen sie höchstens das rechte Drittel der Piste in Anspruch nahmen, ab. Mit ihren zügigen Schwüngen erreichten beide auf Höhe der Unfallstelle eine mittlere Fahrgeschwindigkeit. Der Beklagte fuhr mit langen, großen Schwüngen und nahm dabei zwei Drittel der Pistenbreite - vom rechten Pistenrand aus gesehen ? in Anspruch. Auf Höhe der Unfallstelle fuhr er mit mittlerer Fahrgeschwindigkeit. Der Schiführer nahm den Beklagten in einer nicht näher festgestellten Entfernung unterhalb vor sich in der linken Pistenhälfte erstmals wahr, zog daraus den Schluss, dass dieser Schiläufer keine Gefahr für ihn und den Kläger bedeute, und schenkte ihm daher kein weiteres Augenmerk mehr. Der Beklagte zog den letzten Rechtsschwung vor dem Unfall bis zum inneren Rand des linken Pistendrittels. Ab dem Ende des letzten Rechtsschwungs bis zum Kollisionspunkt legte er eine gerade Strecke von rund 20 Meter in einem Winkel von rund 45 Grad zur Pistenhorizontale zurück. Während des anschließenden Linksbogens bemerkte der Beklagte eine streifartige Bewegung am rechten Schischuh. Gleichzeitig verspürte der Schiführer „irgend etwas" an seinem hinteren Schiende und konnte daraufhin nur mit Mühe einen Sturz vermeiden. Die streifende Bewegung an seinem rechten Schischuh veranlasste den Beklagten zu einer gleichzeitigen Körperdrehung nach rechts, bei der er zugleich erstmals den Kläger sah und von diesem einen Schlag gegen die rechte hintere Schulter erhielt, wodurch sein Körper nach links verdreht wurde, er mit dem Rücken auf die Piste stürzte und bis in die Endlage in der Falllinie rund acht Meter unterhalb der Kollisionsstelle zu liegen kam. Der Kläger hatte infolge seiner Erblindung den Beklagten nicht sehen können; er merkte jedoch instinktiv unmittelbar vor dem Körperkontakt mit diesem, dass auf seine linke Körperseite „irgend etwas dahergekommen ist". Seine linke Körperseite kollidierte mit der rechten hinteren Schulter des Beklagten, als der Kläger gerade in einem Rechtsschwung fuhr. Kollisionsbedingt stürzte der Kläger mit der rechten Körperseite auf die Schipiste, wodurch sein Kopf nach vorwärts mit der Nase voran auf die Piste geschleudert wurde. Der Kläger kam etwa auf halbem Weg zwischen Unfallstelle und Endlage des Beklagten zum Liegen. Er erlitt infolge des Zusammenstoßes einen offenen Nasenbeinbruch und eine Brustkorbprellung rechts; der Nasenrücken wurde verkrümmt und bildet seit dem Unfall einen Höcker, was durch eine Korrekturoperation behoben werden kann. Spätfolgen des Unfalls können nicht ausgeschlossen werden.
Beide an der Kollision beteiligten Schifahrer waren im Anstoßzeitpunkt mit mittlerer Fahrgeschwindigkeiten unterwegs; der Kläger war geringfügig schneller. Auf der Schrägfahrstrecke von rund 20 Metern vor der Kollision hätte der Beklagte bei entsprechender Aufmerksamkeit den Schiführer und den unmittelbar dahinter folgenden Kläger so rechtzeitig sehen können, dass er noch in der Lage gewesen wäre, entsprechende Abwehrmaßnahmen (Verringerung der Geschwindigkeit, Änderung der Fahrtrichtung) zu setzen; dafür standen ihm zwei Sekunden zur Verfügung. Während seiner Abfahrt schaute der Beklagte zwar ständig nach vorne und nach unten, unterließ aber die Beobachtung des Seitenbereichs; deshalb sah er den Schiführer vor der Kollision überhaupt nicht, den unmittelbar nachfolgenden Kläger erstmals bei der Kollision.
Der Kläger begehrt Schmerzengeld, Kosten für Besuchsfahrten, Heilkosten, Sachschadenersatz, Ersatz pauschaler Unkosten und die Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige Schäden aus dem Unfall. Der Beklagte habe die gesamte Pistenbreite gekreuzt und den Kläger seitlich gerammt, weil er den rechts neben seiner Fahrlinie gelegenen Pistenteil nicht ausreichend beobachtet habe; der Unfall sei auf einen Fahrfehler, demnach auf mangelnde Sorgfalt des Beklagten zurückzuführen.
