TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/25 B7 229622-0/2008

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.07.2008
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Spruch

229.622/0-XI/38/02/9E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat gemäß § 61 iVm 75 Abs. 7 Z 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008 (AsylG 2005), und § 66 Abs. 4 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetztes 1991 (AVG) durch den Richter Mag. SCHWARZGRUBER als Einzelrichter über die Beschwerde des R.S., geb. 00.00.1977, StA.: Albanien, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.06.2002, Zahl 02 11.063-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.05.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde vom 28.06.2002 wird stattgegeben und R.S. gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 126/2002 (AsylG 1997), Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass R.S. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

Der Berufungswerber (in der Folge Beschwerdeführer genannt) stellte am 26.02.1996 unter der Behauptung, den Namen S.S. zu führen und Staatsangehöriger der (vormaligen) Bundesrepublik Jugoslawien aus dem Kosovo albanischer Volksgruppenzugehörigkeit zu sein, in Österreich den ersten Antrag auf Gewährung von Asyl, dies unter Vorbringen von auf den Kosovo bezogenen Fluchtgründen. Dieser Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 26.02.1996, Zl. 96 00.736-BAT, abgewiesen. Über die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wurde mit Bescheid des Bundesministers für Inneres negativ abgesprochen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, welcher diese mit Beschluss vom 24.03.1999, Zl. 97/01/0429, gemäß § 44 Abs. 2 AsylG zurückwies. Der Verwaltungsgerichtshof leitete die Akten an den in der Folge zuständigen Unabhängigen Bundesasylsenat weiter.

 

Mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 10.03.2000, Zl. 209.338/0-VII/20/99, wurde schließlich die Berufung des Beschwerdeführers vom 13.03.1996 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 26.02.1996, Zl. 96 00.736-BAT, gemäß § 7 AsylG abgewiesen. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 07.06.2000, Zl. 2000/01/0155-3, wurde die Behandlung der gegen diesen Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates erhobenen Beschwerde des Beschwerdeführers abgelehnt.

 

Am 24.04.2002 stellte der Beschwerdeführer neuerlich in Österreich einen Antrag auf Gewährung von Asyl, nunmehr unter dem Namen R.S., StA.: Albanien.

 

Dieser Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 12.06.2002, Zl. 02 11.063-BAT, gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I.), darüber hinaus wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Albanien gemäß § 8 AsylG für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.).

 

Das erstinstanzliche Vorbringen des Beschwerdeführers im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesasylamt am 23.05.2002 wurde in diesem Bescheid durch das Bundesasylamt richtig und vollständig wiedergegeben und lautet wie folgt:

 

"Bei Ihrer niederschriftlichen Vernehmung am 23.5.2002 haben Sie im Beisein eines Dolmetschers der albanischen Sprache vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesasylamtes im wesentlichen folgendes angegeben:

 

Sie seien albanischer Staatangehöriger und ohne Religion. Sie hätten von Geburt bis zum Jahre 1990 in K. gewohnt. Vom Jahre 1990 bis September 1995 hätten Sie in P. gewohnt. Von September 1995 bis 00.12.1995 hätten Sie sich in Griechenland aufgehalten. Am 00.12.1995 seien Sie nach P. zurückgekehrt. Dort hätten Sie bis zu Ihrer Flucht gewohnt.

 

In der Zeit vom 1.2.1996 bis 4.2.1996, seien Sie, als Mitfahrer in einem Lastwagen, über unbekannte Länder, von P. nach Österreich gefahren.

 

Sie hätten sich seit Ihrer Ankunft in Österreich, am 4.2.1996 nicht mehr in Albanien aufgehalten.

 

Sie hätten im Jahre 1996 bei Ihrem Asylantrag angegeben, jugoslawischer Staatsangehöriger zu sein und S. zu heißen, da Sie befürchtet hätten, im Falle der Angaben Ihres richtigen Namens, nämlich R., in Ausübung der Blutrache, von einer albanischen Familie umgebracht zu werden, und, im Falle der Angaben Ihrer richtigen Staatsangehörigkeit, nämlich Albanien, nach Albanien zurückgestellt zu werden.

 

Ihr Onkel habe vor vielen Jahren in Albanien geheiratet. Nach der Heirat sei Ihr Onkel nach Österreich geflohen. Die Gattin Ihres Onkel sei in Albanien geblieben. Ihr Onkel habe sich in Österreich niedergelassen und habe versucht, die Reise seiner Frau nach Österreich zu ermöglichen. Die Familie der Gattin Ihres Onkels sei damit nicht einverstanden gewesen. Ihr Onkel habe telefonisch seine Gattin und deren Angehörige von seiner Absicht verständigt, seine Gattin zu verlassen. Ihr Onkel habe auch Ihren Vater in diesem Sinne informiert.

 

In Ihrer albanischen Heimat bedeute das Verlassen einer Ehefrau eine schwere Beleidigung und Herabsetzung, sowohl der verlassenen Frau, als auch der Angehörigen der verlassenen Frau, und verursache die Berechtigung und die Verpflichtung, der Angehörigen der verlassenen Frau, zur Ausübung der Blutrache, an jenem Mann, der die Frau verlassen habe, und an dessen Angehörigen.

 

Sie seien seit Ihrer Ankunft in Österreich, bis zuletzt vor eineinhalb Jahren, von Angehörigen der albanischen Familie namens O., oftmals telefonisch beschimpft und bedroht worden. Die Angehörigen dieser albanischen Familie hätten bei diesen Telefonanrufen gesagt, dass sie Ihre Person, in Ausübung der Blutrache, umbringen würden, und dass sie über Ihren Aufenthaltsort in Kenntnis seien.

 

Etwa Anfang September 1999 hätten Sie herausgefunden, dass die Drohanrufe aus Italien gekommen seien. Einige Drohanrufe seien auf Ihrem Mobiltelefon gespeichert worden. Sie hätten sich Anfang September 1999 mit Ihrem Mobiltelefon zum Gendarmerieposten Traiskirchen begeben und hätten über die erwähnten Sachverhalte Anzeige erstattet. Seit eineinhalb Jahren hätten Sie keine Drohanrufe mehr erhalten., weil Sie Ihre Telefonnummer geändert hätten.

