TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/24 S12 400615-1/2008

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Veröffentlicht am 24.07.2008
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Spruch

S12 400.615-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Maurer-Kober als Einzelrichterin über die Beschwerde des Z.Y., geb. 00.00.1982, StA. Volksrepublik China, vertreten durch Dr. Lennart Binder, in 1030 Wien, Rochusgasse 2/12, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.06.2008, FZ. 08 03.749 EAST-Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Volksrepublik China, hat sein Heimatland legal mit einem Touristenvisum für Europa (ausgestellt von der französischen Botschaft in Peking) verlassen, ist am 24.04.2008 illegal mit einem Autobus in das österreichische Bundesgebiet eingereist und stellte am 28.04.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

 

1.2. Bei der Erstbefragung am 28.04.2008 durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Chinesisch gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe sich Ende Februar 2008 bei einem Reisebüro zu einer Touristenreise nach Europa angemeldet. Er habe Anfang April 2008 über das Reisebüro ein Touristenvisum für Europa erhalten. Am 00.04.2008 habe er sich mit seiner Reisegruppe getroffen, sei mit einem Autobus nach Shenyang gefahren und von dort nach Peking geflogen. Von Peking sei er gemeinsam mit der Reisegruppe mit der Air-China nach Paris geflogen. Nach der Passkontrolle in Paris habe der Reiseleiter jedem aus Sicherheitsgründen die Reisedokumente abgenommen. Er habe sich von der Reisegruppe heimlich entfernt und habe in der Nähe des Flughafens einen Chinesen getroffen, dem er seine Situation erklärt habe. Dieser habe ihm erzählt, dass es für alle Ausländer in Frankreich nicht gut sei und dass er nach Österreich reisen solle, um dort einen Asylantrag zu stellen. Am nächsten Morgen habe ihn der Chinese zu einem Autobus gebracht, mit welchem er nach Österreich gefahren sei. In Wien sei er am 00.04.2008 angekommen. Er habe einen Chinesen getroffen, bei welchem er drei Nächte verbracht habe. Wie dieser Chinese heiße bzw. wo er wohne, wisse er nicht. Er habe sein Heimatland verlassen, weil er Angehöriger der in China verbotenen Gruppierung "Falun Gong" sei. Seine Eltern seien bereits im Februar 2008 inhaftiert worden.

 

1.3. Am 30.04.2008 richtete das Bundesasylamt ein dringliches Aufnahmeersuchen an die zuständige französische Behörde.

 

1.4. Am 05.05.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen (§§ 4, 5, 68 Abs. 1 AVG, §29 Abs.3 Z 4 AsylG), da Dublin Konsultationen mit Frankreich seit 30.04.2008 geführt werden (vgl. AS 35f).

 

1.5. Mit Schreiben vom 19.05.2008 erklärte sich Frankreich gemäß Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (in der Folge: Dublin II-VO) für die Aufnahme des Asylwerbers für zuständig.

 

1.6. Am 16.06.2008 wurde der Beschwerdeführer vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit des Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetsch für die Sprache Chinesisch niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, dass er körperlich und geistig in der Lage sei, die Einvernahme durchzuführen. Seine bisherigen Angaben würden der Wahrheit entsprechen und er habe diesen nichts mehr hinzuzufügen. In Österreich nehme er die Bundesbetreuung nicht in Anspruch, weil er bei seinem Onkel, der ebenfalls Asylwerber sei und bereits seit drei oder vier Jahren hier in Österreich leben würde, wohnen könne. Weitere familiäre Beziehungen zu einem österreichischen Staatsbürger oder einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden in Österreich würden nicht bestehen. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtig sei, seine Ausweisung aus Österreich nach Frankreich zu veranlassen, gab er an, er wolle nicht nach Frankreich zurückfahren, weil er von anderen Chinesen erfahren habe, dass Chinesen und andere Fremde von den Franzosen schlecht behandelt würden. Als er in Frankreich gewesen sei, habe er sich nicht sicher gefühlt. Er habe auch gesehen, wie ein Chinese von einem Franzosen geschlagen worden sei.

 

2. Mit dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 28.04.2008 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzes gemäß Art. 9 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Frankreich zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Frankreich ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Frankreich gemäß § 10 Abs. 4 AsylG zulässig sei.