Der Beklagte wendete ein, der Kläger und sein Schiführer seien hinter ihm und schneller als er abgefahren, weshalb sich der Kläger im Nachrang befunden habe. Der Schiführer des Klägers sei mit überhöhter Fahrgeschwindigkeit unterwegs gewesen; er hätte jederzeit die Fahrlinie und die Fahrweise des Beklagten wahrnehmen und seine Fahrgeschwindigkeit entsprechend anpassen können.
Das Erstgericht erkannte den Beklagten - ausgehend von einem Vermögensschaden des Klägers in Höhe von 10.454,30 EUR und einer Verschuldensteilung 2 : 1 zu Lasten des Klägers - schuldig, dem Kläger 3.484,77 EUR sA zu zahlen und wies das Mehrbegehren ab; es bejahte die Haftung des Beklagten für zukünftige Schäden und weitere Behandlungen aus dem gegenständlichen Unfall im Ausmaß eines Drittels und wies das Feststellungsmehrbegehren ab. Der praktisch blinde Kläger habe das Fahrverhalten des Beklagten nicht wahrnehmen können, weshalb ihm kein eigenes Verschulden am Schiunfall anzulasten sei. Er habe sich jedoch eines Schiführers bedient, dessen rechtswidriges und schuldhaftes - für den Unfall kausales - Verhalten er sich zurechnen lassen müsse. Der Schiführer sei zwar weder Erfüllungsgehilfe nach § 1313a ABGB, noch Besorgungsgehilfe nach § 1315 ABGB oder Bewahrungsgehilfe, er sei aber als „alter ego" für den blinden Kläger tätig gewesen, weil der Kläger ohne ihn nicht Schi fahren könnte. Der Kläger müsse sich deshalb für das Verhalten seines Schiführers entlasten, was ihm nicht gelungen sei. Dem Schiführer sei ein schwerer Beobachtungsfehler anzulasten, weil er sich dem Beklagten, den er in einer nicht näher bekannten Entfernung unterhalb der linken Pistenhälfte fahrend wahrgenommen habe, in Falllinie von oben kommend genähert habe, ohne ihm danach weitere Beachtung zu schenken, obwohl der Beklagte in einem normalen Sichtwinkel von 90 Grad wahrnehmbar gewesen sei. Dieses schuldhafte Verhalten sei dem Kläger zuzurechnen. Der Beklagte habe seinerseits gegen Aufmerksamkeits- und Beobachtungspflichten verstoßen, weil er während seiner Abfahrt nur nach vorne und nach unten geblickt, die Beobachtung des Seitenbereichs jedoch unterlassen habe. Das dem Kläger zuzurechnende Fehlverhalten des Schiführers falle schwerer ins Gewicht als jenes des Beklagten, weil es dem von oben kommenden Schiführer leichter möglich gewesen wäre, den in seinem normalen Sichtbereich unterhalb fahrenden Beklagten zu beobachten, als umgekehrt. Dies führe zu einer Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Klägers.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil sich der Oberste Gerichtshof (OGH) erst in einer einzigen Entscheidung mit der Zurechenbarkeit von Gehilfenverhalten zum Geschädigten bei deliktischer Haftung des Schädigers befasst habe und diese Frage im Schrifttum strittig sei. Ein praktisch blinder Schifahrer sei bei der Ausübung des grundsätzlich gefährlichen Schisports immer auf einen Schiführer angewiesen, der während der Abfahrt das Umfeld und die Piste beobachten und die dabei gewonnenen Informationen dem hinter ihm fahrenden Schifahrer laufend mitteilen müsse; letzterer erhalte die Informationen naturgemäß zeitlich verzögert. Das regelmäßige Zurückschauen des Schiführers sei eine weitere Gefahrenquelle. Daraus sei abzuleiten, dass der Kläger bei Ausübung des Schisports sich selbst und auch andere einer über das regelmäßig vorhandene Ausmaß