 

Am 00.11.1999 seien Sie vor einem Kaffeehaus in Traiskirchen, das vorwiegend von Angehörigen der albanischen Volksgruppe besucht werde, von fünf Männern mit albanischer Volkszugehörigkeit, beschimpft und zusammengeschlagen worden. Die Männer hätten Ihnen bei den Beschimpfungen und Misshandlungen einen Sack über den Kopf gestülpt. Sie seien am Boden gelegen. Ein Passant habe die Gendarmerie und die Rettung verständigt. Es seien die Rettung und die Gendarmerie gekommen. Sie seien von der Rettung in das Krankenhaus Baden gefahren worden. Sie hätten durch die Misshandlungen starke Schwellungen im Gesicht und im Bereich der Augen erlitten und hätten Schmerzen im Gesicht, im rechten Jochbein, am rechten oberen Eckzahn, und im rechten Knie, verspürt. Ihre Oberlippe und Ihre Unterlippe seien geschwollen gewesen. Sie hätten Schmerzen an verschiedenen Körperstellen verspürt und hätten Blauverfärbungen der Haut erlitten.

 

Sie hätten nie Probleme mit anderen Menschen gehabt. Sie seien sich dessen sicher, dass Sie von den Männern, über Auftrag der erwähnten Familie, in Ausübung der Blutrache zusammengeschlagen worden seien.

 

Im Falle einer Rückkehr nach Albanien würden Sie befürchten, in Ausübung der Blutrache, von Angehörigen der Familie der früheren Frau Ihres Onkels, oder über deren Auftrag, umgebracht zu werden. Die Polizei in Albanien würde Ihnen keinen Schutz gewähren, weil sich die Polizei in Ihrer Heimat in familieninterne Angelegenheiten nicht einmenge."

 

Beweiswürdigend führte das Bundesasylamt in diesem Bescheid vom 12.06.2002, Zl. 02 11.063-BAT, Folgendes aus:

 

"Die Behörde sieht sich zu diesem Befinden berechtigt, weil Sie bei Ihrer niederschriftlichen Befragung, zu Ihrem Asylantrag, vom 6.2.1996, am 13.2.1996, aussagten, S. zu heißen, jugoslawischer Staatsangehöriger zu sein, im Kosovo acht Jahre Grundschule besucht zu haben, wegen der Zustellung eines Einberufungsbefehles und wegen der Einschränkung der Rechte, die Angehörige der albanischen Volksgruppe betroffen hätte, aus dem Kosovo geflohen zu sein.

 

Durch Ihre widersprüchlichen Aussagen haben Sie wichtige Tatsachen im Asylverfahren bewusst falsch dargestellt und Ihre persönliche Glaubwürdigkeit in Frage gestellt.

 

Ihren Aussagen über eine, aus der Ausübung der Blutrache resultierende Gefahr, musste daher die Glaubwürdigkeit versagt werden und kann nicht davon ausgegangen werden, dass Sie begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht haben."

 

Gegen diesen Bescheid, zugestellt am 17.06.2002, erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 28.06.2002 fristgerecht Berufung (in der Folge als Beschwerde bezeichnet; vgl. diesbezüglich § 23 Asylgerichtshofgesetz [Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008]), in welcher der Beschwerdeführer einräumt, es sei richtig, dass er 1996 im Rahmen seiner ersten Asylantragstellung falsche Angaben getätigt habe, allerdings sei auch richtig, dass er sein Land - nämlich Albanien - aus Furcht vor Blutrache verlassen habe. Zu seinem Vorbringen von 1996 sei nur anzumerken, dass der Beschwerdeführer damals von verschiedensten Personen davon überzeugt worden sei, diese von ihm damals gemachten falschen Angaben zu tätigen, um auch ganz sicher geschützt zu sein. Es habe sich damals um eine aus einer Notlage entstandene Handlung gehandelt, die der Beschwerdeführer zwar nunmehr bedaure, die ihm aber damals als die einzige Möglichkeit erschienen sei, um einer Verfolgung in seinem Heimatland, nämlich Albanien, zu entgehen. Der Beschwerdeführer habe klar dargelegt, wie es zu dieser Fehde gekommen sei, dass seine Familie ständig bedroht worden sei, Verwandte getötet worden und er massiv bedroht worden sei. Dies sei sogar noch nach seiner Ankunft in Österreich geschehen, der Beschwerdeführer habe auch angegeben, dass er mit Drohanrufen belästigt und sogar in Traiskirchen zusammengeschlagen worden sei, was beides aktenkundig sei. Darüber hinaus enthält die Beschwerde Ausführungen über die Blutrache in Albanien, weiters wird in der Beschwerde die zeugenschaftliche Einvernahme des in Österreich lebenden Onkels, welcher Auslöser für die Blutrache gewesen sei, beantragt.

 

Auf Grund des Umstandes, dass der erstinstanzliche Bescheid nicht

den Schlüssigkeitsanforderungen einer Beweiswürdigung gerecht

werdende beweiswürdigende Ausführungen enthält, führte der

Asylgerichtshof (noch als Unabhängiger Bundesasylsenat) am

23.05.2008 eine - gemäß § 39 Abs. 2 AVG mit den Verfahren der Eltern

verbundene - öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des

Beschwerdeführers und seiner Eltern sowie im Beisein des als Zeugen

beantragten Onkels und im Beisein einer rechtsfreundlichen

Vertreterin durch. Das Bundesasylamt verzichtete auf die Entsendung

eines Vertreters zu dieser Verhandlung. Diese öffentliche mündliche

Verhandlung am 23.05.2008 gestaltete sich wie folgt (VL =

Verhandlungsleiter, BW1 = Beschwerdeführer, Z = Zeuge, BW2 = Vater

des Beschwerdeführers):

 

"Die Sache wird aufgerufen.

 

Der VL prüft die Stellung der Anwesenden sowie etwaige Vertretungsbefugnisse wie oben eingetragen. Anschließend eröffnet er die mündliche Verhandlung.

 

Der VL legt den Gegenstand der Verhandlung einschließlich die Sach- und Rechtslage wie oben eingetragen dar.

 

Der VL stellt fest, dass die Parteien des Verfahrens und die Dolmetscherin zur Verhandlung rechtzeitig durch persönliche Verständigung geladen wurden.

 

Der VL gibt den Parteien Gelegenheit, sich zum Gegenstand der Verhandlung zu äußern.

 

Verlesen werden das Schreiben des Bundesasylamtes, Außenstelle Traiskirchen, vom 00.00.2008 (Zahl: OZ ) mit welchen die Nichtteilnahme an der Verhandlung entschuldigt und beantragt wird, die Berufung abzuweisen. Weiters wird um Übersendung einer Kopie des Verhandlungsprotokolls ersucht.

 

Einwände gegen die Dolmetscherin werden nicht erhoben.

 

VL befragt die BW ob sie die Dolmetscherin gut verstehen, was bejaht wird.

 

Die Beweisaufnahme wird eröffnet.