 

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und behauptete unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Volksrepublik China, hat sein Heimatland legal mit einem Touristenvisum für Europa (ausgestellt Anfang April 2008 von der französischen Botschaft in Peking) verlassen, ist am 00.04.2008 illegal mit einem Autobus in das österreichische Bundesgebiet eingereist und stellte am 28.04.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Der Onkel des Beschwerdeführers, der nach seinen Angaben auch Asylwerber ist, lebt bereits seit drei oder vier Jahren in Österreich.

 

Frankreich hat sich mit Schreiben vom 16.05.2008 gemäß Art. 9 Abs. 4 Dublin II-VO für die Aufnahme des Asylwerbers für zuständig erklärt.

 

1.2. Die in § 28 Abs. 2 AsylG festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG gilt nicht, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß der Dublin II-VO bereits am 05.05.2008 mitgeteilt wurde, weshalb kein Übergang der Zuständigkeit an Österreich wegen Fristüberschreitung eingetreten ist.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben des Beschwerdeführers bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 28.04.2008 sowie aus der niederschriftlichen Einvernahme des Beschwerdeführers vom 16.06.2008 sowie aus der Zuständigkeitserklärung Frankreichs vom 16.05.2008.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß §§ 73 Abs. 1 und 75 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG) iVm § 1 AsylG ist das oben angeführte Gesetz auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Daraus folgt, dass für das gegenständliche Verfahren das AsylG 2005 anzuwenden war.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde tritt.

 

3.2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin II-VO ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Staates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO wird ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt, von jenem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Dublin II-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 Dublin II-VO die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.3. Art. 9 Abs. 2 Dublin II-VO lautet: "Besitzt der Asylbewerber ein gültiges Visum, so ist der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Asylantrages zuständig, es sei denn, das Visum wurde in Vertretung oder mit schriftlicher Zustimmung eines anderen Mitgliedstaates erteilt. Besitzt der Asylwerber mehrere, so sind gemäß Abs. 3 leg. cit. die Mitgliedstaaten für die Prüfung des Asylantrags in folgender Reihenfolge zuständig:

 

der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der den zuletzt ablaufenden Aufenthaltstitel erteilt hat;

 

der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat, wenn es sich um gleichartige Visa handelt;

 

bei nicht gleichartigen Visa der Mitgliedstaat, der das Visum mit der längsten Gültigkeitsdauer erteilt hat, oder bei gleicher Gültigkeitsdauer der Mitgliedstaat, der das zuletzt ablaufende Visum erteilt hat.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn 1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder 2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin II-VO oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.4. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass der Beschwerdeführer mit einem gültigen französischen Visum aus China kommend nach Frankreich eingereist ist und, dass Frankreich einer Übernahme des Beschwerdeführers auf Grundlage des Art. 9 (4) Dublin II-VO am 09.05.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Frankreichs zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen.

 

3.5. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

 

3.5.1. Der Verfassungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 08.03.2001, G 117/00 u.a. VfSlg 16.122, aus, dass § 5 AsylG nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden. Dieser Rechtsansicht schloss sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, an.

 

Hatte der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15.10.2005, G 237/03 u.a. ausgesprochen, dass jene zum Dubliner Übereinkommen angestellten Überlegungen auch für das Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO zutreffen, ergänzte er in seinem Erkenntnis vom 17.06.2005, B 336/05-11, dies dahingehend, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die entsprechende Vergewisserung durch den Rat erfolgt sei; eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Eintrittsrecht zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (dem ein - die Zuständigkeit Italiens nach dem Dubliner Übereinkommen betreffender - Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates zugrunde lag) sowie in dem (bereits die Dublin-VO betreffenden) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095-9, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Verfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist, ob ein - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiiertes "real risk" besteht, dass ein aufgrund der Dublin-VO in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist, wobei insbesondere zu prüfen sei, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wird ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

3.5.2. Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihm durch eine Rückverbringung nach Frankreich die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Aus den Feststellungen ergibt sich, dass dem Beschwerdeführer in Frankreich grundsätzlich ein Asylverfahren offen steht, in welchem die Voraussetzungen der Asylgewährung und Rückschiebungsschutzes im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen, insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK definiert sind, weshalb im konkreten Fall gerade nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Beschwerdeführer ohne Prüfung seiner Fluchtgründe in seinen Herkunftsstaat Volksrepublik China rückgeschoben werden könnte.