hinausgehenden erheblichen Gefahr aussetze. Mangels eigener Beobachtungen müsse er Beobachtungsfehler seines Schiführers und falsche oder verspätete Kommandos in Kauf nehmen. Wer aber das Risiko eingehe, sich auf Schipisten mit Publikumsverkehr einer erhöhten Gefahr auszusetzen, dem sei auch das Verhalten seines Schiführers, ohne den er sich auf der Piste nicht bewegen könne, zuzurechnen. Der Schiführer sei „Bewahrungsgehilfe" des Klägers und diesem nach § 1304 ABGB zurechenbar, weil er im Schädigungszeitpunkt mit Willen des Geschädigten zumindest partiell die Gewahrsame über dessen Rechtsgut ausgeübt habe. Der Kläger habe dem Schiführer die Obsorge über die eigene Person anvertraut und müsse daher für dessen Verhalten einstehen. Die vom Erstgericht vorgenommene Verschuldensteilung von 2 : 1 zu Lasten des Klägers sei zu billigen. Der Beklagte habe sich als vorderer, unten fahrender Schifahrer gegenüber dem von oben (nach-)kommenden Kläger im Vorrang befunden. Dem Beklagten sei nur ein Aufmerksamkeits- und Beobachtungsfehler anzulasten, weil er die Gefahrensituation zu spät erkannt habe; er habe auch nicht wissen können, dass hinter ihm ein sehbehinderter Schifahrer nachkomme. Der gegenüber dem Beklagten benachrangte Kläger habe auch das den Unfall auslösende Fehlverhalten gesetzt, weil er mit dem Beklagten kollidiert sei. Demgegenüber sei der Aufmerksamkeitsfehler des Beklagten geringer zu gewichten.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig; das Rechtsmittel ist auch berechtigt.
Der Kläger bestreitet nicht mehr, dass sowohl der Schiführer als auch der Beklagte rechtswidrig gehandelt haben; er macht jedoch geltend, es fehle an einer Rechtsgrundlage, nach der ihm im Rahmen des geltend gemachten deliktischen Anspruchs das Verschulden des Schiführers zugerechnet werden könne. § 1313a ABGB komme auch als analoge Anspruchsgrundlage nicht in Betracht, weil es andernfalls zu einer sinnvoll nicht mehr begrenzbaren Haftung käme; der den Kläger begleitende Schiführer sei auch nicht untüchtig iSd § 1315 ABGB. Unzutreffend sei die Beurteilung des Schiführers als „Bewahrungsgehilfe", habe doch der Kläger im Unfallszeitpunkt nicht einmal teilweise die Gewahrsame über ein Rechtsgut ausüben und dessen Verhalten in keiner Weise kontrollieren können. Der Kläger habe daher Anspruch auf Ersatz seines gesamten Schadens; davon unberührt bleibe ein allfälliger Rückgriff des beklagten Mitschädigers gegenüber dem Schiführer.
1.1. Im Schrifttum ist allgemein anerkannt, dass das Verschulden von Hilfspersonen auf Seiten des Geschädigten, den kein eigenes Verschulden trifft, nicht schlechthin bedeutungslos sein kann und dass der Geschädigte sich das mitwirkende Verschulden solcher Personen im Rahmen schuldrechtlicher Sonderverbindungen entsprechend § 1313a ABGB entgegenhalten lassen muss. Nach welchen Grundsätzen eine Verschuldensanrechnung jedoch im Bereich der deliktischen Schädigung zu erfolgen habe, ist umstritten.
1.2. Ehrenzweig (System des österreichischen allgemeinen Privatrechts. Das Recht der Schuldverhältnisse, Bd II/1, 58) führt unter Hinweis auf § 254 dBGB ohne weitere Begründung aus, dass dem Beschädigten, der die Verhütung oder Minderung von Schäden anderen überlassen hat, das fremde Verschulden auch außerhalb von Schuldverhältnissen analog zu § 1313a ABGB als eigenes Verschulden angerechnet werden müsse.