 

Der BW1: R.S., geb. 00.00.1977, StA.: Albanien

 

weist sich aus durch vorläufige AB, vom 00.05.2002 und österreichischen Führerschein, vom 00.04.2001.

 

.....gibt nach Belehrung gemäß § 49 iVm § 51 AVG (die Aussage darf verweigert werden, wenn die Beantwortung der Fragen für bestimmte nahe stehende Personen Schande oder die Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung bewirken würde; über Fragen, die der Befragte nicht beantworten könnte, ohne eine staatlich anerkannte Verschwiegenheitspflicht, von deren Einhaltung er nicht entbunden wurde, zu verletzen oder ein Kunst-, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis zu offenbaren; über Fragen, wie er sein - dem Gesetz nach geheimes - Stimm- oder Wahlrecht ausgeübt hat (§ 49 AVG)

 

vernommen an:

 

VL: Wann und wo wurden Sie geboren?

 

BW1: Ich bin am 00.00.1978 in K. geboren.

 

VL: Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?

 

BW1: Die Albanische.

 

VL: Wann haben Sie Albanien verlassen?

 

BW1: Im Jahr 1995 bin ich nach Griechenland gefahren, dort war ich bis Dezember 1995 aufhältig. Ich kehrte dann nach Albanien zurück und am 01.02.1996 verließ ich erneut Albanien und seitdem war ich nicht mehr in meiner Heimat.

 

VL: Schildern Sie bitte kurz Ihre Fluchtgründe.

 

BW1: Früher haben wir in K. gewohnt. Im Jahr 1990 sind wir von K. nach P. gezogen, dort war ich von 1990 bis 1995 aufhältig. Nachdem ich aus Griechenland zurückkehrte war ich wieder in P. aufhältig. 1996 bin ich von P. geflüchtet. In D., nachdem wir aus P. geflüchtet sind, erzählte mir mein Vater, dass wir in Blutfehden bzw. in Blutrache verwickelt sind. Von dort aus sind wir mit einem Lastwagen geflüchtet. Ich weiß nicht, über welche Länder wir gefahren sind. Das Problem war, dass mein jüngster Onkel väterlicherseits in K. verheiratet war. Er ist im Jahr 1990 von K. geflüchtet und hat seine Frau zurückgelassen. Er wollte seine Frau zu sich holen und hat sie angerufen und ihr das vorgeschlagen, jedoch war ihre Familie dagegen. Der Onkel hat meinen Vater angerufen. Mein Vater ist der älteste von den Brüdern und sozusagen das Oberhaupt der Familie und hatte mitgeteilt, dass er die Frau nicht mehr zu sich nehmen wird. Die Familie der Frau meines Onkels ist zu uns gekommen, sie hat sechs Brüder. Eine ihrer Brüder, der so ziemlich verrückt ist, hat mit meinem Vater gesprochen. Er sagte zu meinem Vater, dass er Probleme mit ihm bekommen wird, falls mein Onkel Österreich nicht verlässt und seine Frau zurücklässt, und nicht in Albanien lebt. Mein Vater sagte ihm, dass er seinen Bruder nicht dazu zwingen kann. Der Bruder der verlassenen Frau sagte, dass es laut Kanun dies nicht so geht, dass man seine Frau nicht einfach so verlassen kann. Er sagte, dass man seine Schwester nur dann verlassen hätte können, wenn sie etwas gestohlen hätte, zu viel geredet oder ihren Mann betrogen hat. So steht das bei uns im Kanun. Er sagte, dass nur aus diesem Grund mein Onkel seine Frau verlassen könnte. Es ist zu einem Streit gekommen. Sie wissen, wie das so ist, bei uns Albanern. Der sagte, du wirst schon sehen, wer ich bin. Das ist der Grund, warum wir K. verlassen haben und nach P. gezogen sind. Mein Onkel und seine Frau haben früher bei dem Großvater gewohnt, in einem Haus mit ca. 125 m² Wohnfläche. Als wir K. verlassen haben, haben zwei ihrer Brüder meinen Großvater aus dem Haus geworfen. Mein Großvater ist zu uns nach P. gekommen. Der Bruder der verlassenen Frau hat das Haus meines Großvaters verkauft. In Albanien ist das alles möglich mit gefälschten Dokumenten usw. Zu dieser Zeit war einer ihrer Brüder Polizist bzw. der Schlimmste von ihnen. Man konnte sich nirgends beschweren.

 

VL: Wie hieß der Bruder, der ehemaligen Ehefrau, der mit Ihrem Vater gesprochen hat?

 

BW1: A.O., zurzeit ist er Dorfvorsitzender von der Ortschaft M., in der Gemeinde K..

 

VL: Wie heißt der Bruder, der Polizist ist?

 

BW1: Das ist der, der früher Polizist war und er wurde dann besonders im Jahr 1995/1996 sehr mächtig, indem er Waffen im Kosovo verkauft hat. Er ist mächtig und reich geworden, er hat einen Ruf bekommen. Er hat uns durch Bekannte und Freunde ausrichten lassen:

"Ihr werdet mich kennen lernen, ihr werdet schon dran kommen." Das war bevor wir nach Österreich geflüchtet sind. Bei uns in Albanien ist es so, wenn man sich an der betroffenen Person, wie in diesem Fall, an meinen Onkel nicht rächen kann, dann muss dessen Bruder, man beginnt mit dem Ältesten, zur Verantwortung gezogen werden. In diesem Fall wäre das mein Vater. Mein Vater war derjenige, der für deren Tochter garantiert hat, als mein Onkel sie geheiratet hat, bzw. der, der die Hand gestreckt hat.

 

VL: Warum nicht Ihr Großvater?

 

BW1: Der Großvater war sehr alt, ca. 60 oder 70 Jahre. Die Vereinbarung bezüglich der Verehelichung wurde zwischen meinem Vater und einem Angehörigen der Familie der Braut getroffen.

 

VL: Aber ist es nicht so, dass der Familienälteste das Familienoberhaupt ist?