 

Nach der Judikatur der Straßburger Organe muss der Betroffene die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EGMR, Entsch. vom 07.07.1987 Nr. 12877/87 [Kalema gegen Frankreich], DR 53, S. 254 [264]; zum Maßstab des "real risk" siehe auch die Nachweise in VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582). Diesen Erfordernissen ist jedoch der Beschwerdeführer keinesfalls nachgekommen. Vielmehr bezieht sich dieser bei seiner Kritik an Frankreich auf Aussagen anderer Chinesen. Erst nach mehrmaliger Nachfrage führte er schließlich aus, er habe selbst auch gesehen, wie ein Chinese von einem Franzosen geschlagen worden sei. Auch durch diese Behauptung kann keinesfalls eine aktuelle und ernsthafte Gefahr für den Beschwerdeführer abgeleitet werden, zumal nicht erkennbar ist, inwieweit der Beschwerdeführer persönlich und konkret betroffen sein solle. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass Frankreich ein Rechtstaat mit funktionierender Staatsgewalt ist und der Beschwerdeführer sich im Falle eventueller Übergriffe gegen seine Person, welche im Übrigen in jedem Land möglich wären, an die französischen Behörden wenden und von diesen Schutz erwarten könnte. Der Beschwerdeführer wäre daher allfälligen Übergriffen nicht schutzlos ausgeliefert, vielmehr würde die Möglichkeit bestehen, sich an die französische Polizei zu wenden und Anzeige zu erstatten.

 

Der Asylgerichtshof kam daher zu dem Schluss, dass dem Beschwerdeführer in Frankreich keine reale Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Soweit aus der Beschwerde herauszulesen ist, dass der Beschwerdeführer in Frankreich möglicherweise kein Asyl erhalten werde und in die Volksrepublik China abgeschoben werden könnte, ist ihm entgegenzuhalten, dass es nicht Aufgabe der österreichischen Asylbehörden sein kann, "hypothetische Überlegungen über den möglichen Ausgang" eines von einem anderen Staat zu führenden Asylverfahren anzustellen (vgl. u. a. VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095).

 

Im Zusammenhang mit dem französischen Asylverfahren ist lediglich der Vollständigkeit halber noch anzuführen, dass von Seiten Frankreichs keine systemwidrigen Verletzungen der Verpflichtungen aus der Dublin II-VO bekannt sind. Auch geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat sind für sich genommen keine ausreichende Grundlage dafür, dass die österreichischen Asylbehörden vom Selbsteintrittsrecht Gebrach machen müssten (vgl. u. a. VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095).

 

Aus der Rechtsprechung des EGMR lässt sich ein systematische, notorische Verletzung fundamentaler Menschenrechte in Frankreich keinesfalls erkennen und gelten im Übrigen die Mitgliedstaaten der EU als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige. Zudem war festzustellen, dass ein im besonderen Maße substantiiertes Vorbringen bzw. das Vorligen besonderer von dem Beschwerdeführer bescheinigter außergewöhnlicher Unstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen ließen, im Verfahren nicht hervorgekommen sind. Konkret besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass etwa der Beschwerdeführer im Zuge einer so genannten "ungeprüften Kettenabschiebung" in sein Heimatland, also in die Volksrepublik China zurückgeschoben werden könnte.

 

Wenn in der Beschwerde angeführt wird, dass der Beschwerdeführer angegeben habe, illegal in Frankreich eingereist zu sein und dass ihm dabei von den französischen Behörden sein Reisepass abgenommen worden sei, wobei dies völlig unwahrscheinlich sei, erweist sich dieses Vorbringen als aktenwidrig und diametral den Angaben des Beschwerdeführers sowohl im Rahmen der Erstbefragung als auch der Einvernahme vor dem Bundesasylamt entgegenstehend. Im Zuge der Erstbefragung hat der Beschwerdeführer äußert detailliert und unmissverständlich zu Protokoll gegeben, dass er legal mit seinem eigenen Reisepass mit einem Flug der Air China von Peking nach Paris am 21.04.2008 in Frankreich als Tourist mit einem entsprechenden Touristenvisum (Schengenvisum), eingebettet in eine chinesische Reisegruppe, eingereist ist und er seinen Reisepass dem Reiseleiter übergeben hat. Diese Angaben hat er auch im Zuge der Einvernahme vor dem Bundesasylamt bestätigt. Beide Protokolle wurden auch vom Beschwerdeführer nach Rückübersetzung unterschrieben und von ihm die Richtigkeit des Inhalts bestätigt. Für Übersetzungsfehler finden sich daher keine Anhaltspunkte, und wird in der Beschwerde auch nicht näher ausgeführt, worin etwaige Übersetzungsfehler bestehen sollten. Vielmehr werden die erstmals in der Beschwerde angeführten Behauptungen in aktenwidriger Weise vorgebracht, anderenfalls es sich um nicht zulässige Neuerungen gemäß § 40 (1) AsylG handelt. Über den Fluchtweg des Beschwerdeführers besteht angesichts seiner detaillierten und schlüssigen Darlegungen somit kein Zweifel.