1.3 Dullinger (Mitverschulden des Gehilfen, Zum Verhältnis zwischen § 1302 und § 1304 ABGB, JBl 1990, 20 ff, 91 ff; Zum Mitverschulden von Gehilfen bei Haftung ex delicto, JBl 1992, 407 ff) gelangt in einer ausführlichen Untersuchung zum Ergebnis, dass der Geschädigte im Rahmen des § 1304 ABGB gegenüber einem zweiten Schädiger das Mitverschulden seiner Bewahrungsgehilfen unabhängig vom Haftungsgrund und für alle Schadenarten gleichermaßen ohne zusätzliche Anforderungen zu vertreten habe. Als Bewahrungsgehilfen bezeichnet sie Personen, denen der Geschädigte seine Güter bewusst überantwortet hat oder deren er sich zur Wahrnehmung seiner vertraglichen Gläubigerobliegenheiten bedient hat. Eine Einzelanalogie zu §§ 1313a und 1315 ABGB lehnt diese Autorin ab; eine solche setze voraus, dass die für die Gehilfenzurechnung auf Schädigerseite im Detail maßgeblichen Wertungen auch für den Geschädigten passten, was nicht der Fall sei. Beim Mitverschulden des Geschädigten handle es sich nicht um ein „echtes" Verschulden, gemeint sei vielmehr eine Sorglosigkeit gegenüber den eigenen Gütern. Entsprechendes müsse auch für das Verschulden der Gehilfen gelten. Die Funktion des Bewahrungsgehilfen unterscheide sich deutlich von dem zielgerichteten Einsatz eines Erfüllungsgehilfen iSd § 1313a ABGB, der in fremde Rechtsbereiche einwirke und dort gewünschte Änderungen vornehmen solle. Weil das Mitverschulden nicht als etwas „Deliktsähnliches" angesehen werden könne, seien auch die durch § 1315 ABGB zum Ausdruck kommenden Wertungen nicht auf die Geschädigtenseite übertragbar. Es komme somit auf Geschädigtenseite - anders als auf Seiten des Schädigers - zu keiner Differenzierung der Haftung zwischen Erfüllungs- und Besorgungsgehilfen; der Geschädigte müsse sich deren Verhalten in gleichem Maße zurechnen lassen.
1.4. Dieser - auch als „Verschärfungsthese" (vgl F. Bydlinski, Gehilfenmitverschulden beim Arbeitgeber und betriebliche Hierarchie, FS Tomandl [1998] 45, 54) bezeichneten - Auffassung von Dullinger haben sich Jabornegg (Buchbesprechung von Kletecka, Mitverschulden durch Gehilfenhaftung, ÖJZ 1993, 431), Koziol (Haftpflichtrecht I³ Rz 12/64 ff; Die Zurechnung des Gehilfenverhaltens im Rahmen des § 1304 ABGB, JBl 1997, 201 ff) und Reischauer (in Rummel, ABGB³ § 1304 Rz 7) angeschlossen, Kerschner (DHG² § 2 Rz 21) mit der Einschränkung, dass seiner Obliegenheit gemäß § 1304 ABGB bereits entsprochen habe, wer seine Rechtsgüter (ohne Auswahlverschulden) anderen tauglichen Personen anvertraut.
1.5. Kletecka (Mitverschulden durch Gehilfenverhalten [1991]) hat mit seiner Dissertation neue Gesichtspunkte in die Diskussion eingebracht. Nach der von ihm vertretenen „Gleichbehandlungsthese" erkenne man bei den Voraussetzungen, die für die Berücksichtigung des Mitverschuldens zum Tragen kämen, dass sich das Mitverschulden stark an den auf Schädigerseite erforderlichen Tatbestandselementen wie Kausalität, Adäquanz, Maßgeblichkeit des Normzwecks und Deliktsfähigkeit orientiere. Daran zeige sich, dass von einer Gleichbehandlung von Schädiger und Geschädigtem ausgegangen werden müsse; die Zurechnungsnormen, die auf Schädigerseite das Einstehen für Drittverhalten regelten, seien entsprechend auf die Geschädigtenseite zu übertragen. Eine Zurechnung des Bewahrungsgehilfen zum Geschädigten habe daher unter denselben Voraussetzungen zu erfolgen wie auf Schädigerseite, weshalb in beiden Fällen danach zu unterscheiden sei, ob es sich um einen Gehilfeneinsatz im Zusammenhang mit Schuldverhältnissen (dann Zurechnung wie § 1313a ABGB) oder im deliktischen Bereich (dann Zurechnung wie § 1315 ABGB) handle.