 

BW1: Das stimmt, es ist so, wie Sie sagen, aber in diesem Fall hat mein Großvater gesagt, dass er nicht garantieren wollte, weil er die Familie mehr oder weniger gekannt hat. Normalerweise ist es so, der Älteste ist das Oberhaupt. Mein Onkel war als Handwerker tätig. Er übt nach wie vor diesen Beruf aus, aber es war mein Vater, der für alles konsultiert wurde. Mein Vater und mein Großvater haben sich immer gut verstanden und haben sich immer miteinander konsultiert. Früher haben wir zusammen in einem Haushalt mit dem erwähnten Onkel und dessen Frau gewohnt. Dann kam es zu einer Trennung, das heißt in diesem Haus, das verkauft wurde, haben wir alle zusammen gelebt. Dann bekamen wir ein eigenes Haus, ca. 200 bis 300 Meter von diesem Haus entfernt. Diesbezüglich gibt es nichts mehr zu sagen, das war der Grund, weshalb wir von dort geflohen sind. Als ich im Jahr 1999 in Österreich war, habe ich anonyme Drohanrufe bekommen, fast immer mit demselben Inhalt, dass ich umgebracht werde. Leute, die mich angerufen haben, haben sich mit dem Namen nicht vorgestellt. Die Drohanrufe habe ich bei der Polizei in Traiskirchen angezeigt. Es wurde mir gesagt, dass ich in Österreich bin und mir hier nichts passiert. Ich war in einem albanischen Kaffeehaus in Traiskirchen und habe das Lokal ganz normal verlassen. Ich habe mit niemanden keinerlei Probleme gehabt. Ich kam zu einer Ampel. Ich habe gesehen, wie ein Wagen bremste. Es war bei einer Kurve, es war auch eine Telefonzelle in der Nähe. Ich habe die Leute, die aus dem Wagen ausgestiegen sind, nicht gekannt. Sie sind von hinten gekommen, aber ich habe nicht damit gerechnet. Sie haben mir ein Plastik komplett über den Kopf darüber geworfen und dann haben sie mich geschlagen. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich im Krankenhaus war und Polizisten dort waren. Ich wurde von den Polizisten befragt. Sie waren auch in dem albanischen Lokal. Dort haben sie erfahren, dass in diesem Lokal auch fünf unbekannte Personen gewesen sind.

 

BWV legt vor, eine Bestätigung des allgemeinen öffentlichen Krankenhauses Baden vom 00.00.1999, zum Beweis für den geschilderten Vorfall; wird als Beilage A zum Akt genommen.

 

BW1: Zwei Wochen später ging ich wieder zur Polizei. Man fragte mich, ob ich vielleicht Probleme mit irgendjemand habe, was ich verneinte, weil ich mit keinem Probleme habe. Der Postenkommandant, glaube ich, bzw. der Chef dieser Stelle hat mir dann seine Visitenkarte gegeben, und hat gesagt, dass ich ihn ruhig anrufen kann, wenn mir etwas passiert. Es ist mir aber nichts passiert, somit habe ich ihn nicht anrufen können. Die Visitenkarte habe ich leider nicht mehr. Als wir hier her gekommen sind, haben wir falsche Namen angegeben und das nur aus dem Grund, nicht gefunden zu werden. Die Brüder der Frau meines Onkels sind sehr reich geworden. Der Mann, der uns bedroht hat, scheut sich vor nichts. Vor ca. eineinhalb Jahren wurde im Fernsehen berichtet, dass A.O. bei einer Schießerei mit dem Bürgermeister von K. beteiligt war. Jetzt ist er Bürgermeister von M.. Alle Brüder der Frau meines Onkels waren verärgert, dass ihre Schwester verlassen wurde und dass sie bei ihnen zu Hause verblieben ist, zumindest für die nächsten vier Jahren nach unserer Flücht, danach haben wir nichts mehr von ihnen erfahren. Das ist eine große Schande für diese Familie.

 

VL: Wie ist der Name der ehemaligen Frau des Onkels?

 

BW1: M., sie hat R. geheißen, ob sie den Namen gewechselt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob sie ihren Mädchennamen wieder genommen hat, zu einer Scheidung ist es nicht gekommen.

 

VL: Wie heißen denn die Brüder der ehemaligen Ehefrau?

 

BW1: Das weiß ich nicht, weil ich damals 13 oder 14 Jahre alt war, mein Onkel oder mein Vater kennen den Namen. Ich habe nicht viel Kontakt zu ihnen gehabt. Es war dieser A. und ein anderer Bruder von ihr, die immer wieder zu uns gekommen sind, diese zwei habe ich gekannt. Es war ein bergiges Dorf woher sie stammte und die anderen Brüder waren Hirten. Ich habe sie nicht gesehen. Ich war ein einziges Mal bei ihnen zu Hause. Ich war ja noch sehr klein.

 

VL: Was meinen Sie konkret, sie sind immer wieder zu uns gekommen? Wie oft waren diese bei Ihnen und wann?

 

BW1: Der A. ist oft zu uns gekommen, damit meine ich, bevor die beiden sich getrennt haben. Einer ihrer Brüder, der immer wieder mit A. zu uns nach Hause gekommen ist, war ein Unteroffizier beim Militär. Dadurch, dass sie sich oft in der Stadt aufgehalten haben, sind sie auch oft zu uns zum Essen gekommen.

 

VL: Worin haben sich konkret die Bedrohungen gegen Ihre Familie geäußert?

 

BW1: Einmal waren wir bei der Tante väterlicherseits. Da sind sie zu uns nach Hause gekommen in K., wir waren nicht zu Hause. Wir haben im vierten Stock gewohnt. A. ist mit zwei, nein drei weiteren Personen gekommen. Sie hatten eine Tasche mit. Im selben Stock hat es noch zwei weitere Wohnparteien gegeben. Sie haben bei uns geläutet, aber keiner hat die Tür geöffnet. Sie wollten die Tür öffnen. Der Nachbar P.B. ist hinausgegangen und hat sie zur Rede gestellt. Man hat ihm gesagt, dass dies eine Angelegenheit ist, die ihm nicht interessieren sollte und dann sind sie weggegangen.

 

VL: Wann war das?

 

BW1: Das war, kurz bevor wir K. verlassen haben, das war auch der Grund, weshalb wir K. verlassen haben. Der Nachbar hat uns darüber berichtet, er hat diesen A. gekannt. Er hat uns davon berichtet, das A. und seine Gefährten getan haben. Das war der Grund, warum wir von dort weggezogen sind. In P., das ist ca. 80 km von K. entfernt, hat meine Schwester A. gesehen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir schon in Österreich, das war im Jahr 1996. Meine Mutter, die Schwester und mein Bruder sind zwei Jahre nach uns nach Österreich gekommen.

 

VL: Wie war es möglich, dass Sie vom Jahr 1990 bis 1996 scheinbar unbehelligt in Albanien leben konnten?

 

BW1: Drohungen hat es Viele gegeben. Wir stammen aus P. bzw. unser Ursprung. Der Mann wurde mächtig und reich, als er Waffen verkaufte, im Kosovo, er hat auch Diesel verkauft. Meine Tante hat in K. gelebt. Sie hat uns davon berichtet, so wie dass er seine Töchter belästigt hat. Meine Tante hat ein Geschäft in K. geführt, damals und er war oft dort. Er ist dort oft vorbeigefahren.