 

Was das Vorbringen in der Beschwerde anlangt, dass der Bescheid nichtig sei, weil der Verfasser des Bescheides nicht mit jener Person identisch ist, die die Einvernahme durchgeführt hat, erweist sich auch diese Behauptung als schlichtwegs aktenwidrig.

 

Auch die Behauptung, wonach die Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides unrichtig sei, weil die Beschwerdefrist gegen Bescheide des Bundesasylamtes nicht zwei, sondern sechs Wochen "entsprechend den in erster Linie geltenden Vorschriften des Verwaltungsgerichtshofgesetzes" betrage, erweist sich als haltlos und entbehrt jeglicher rechtlicher Grundlage. § 23 AsylGH-G besagt eindeutig, dass auf Verfahren vor dem AsylGH, vorbehaltlich hier nicht in Betracht kommender Asylgerichtshof-spezifischer Bestimmungen im B-VG, dem AsylG 2005 oder VwGG, das AVG anzuwenden ist, mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt. Daraus ergibt sich aber zwingend, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, dass der Asylgerichtshof die gesetzlichen Bestimmungen (des AVG) zu den Berufungen und nicht( jene des VwGG) zu den Beschwerden vor dem VwGH anzuwenden hat, und diesbezüglich lediglich eine Änderung der Termini stattgefunden hat. Dafür, dass nun aber die Bestimmungen des VwGG zu Beschwerden vor dem VwGH zum Tragen kommen sollten, findet sich somit keine Grundlage.

 

3.5.3. Ferner ist eine Überprüfung gemäß Art. 8 EMRK dahingehend vorzunehmen, ob der Berufungswerber über im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK relevante Verbindungen in Österreich verfügt.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

In Österreich lebt der Onkel des Beschwerdeführers. Diesbezüglich ist zunächst anzuführen, dass die Beziehung zwischen Onkel und Neffen von der oben zitierten Judikatur des EGMR nicht umfasst wird. Ungeachtet dessen liegt jedenfalls die geforderte Beziehungsintensität - wie das Leben in einem gemeinsamen Haushalt oder eine finanzielle Abhängigkeit - im gegenständlichen Fall nicht vor. Nach Angaben des Beschwerdeführers lebt der Onkel bereits seit drei oder vier Jahren in Österreich, während der Beschwerdeführer selbst erst seit vier Monaten in Österreich lebt. Es kann aufgrund der zeitlichen und örtlichen Trennung des Beschwerdeführers von seinem Onkel keinesfalls von der vom EGMR geforderten Beziehungsintensität gesprochen werden.

 

Weitere familiäre Beziehungen zu einem österreichischen Staatsbürger oder einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden in Österreich bestehen nicht, weshalb der Beschwerdeführer bei einer Überstellung nach Frankreich in seinem durch Art. 8 EMRK verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden würde.

 

3.5.4. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO aufgrund einer drohenden Verletzung von Art. 3, 8 EMRK besteht.

 

3.5.5. Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.5.6. Hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch der Beschwerdeführer in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes in dem Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Berufungswerbers nach Frankreich anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5.7. Die Beschwerde erwies sich somit als nicht berechtigt und war daher spruchgemäß abzuweisen.

 

3.5.8. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, EMRK, familiäre Situation, Familienbegriff, Glaubwürdigkeit, Intensität, real risk, Rechtsschutzstandard
Zuletzt aktualisiert am
17.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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