1.6. Der Auffassung von Kletecka haben sich F. Bydlinski (Zur Haftung der Dienstleistungsberufe in Österreich und nach dem EG-Richtlinienvorschlag, JBl 1992, 347 ff; Gehilfenmitverschulden beim Arbeitgeber und betriebliche Hierarchie, FS Tomandl [1998] 45 ff), Grassl-Palten (Gehilfenmitverschulden, Fremdsicherung und anderes, JBl 1992, 501 ff) und Harrer (in Schwimann, ABGB³, § 1304 Rz 30) angeschlossen.
1.7. Auch Karollus (Gleichbehandlung von Schädiger und Geschädigtem bei der Zurechnung von Gehilfenverhalten, ÖJZ 1994, 257 ff) geht grundsätzlich vom Gleichbehandlungsgebot aus, versteht dieses aber insofern enger als Kletecka, als er nur die Grundwertungen der „weiten" Zurechnung (nach dem Rechtsgedanken des § 1313a ABGB) oder der „engen" Zurechnung (in Anlehnung an § 1315 ABGB), nicht aber alle - für die Geschädigtenseite seines Erachtens teilweise nicht passenden - Tatbestandsmerkmale übernimmt. Seine Grundwertung der Gleichbehandlung entspricht dem Modell von Kletecka, die für die Feinabstimmung herangezogene Figur des Bewahrungsgehilfen entstammt hingegen den Lehren von Dullinger und Kerschner. § 1304 ABGB sei Ausdruck der Gleichbehandlung von Schädiger und Geschädigtem. Dieselbe Gleichbehandlung müsse dann auch im Hinblick auf die Zurechnung von Drittverhalten erfolgen, denn eine Norm, die prinzipiell eine Gleichbehandlung anordne, sei auch im Detail soweit als möglich im Sinne einer solchen Gleichbehandlung auszulegen. Eine „spiegelbildliche" Übertragung der den Schädiger betreffenden Gehilfenhaftungsnormen stoße jedoch an ihre Grenzen, weil die maßgeblichen Fragestellungen auf Schädiger- und Geschädigtenseite durchaus unterschiedlich seien. Beim Schädiger gehe es um die Zurechnung im Hinblick auf die Herbeiführung der pflichtwidrigen Schädigung eines anderen, weshalb man einen Bezug der Gehilfentätigkeit zu den einschlägigen Schädigungsverboten herstellen müsse; beim Geschädigten gehe es hingegen um die Zurechnung für die Frage der mangelhaften Bewahrung der eigenen Güter und Interessen. Die spiegelbildliche Übertragung der Begriffe des Erfüllungs- und Besorgungsgehilfen auf die Geschädigtenseite gehe als zu eng am eigentlichen Zurechnungsproblem auf Geschädigtenseite vorbei. Die Mitverschuldensproblematik ziele auf die Bewahrung der eigenen Güter und Interessen, also auf das „Bewahrungsrisiko", ab, weshalb auch der Kreis der potentiell zurechenbaren Personen nach diesem Ansatz abzugrenzen sei. Die Figur des Bewahrungsgehilfen solle die insoweit nicht passende Zurechnungsfigur des Besorgungsgehilfen ersetzen. Mit der Figur des Bewahrungsgehilfen werde aber nur der abstrakt zurechenbare Personenkreis festgelegt, und nur insoweit seien alle Haftungsfälle im Prinzip gleich zu behandeln. Bei der konkreten Zurechnung sei zu unterscheiden: Bestehe eine Sonderbeziehung, werde das Verhalten des Bewahrungsgehilfen stets zugerechnet, bei rein deliktischer Haftung hingegen nur im Fall der Betrauung eines (objektiv) untüchtigen Gehilfen, bei wissentlicher Bestellung eines gefährlichen Gehilfen und - wie § 1315 ABGB allgemein zu ergänzen sei - bei Auswahl- oder Überwachungsverschulden.
2. Die Rechtsprechung zur Zurechnung des Gehilfenverhaltens im deliktischen Bereich nach Einführung der Erfüllungsgehilfenregelung des § 1313a ABGB ist spärlich.
2.1. In der Entscheidung 7 Ob 27/91 (= SZ 64/140 in RIS-Justiz RS0026815) schloss sich der Oberste Gerichtshof dem damals herrschenden Schrifttum an und sprach im Anschluss an Dullinger aus, dass dann, wenn eine Ware einem Frachtführer übergeben und bei einem Unfall, den ein Dritter und der Frachtführer mitverschuldet haben, zerstört wurde, der geschädigte Eigentümer der Ware gegenüber dem schädigenden Dritten für das Verschulden des Frachtführers im Rahmen des § 1304 ABGB einzustehen habe.