 

VL wiederholt die Frage:

 

BW1: Wir haben damals nicht so eine große Angst gehabt, weil er damals nicht so mächtig war. Sie waren sehr arm. Die Situation hat sich aber geändert, es gibt jetzt eine Demokratie. In Albanien kann man zurzeit mit Geld alles erreichen. Man kann einen Mörder für 1.000 Euro beauftragen, jemand umzubringen. Er hat zu meiner Tante gesagt, dass er ihre Brüder auch in Österreich finden wird. Wie gesagt, mit Geld kann man bei uns alles erreichen.

 

VL: Weshalb führen Sie den Vorfall im Jahr 1999 in Österreich auf Ihre nunmehr geschilderten Fluchtgründe zurück? In Österreich seien Sie im Jahr 1999 geschlagen worden, weshalb glauben Sie, dass das im zwingenden Zusammenhang mit Ihrer Blutrachegeschichte steht?

 

BW1: Ich wurde telefonisch bedroht. In K. und Umgebung ist dieser Mann sehr bekannt. Er ist Nr. 1. Keiner traut sich gegen ihn etwas zu unternehmen. Er hat auf einen Mann geschossen, war lediglich zweieinhalb Tage inhaftiert. Dadurch, dass er Geld hatte, wurde er freigelassen und jetzt ist er Bürgermeister. Damals, als ich in Traiskirchen telefonisch bedroht wurde, wurde mir gesagt, dass man mich finden wird. Ich wurde aus Italien angerufen. Zu dieser Zeit wurden viele Leute getötet. Wie gesagt, mit wenig Geld kann man einen Mörder anheuern. Leute aus K. und Umgebung gab es damals viele hier. Ich kann es nicht wissen, möglicherweise findet er mich hier in Österreich und erkundigt sich bei irgendwem.

 

VL: Was wurde konkret telefonisch gesagt, als Sie bedroht wurden?

 

BW1: Geschimpft, wir werden dich töten, du wirst nicht mehr lange leben. Ich fragte die Leute, ob sie es wissen würden, mit wem sie reden. Ich fragte sie, was sie von mir wollen. Als Antwort bekam ich zu hören, du weißt es ganz gut. Ich sagte, dass ich eine Anzeige bei der Polizei erstatten werde, sie sagten, dass es ihnen egal ist und sie schimpften ganz vulgär, nicht nur über mich, sondern auch über die Polizei.

 

VL: Wurde etwas zu Ihnen gesagt, als Sie verprügelt wurden?

 

BW1: Als sie direkt zu mir kamen, ich habe sie nicht ganz gut gehen. Ich habe nur wahrgenommen, dass Leute aus einem Auto aussteigen. Sie haben nur auf mich eingeschlagen. Aber ich kann mich erinnern, als einer von ihnen sagte, in Albanisch: "Lasst ihn, er ist gestorben."

Ich habe nichts gesehen. Meine Augen waren angeschwollen, mein Gesicht und die Hände waren auch angeschwollen.

 

VL: Bei dem Unstand, dass dieses Verprügeln mit der Blutrache im Zusammenhang steht, ist aber nur eine Vermutung Ihrerseits?

 

BW1: Aber es hat was damit zu tun, weil ich sonst mit niemanden Probleme habe. Wenn ich Probleme mit Ihnen hätte, würde ich zur Polizei gehen und hätte gesagt, dass Sie es waren. Ich hätte dafür auch Schmerzensgeld bekommen. Ich wäre nie zu meiner Familie gegangen, damit mich meine Eltern so sehen, ansonsten hatte ich in Österreich mit niemand Probleme. Ich verstehe mich mit allen Leuten gut, die ich kenne. Ich habe auch mit dem Chef dieses Lokals gesprochen und der hat mir gesagt, dass diese Leute lediglich ein Getränkt konsumiert haben und sind sofort hinaus gegangen, nachdem ich das Lokal verlassen habe. Sie haben auch ihre Getränke nicht leer ausgetrunken.

 

VL: Warum hätte man eigentlich auf Sie greifen sollen und nicht auf Ihren Vater, der der älteste Bruder Ihres Onkels ist?

 

BW1: Als mir das passiert ist, was ich so zu sagen, der jüngste in der Familie. Ein bisschen problematisch bzw. hat man mich gut gekannt, in dieser Umgebung / Zone. Mein Vater geht nicht oft aus.

 

VL: Wann hat Ihr Onkel, der der die Ehefrau zurückgelassen hat, Albanien verlassen und wie heißt dieser?

 

BW1: Er ist im Jahr 1990 geflüchtet, in welchem Monat weiß ich nicht mehr. Er heißt R.P..

 

VL: Wissen Sie, wo dieser zuerst hingegangen ist, nachdem er Albanien verlassen hat?

 

BW1: Ich glaube, in Richtung Griechenland, aber sicher bin ich mir nicht. Nachdem er seine Frau verlassen hat, hat er nicht gesagt, dass er sie verlässt bzw. weshalb er sie verlässt. Vielleicht war er zuerst in Mazedonien oder Griechenland. Ich weiß nur, dass er uns aus Österreich angerufen hat, bzw. meinen Vater angerufen hat, nicht mir, ich war ja noch sehr klein. Bei uns in Albanien schaut man, dass man den Jüngsten umbringt, nicht den Alten.

 

VL: Hatte Ihr Onkel zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus Albanien Kinder?

 

BW1: Es gab ein Kind, allerdings ob das Kind ein oder zwei Monate alt war, oder ist es tot auf die Welt gekommen, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, dass das Kind auf die Welt gekommen ist und dann gestorben war. Meine Eltern müssten das besser wissen.

 

VL: Ist Ihr Onkel allein nach Österreich ausgereist oder mit jemandem gemeinsam?

 

BW1: So viel ich weiß ist er alleine ausgereist. Ob ihn jemand begleitet hat, weiß ich nicht. Es war keiner von unserer Familie dabei. Mein Onkel ist behindert auf einem Bein, glaube ich. Bei uns in Albanien spricht man viel darüber und sagt man, wie konnte der Behinderte deine Schwester zurücklassen und so kommt es zu Anspannungen.

 

VL: Ich habe hier eine Auskunft von Interpol Albanien vom 15.02.2000, wonach Ihr Onkel im Jahr 1990 mit seiner Familie nach Mazedonien und in der Folge nach Österreich ausgereist sei. Was sagen Sie dazu?

 

BW1: Mein Onkel, mit der Familie? Mit welcher Familie?

 

VL: Das ist meine Frage, dass müssen Sie mir erklären.

 

BW1: Mein Onkel ist alleine ausgereist, seine Frau ist alleine zu Hause geblieben. Vielleicht meinen Sie einen anderen Onkel? Ich weiß nur, dass seine Frau zu Hause geblieben ist und er alleine das Land verlassen hat.

 

VL: Heißen die Großeltern B. und I.?

 

BW1: Ja.

 

VL: Sie haben bereits ein rechtskräftig abgeschlossenes Asylverfahren, ist das richtig?

 

BW1: Ja.

 

BWV: Sie haben gesagt, es ist überprüfbar, dass der Onkel alleine ausgereist ist?

 

BWV beantragt eine Überprüfung durch die österreichische Botschaft.

 

BW1: Damals im Jahr 1990 hat er allein das Land verlassen, weil in Ihren Unterlagen steht, dass er mit seiner Familie ausgereist ist, das kann nicht stimmen. Seine Frau hat uns alle sehr gemocht, wir haben sie auch gemocht, sie war eine nette Frau. Mein Onkel hat sich mit ihr gut verstanden, sie haben sich geliebt, aber es war ihre Familie, die nicht wollte, dass sie zu ihrem Mann nach Österreich kommt. Hätte sie dass gemacht, wäre sie heute in Österreich.

 

Zeuge: R.P., geb. 00.00.1969,

 

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dieser ist ausgewiesen durch: österreichischen Reisepass.

 

Der Verhandlungsleiter

 

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ermahnt den Zeugen, die Wahrheit anzugeben und nichts zu verschweigen

 

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weist ihn auf die Gründe die Aussage zu verweigern iSd § 49 AVG hin

 

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weist ihn auf die Folgen einer falschen Zeugenaussage iSd § 289 StGB hin

 

Der Zeuge gibt nach WE iSd § 50 AVG und Vorhalt des § 289 StGB an:

 

VL: Schildern Sie mir bitte Ihre Fluchtgründe? Wann haben Sie Albanien verlassen?

 

Z: Ich bin im Jahr 1990 aus Albanien geflohen. Ich bin nach Griechenland geflüchtet. Dort habe ich mich eine Weile aufgehalten und wurde dann nach Albanien abgeschoben. Dann bin ich über die Grenze nach Mazedonien geflüchtet.

 

VL: Waren Sie da alleine?

 

Z: Ja. Dorthin bin ich aus dem Dorf geflüchtet, von wo mein Vater stammt. Ich flüchtete nach Diber e Madhe, nach Mazedonien. Nach der Überquerung der Grenze habe ich einen Wagen per Autostopp angehalten und dieser hat mich bis zur Hauptstadt Shkup (Skopje) mitgenommen.

 

VL: Zu den Fluchtgründen: Was ist damals passiert?

 

Z: Albanien war noch ein kommunistisches Land. Eine Demokratie war nötig, ganz Europa hat das klar gesehen. Viele Leute flüchteten in die Botschaften, so wurde mir klar, dass wir alles verloren haben bzw. auch das Geschäft und die Arbeit, alles war verloren. Wir hatten keine Arbeit mehr. Somit war es für mich klar, dass ich Albanien verlassen muss, es war begründet. Kurz gesagt, bin ich dann nach Mazedonien geflüchtet. Ich bin dann per Anhalter weitergefahren. Die Leute, die mich mit dem Auto mitgenommen haben, waren Studenten, sie haben auch sogar meinen Onkel, der in Mazedonien, in Skopje, der an der Uni unterrichtet hat, gekannt.

 

VL: Sie haben es damals für nötig befunden, Albanien zu verlassen und nach Österreich zu kommen.

 

Z: Ich wollte eigentlich ursprünglich nach Deutschland gehen, wurde aber in Salzburg von der Polizei aufgehalten und nach Traiskirchen gebracht, wo ich schließlich einen Asylantrag gestellt habe.

 

Zeugenbefragung wird in Deutscher Sprache auf Wunsch des Zeugen fortgesetzt.

 

Angemerkt wird, dass der Zeuge der Deutschen Sprache ausreichend mächtig ist.

 

Z: Ich war damals verheiratet in Albanien und habe meine Frau verlassen. 1991 bin ich - nach meinem Aufenthalt in Mazedonien - schließlich nach Österreich gekommen. Ich war dort verheiratet und habe meine Frau in Albanien verlassen, aber nicht mit der Absicht, dass ich sie für immer dort lasse. Wenn es mir gut gegangen wäre, hätte ich sie nach Österreich nachgeholt. Ich habe mit ihr öfters telefoniert, aber die Eltern von meiner Frau waren nicht einverstanden, dass ich nach Österreich gegangen bin. Sie haben immer wieder mich aufgefordert, dass ich zurück nach Albanien komme, um dort zu leben. Wenn ich das nicht tun würde, würde ich dies bereuen, wie sie mir mitteilten. Ich habe schon lange überlegt, mit ihnen telefoniert und gesprochen und habe ihnen klar gesagt, dass ich nicht wieder nach Albanien zurückkehre.

 

VL: Mit wem von dieser Familie haben Sie dort gesprochen?

 

Z: Mit dem Bruder meiner Frau, namens S.O., er war Polizist, mit dem habe ich telefoniert, der war meistens am Telefon, außerdem gab es noch einen Bruder namens A.O., dieser hat mich am meisten bedroht.

 

VL: War der A. auch ein Polizist?

 

Z: Er war kurze Zeit später auch Polizist. Mein Vater hat zusammen mit meiner Frau in einem Haushalt gelebt. Ich habe dann entschieden, dass ich nicht mehr zurückkomme und meine Frau verlasse. A. hat dann meinen Vater mit Gewalt aus dem Haus vertrieben. Er hat es irgendwie geschafft, ohne Unterschrift meines Vaters Eigentümer dieses Hauses zu werden. Wie dies gehen konnte, weiß ich nicht. Ich vermute, es war Korruption im Spiel. Kurze Zeit später hat er das Haus verkauft. Als das Haus verkauft wurde, ist mein Vater nach D. gegangen, um dort zu wohnen.

 

VL: Bei wem hat er dort gewohnt?

 

Z: Er hat dort bei einem Verwandten gewohnt, bis mein Bruder E. ebenfalls nach D. umgezogen ist. Mein Bruder hat Drohungen von A. bekommen, dass er ihn umbringen werde, weil ich meine Frau verlassen habe. Aus Sicht der Leute gab es keinen Grund, meine Frau zu verlassen, weil mein Grund nicht im Kanun vorgesehen ist. Danach haben sie mir und meiner Familie Blutrache erklärt.