2.2. In der Entscheidung 1 Ob 76/98b lagen die Voraussetzungen einer Verschuldenszurechnung bei deliktischem Anspruch nach § 1315 ABGB vor, weshalb dort eine Auseinandersetzung mit den im Schrifttum strittigen Fragen des Gleichbehandlungsgebots unterblieb.
2.3. Entscheidungen zur Zurechnung von Gehilfenverhalten im Anwendungsbereich des EKHG („Betriebsgehilfenhaftung"; 2 Ob 2136/96y; vgl auch 8 Ob 68/85 = ZVR 1985/33; 2 Ob 194/64 = ZVR 1965/65; weitere Nachweise bei F. Bydlinski, Gehilfenmitverschulden FN 21) werden mit den Besonderheiten dieses Gesetzes begründet.
2.4. Der hier zu beurteilenden Interessenlage vergleichbar sind Sachverhalte, bei denen der Schädiger eines Kindes eine Aufsichtsverletzung der Eltern als Mitverschulden des Kindes geltend macht. Nach ständiger Rechtsprechung muss sich im Fall der Verletzung eines deliktsunfähigen Minderjährigen das verletzte Kind ein allfälliges fehlerhaftes Verhalten des Aufsichtspflichtigen nicht als Mitverschulden zurechnen lassen (RIS-Justiz RS0027026, zuletzt 6 Ob 317/02i mwN).
2.5. Zu erwähnen ist weiters die Rechtsprechung, wonach sich der Bauherr das Verschulden der allein in seinem Interesse beigezogenen Bauaufsicht nicht anrechnen lassen muss (vgl RIS-Justiz RS0108535). Bei solchen Sachverhalten wird demnach die Anrechnung eines Mitverschuldens auch für einen Fall der Vertragshaftung ausgeschlossen, welches Ergebnis sich mit dem Pflichtenprogramm der Verträge zwischen dem Bauherrn und den einzelnen Werkunternehmern rechtfertigen lässt: Ist nämlich der Bauherr den einzelnen Werkunternehmern gegenüber vertraglich nicht zur Bauaufsicht verpflichtet, kann ihm ein „Verschulden" der von ihm eingeschalteten Bauaufsicht auch nicht schaden.
3. Die mit Vorarbeiten für eine Schadenersatz-Reform beauftragte Arbeitsgruppe (dazu Apathy, Die Reform des österreichischen Schadenersatzrechts, VR 2006, 187 ff; Griss, Der Entwurf eines neuen österreichischen Schadenersatzrechts, JBl 2005, 273 ff; Reischauer/Spielbüchler/Welser, Reform des Schadenersatzrechts III, Vorschläge eines Arbeitskreises) hat sich auch mit dem Thema der Gehilfenzurechnung auf Geschädigtenseite auseinandergesetzt. Nach § 1313 Abs 2 ABGB in der Fassung des von der Arbeitsgruppe 2005 vorgelegten Entwurfs wird nur das Fehlverhalten von Personen zugerechnet, denen der Geschädigte die geschädigten Güter anvertraut hat (Bewahrungsgehilfe), sofern es sich dabei um keinen selbstständigen Unternehmer handelt. Ob aber der Bewahrungsgehilfe dem Geschädigten uneingeschränkt oder nur unter den Voraussetzungen des § 1315 ABGB zugerechnet werden soll, blieb in der Arbeitsgruppe umstritten.