 

VL: In welcher Form wurde diese Blutrache erklärt?

 

Z: A. hat mir dies telefonisch mitgeteilt.

 

VL: Wann war das und warum hat er Ihre Telefonnummer gehabt?

 

Z: Er hatte nicht meine Telefonnummer, ich habe ihn angerufen aus Österreich und habe mitgeteilt, dass ich nicht mehr zurückkehren und meine Frau verlassen werde, da hat er mir das mitgeteilt. A. hat in der Stadt, in welcher er lebt, Macht, weil er durch den Verkauf des Hauses zu Geld gekommen ist und mit diesem Geld hat er eine Firma aufgebaut. Er wurde dann Bürgermeister, das ist er heute noch. Vor zwei Jahren habe ich im Fernsehen gehört, dass er mit dem Bürgermeister von K. einen Streit hatte und beide die Pistole gezogen haben. Er wurde verhaftet, wurde aber nach zwei Tagen wieder frei gelassen.

 

VL: Eigentliches Zielobjekt der Blutrache müssten Sie sein?

 

Z: Der Kanun sagt, dass es egal ist, wer es ist, es muss einer aus der Familie sein.

 

VL: Wenn man einem aus der Familie erwischen würde, würde es erledigt?

 

Z: Aus seiner Sicht wäre es erledigt und seine Familie wäre stolz und die Ehre wäre wieder hergestellt. Ich bin seit 18 Jahren hier, ich sehe anders aus und die Leute unten sehen auch anders aus. Meine Mentalität ist jetzt anders, als die, die ich unten hatte.

 

VL: Haben Sie damals die Frau geheiratet?

 

Z: Ja, ich war verheiratet.

 

VL: Sind Sie geschieden?

 

Z: Ja.

 

VL: Wie ist die Scheidung gegangen?

 

Z: Die Scheidung hat A. irgendwie vollzogen, wie das gegangen ist, weiß ich nicht, ich war jedenfalls nicht dabei.

 

VL: Besteht nicht irgendeine andere Möglichkeit die Ehre dieser Familie wieder herzustellen, z.B. mit Geld?

 

Z: Mit Geld kann man keine Ehre kaufen, wenn es diese Möglichkeit gegeben hätte, wäre ich schon bereit gewesen, zu bezahlen, aber die andere Familie war nicht einverstanden.

 

VL: Wie hat Ihre Frau geheißen?

 

Z: M..

 

VL: Gab es sonst noch irgendwelche konkreten Bedrohungen Ihrer Person?

 

Z: Berg mit Berg kann nicht treffen, aber Mensch mit Mensch schon. Das war das, was er mir damals bei dem Telefongespräch gesagt hat. Wenn ich dich finde, werde ich dich umbringen.

 

VL: Gab es konkrete Drohungen gegen andere Bedrohungen gegen Ihre Familienmitglieder?

 

Z: Ich habe eigentlich nicht genau gefragt. Bedroht wurden sie von den beiden Brüdern, insbesondere von A.. Dieser kam, wie mir erzählt wurde, auch zum Haus meines Bruders, dieser war nicht anwesend, sondern nur die Nachbarn. Die Schlimmste Drohung war eigentlich ein Vorfall, welcher gegen meine damals noch in Albanien lebende Schwester B.D., gerichtet war. A. hat meine Schwester auf der Straße getroffen, das war im K. auf der Straße, auf welcher man abends flaniert. Meine Schwester hatte damals lange Haare, er hat sie an den Haaren gezogen und zu Boden gerissen und geschlagen, er hat ihr vorgeworfen, dass sie mich damals zur Ausreise aus Albanien bewegt habe, dies ist aber nicht wahr. Meine Schwester hat sich in der Folge die Haare abgeschnitten, damit ihr dies nicht wieder passieren konnte. Mein großer Bruder, E., weiß allerdings nichts von diesem Vorfall, weil er viele Jahre keinen Kontakt zu dieser Schwester hatte, weil diese in unserer Familie etwas mehr als 15 Jahre nicht geduldet war, weil sie ohne Zustimmung der Eltern einen Mann geheiratet hatte. Meine Schwester ging aber mit mir nach Griechenland, weshalb A. glaubte, sie hätte mich zur Ausreise überredet.

 

VL: Wer hat die Ehevereinbarung zwischen Ihnen und Ihrer Frau abgeschlossen?

 

Z: Es war mein Schwager, mein Bruder E. war es jedenfalls nicht. E. war aber bei der Verehelichungszeremonie Federführend. Er war ja der große Bruder.

 

VL: Wieso war das nicht Ihr Vater?

 

Z: Bei uns wurde in der ersten Linie mein großer Bruder zu allen Dingen befragt, dies war eine Entscheidung meines Vaters, welcher die generelle Verantwortung in familiären Dingen auf meinen Bruder übertragen hatte.

 

Der BW2: R.E., geb. 00.00.1956, StA.: Albanien

 

weist sich aus durch die vorläufige AB, vom 00.00.2002

 

.....gibt nach Belehrung gemäß § 49 iVm § 51 AVG (die Aussage darf verweigert werden, wenn die Beantwortung der Fragen für bestimmte nahe stehende Personen Schande oder die Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung bewirken würde; über Fragen, die der Befragte nicht beantworten könnte, ohne eine staatlich anerkannte Verschwiegenheitspflicht, von deren Einhaltung er nicht entbunden wurde, zu verletzen oder ein Kunst-, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis zu offenbaren; über Fragen, wie er sein - dem Gesetz nach geheimes - Stimm- oder Wahlrecht ausgeübt hat (§ 49 AVG)

 

vernommen an:

 

VL: Wann und wo wurden Sie geboren?

 

BW2: Ich wurde am 00.00.1956 in B. in der Gemeinde D..

 

VL: Erzählen Sie mir kurz die Gründe, warum Sie Albanien verlassen haben?

 

BW2: Ich bin mit meiner kompletten Familie nur wegen der Blutrache geflüchtet.

 

VL: Was war der Grund für die Blutrache?