4.1. Der Senat ist (im Anschluss an Kletecka, Karollus und F. Bydlinski) der Auffassung, dass für das geltende Recht allein die Gleichbehandlungsthese methodisch vertretbar ist. Deren Begründung liegt in § 1304 ABGB, welche Bestimmung das dort eindeutig geregelte eigene Verschulden des Geschädigten „gegen sich selbst" gleich gewichtet wie das „echte" - mit Rechtswidrigkeit verbundene - Verschulden auf Schädigerseite; gleiches gilt für § 11 Abs 1 Satz 2 EKHG im Zusammenhang mit der Gefährdungshaftung, wo die dortigen besonderen Zurechnungsgründe (außergewöhnliche oder gewöhnliche Betriebsgefahr) auf beiden Seiten des Schadenersatzverhältnisses ganz gleichmäßig beachtet werden. Fehlt es demnach im Gesetz und den erkennbaren Gesetzeszwecken an einem tragfähigen Anhaltspunkt dafür, dass es bei der Zurechnung der „persönlichen Sphäre" der Beteiligten, also bei der Zurechnung ihrer Gehilfen, grundsätzlich ganz anders als gleichmäßig zugehen sollte, kann die Gesetzeslücke bei der Gehilfenzurechnung auf Geschädigtenseite aufgrund der bei den verwandten Zurechnungsfragen unzweifelhaften Gleichbehandlungsmaxime des Gesetzes nur im selben Sinn der Gleichbehandlung geschlossen werden. Dies entspricht auch dem Gleichmaßgedanken der Gerechtigkeit (F. Bydlinski, Gehilfenmitverschulden 58 ff).
4.2. Notwendige Folge der gebotenen Gleichbehandlung von Schädiger- und Geschädigtenseite ist die Unterscheidung von Schädigung im Schuldverhältnis und Schädigung außerhalb eines solchen auch für die Gehilfenzurechnung. Im ersten Fall besteht für beide Seiten eine Sonderbeziehung, die eine auf Erfüllung und Sorgfalt ausgerichtete Vertrauenslage des Kontaktpartners begründet und besonders schutzwürdig ist (F. Bydlinski aaO 49 f), weshalb dem Geschädigten das Verhalten seiner Gehilfen in der Regel (analog § 1313a ABGB) zuzurechnen ist. Außerhalb eines Schuldverhältnisses muss sich der künftig Geschädigte bei Einschaltung einer Hilfsperson deren Verschulden nur dann (analog § 1315 ABGB) wie eigenes anrechnen lassen, wenn die Hilfsperson habituell untüchtig ist oder der Geschädigte deren Gefährlichkeit kennt, sowie bei Auswahl- oder Überwachungsverschulden (Karollus aaO 261).
4.3. Die voranstehenden Erwägungen lassen sich in folgender Weise zusammenfassen: Im Fall einer deliktischen Schädigung kann dem Geschädigten, den kein eigenes Verschulden trifft, das für den Schadenseintritt mitwirkende Verschulden von Hilfspersonen, denen der Geschädigte seine Güter bewusst überantwortet hat („Bewahrungsgehilfen"), jedenfalls dann nicht wie eigenes Verschulden angerechnet werden, wenn die Voraussetzungen des § 1315 ABGB nicht vorliegen.
5.1. Im Anlassfall fällt dem nahezu blinden Kläger kein eigenes Verschulden am Unfall zur Last. Fest steht auch, dass der ihn im Unfallszeitpunkt begleitende Schiführer eine Ausbildung als Schiführer für sehbehinderte und blinde Personen besitzt. Unter diesen Umständen muss sich der Kläger nach den zuvor dargestellten Grundsätzen das mitwirkende Verschulden des Schiführers am unfallskausalen Schaden des Klägers nicht zurechnen lassen. Da sich die Anteile von Schiführer und Beklagtem an den Verletzungen des Klägers nicht bestimmen lassen, haften beide gemäß § 1302 ABGB solidarisch für den gesamten Schaden; davon unberührt bleibt der Rückgriff zwischen ihnen (§ 896 ABGB). Auf die in der Revision ebenfalls aufgeworfene Frage der Verschuldensteilung kommt es damit hier nicht an.
5.2. Der Revision ist Folge zu geben; die Urteile der Vorinstanzen sind dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren (mit Ausnahme des schon vom Erstgericht zutreffend vorgenommenen Abzugs von 50 EUR) zur Gänze stattgegeben wird.
6. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 43 Abs 2 erster Fall ZPO, im Rechtsmittelverfahren iVm § 50 Abs 1 ZPO. Die Tagsatzung vom 23. 10. 2007 (vorbehaltenes VU) ist nach TP 2 II 1c RATG, die Verlegungsbitte vom 30. 1. 2008 nach TP 1 RATG zu entlohnen; zur Höhe der Barauslagen ist auf die zutreffende Begründung der Kostenentscheidung in erster Instanz zu verweisen.
Textnummer
E89842European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0040OB00204.08S.0120.000Im RIS seit
19.02.2009Zuletzt aktualisiert am
20.02.2012