 

BW2: Mein Bruder war mit einer Frau verheiratet. Mein Bruder musste aufgrund der damaligen Umstände Albanien verlassen. Ursprünglich waren es wirtschaftliche Gründe, in der Folge entwickelte sich aber das Problem der Blutrache. Nachdem mein Bruder nach Österreich gekommen ist, wollte er seine Frau zu sich holen. Die Eltern seiner Frau bzw. ihre Familie, ihre Brüder waren dagegen und gaben ihre Zustimmung nicht. Es war zu einer Zeit, als viele Leute nur deshalb geheiratet haben, um die Frauen dann im Ausland als Prostituierte zu verkaufen. Sie haben nicht zugestimmt. Ich habe garantiert, dass mein Bruder so eine Sache nicht machen wird, wir sind nicht so eine Familie. Nach einer Zeit lang, hat mein Bruder mit der Familie seiner Frau gesprochen gehabt, damals war mein Bruder in Österreich untergebracht. Er wurde aufgefordert, nach Albanien zurückzukehren, da er dies nicht wollte, wurde er bedroht. Mein Bruder wollte nicht zurückkehren, deshalb wurde er mit dem Umbringen bedroht und auch mit dem Umbringen seiner Familie. Zu diesem Zeitpunkt war die Frau meines Bruders noch immer bei unserem Vater wohnhaft. Danach wurde auch ich bedroht, von den Brüdern meiner Schwägerin.

 

VL: Wie äußerten sich diese Bedrohungen konkret?

 

BW2: Sie sind zu mir nach Hause gekommen. Ich wohnte in einem Wohnhaus. Im selben Stock gab es insgesamt drei Parteien, es war ein vierstöckiges Haus. Es wurde mir gesagt, dass entweder mein Bruder oder ich umgebracht werden. Laut Kanun von Leke Dukaqjini war ihre Ehre verletzt. Laut Kanun gibt es nur drei Gründe, wann eine Frau verlassen werden kann. Jedenfalls waren sie beleidigt. Sie sind zu mir nach Hause gekommen und wollten die Wohnung mit Dynamit sprengen, aber der Nachbar ist rein zufällig hinausgegangen, hat sie gesehen und zur Rede gestellt. Zwei Brüder meiner Schwägerin waren da. Zum Glück waren ich und meine Familie nicht zu Hause.

 

VL: Wie haben die beiden Brüder geheißen?

 

BW2: A.O. und der andere S.O.. A. war zu diesem Zeitpunkt bereits Polizist. Der Nachbar, der die Wohnung in der Mitte hatte, hat im Innenministerium in Zivil gearbeitet. Jedenfalls ist nicht dieser Nachbar hinausgegangen, sondern der andere. Aus Angst, dass auch der andere Nachbar hinauskommt, sind sie davongelaufen. Ich habe danach mit meinem Bruder telefoniert und auch er erzählte mir, dass er mit dem Umbringen bedroht wurde. Ich war gezwungen, mein Haus zu verkaufen und nach P. zu ziehen. Meine Familie stammt als P. und ich hatte dort Bekannte.

 

VL: Warum wurden Sie in P. nicht gefunden? Warum ist Ihnen in der Zeit von 1991 bis 1996 nicht passiert?

 

BW2: Doch, sie sind gekommen und haben versucht, mich umzubringen. Ich war immer mit vielen Leuten zusammen. Ich war in einem Supermarkt. Er wollte mich umbringen, aber es gab viele Leute rund um mich und hätte er in meine Richtung geschossen, hätte er auch andere Leute umbringen können. Er sagte, dass er mich überall finden wird, sowohl mich, als auch meine Leute, sogar, wenn ich im Himmel bin. Ich war dann gezwungen zu flüchten. Ich habe den ältesten Sohn mitgenommen, weil er der älteste war (BW2 zweigt auf dem im Raum befindlichen BW1). Ich war mir sicher, dass sie den anderen Kindern nichts antun werden. Laut Kanun werden Kinder nicht umgebracht.

 

VL: Sie waren damals das Familienoberhaupt, ist das zutreffend?

 

BW2: Ja, ich war es, weil ich der älteste war.

 

VL: Warum haben Sie Ihren Bruder nicht gesagt, dass er gefälligst heimkommen soll und die Sache wäre vom Tisch?

 

BW2: Mein Bruder wollte, dass seine Frau zu ihm kommt, aber er wollte nicht zurück.

 

VL: Gab es Streit zwischen Ihnen und Ihrem Bruder?

 

BW2: Nein, er war der Jüngste, er hat da nicht mit mir zu streiten gehabt. Bei uns ist die Tradition so, der erste ist der Vater, der zweite der große Bruder und der Jüngste hat nichts zu sagen.

 

VL: Dann hätte er doch auf Sie hören müssen?

 

BW2: Bei uns gab es die kommunistische Diktatur. Wir sind sehr aufeinander eingegangen, wir haben viel mehr zusammen gehalten. Nachdem Fall des Kommunismus und mit der Demokratie im Jahr 1990/1991 gab es keinen Respekt mehr, es gab nur mehr die Freiheit. Gemäß kommunistischer Diktatur wurde man zu 25 Jahren Haft verurteilt, wenn man dabei erwischt wurde, das Land zu verlassen. Mein Bruder musste damals alles tun, was von uns befohlen wurde und auch wenn er etwas richtig gemacht hat und wir ihm gesagt haben, dass es nicht richtig ist, musste er Folge leisten. Wir haben alle unsere Entscheidungen nachdem Kanun getroffen, was richtig war, was nicht richtig war. Das hieß, den älteren zu respektieren und seine Befehle zu Folgen, auch wenn dieser nicht recht hatte, aber mein Bruder verließ das Land, erfuhr was Demokratie und Freiheit ist und dass die Befehle seines Bruders und seines Vaters nicht mehr gelten und sagte, dass er nicht mehr zurückkehrt und wollte, dass seine Frau zu ihm kommt. Auch in Österreich wurden wir telefonisch bedroht. Mein Sohn hat sich diesbezüglich bei der Polizei beschwert. Ich konnte nicht Deutsch, deshalb ist mein Sohn zur Polizei gegangen. Eine Zeit lang später, nach vielen telefonischen Bedrohungen wurde mein Sohn in Traiskirchen fast zu Tode geschlagen und der Täter wurde bis jetzt nicht ausgeforscht.

 

Die im Akt aufliegenden folgenden Länderberichte und Gutachten werden erörtert.

 

Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Albanien, Stand Jänner 2007, Berlin, Seite 9

 

Gutachten Mag. G.M. vom 6. November 2001

 

Medica Mondiale, Seite 6-9, 14, Menschenrechte in Albanien unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Frauen, Juni 2004

 

Home Office: Operational Guidance Note Albania

 

Das Strafrecht im "Kanun von Leke Dukagjini - Das albanische Gewohnheitsrecht - von Kan. lic. iura. Zef Ahmeti, Univ. St. Gallen, Schweiz

 

Stellungnahme des BW1: Keine Stellungnahme.

 

Stellungnahme des BW2: Keine Stellungnahme.

 

Die BWV beantragt eine Frist von zwei Wochen für die Abgab einer schriftlichen Stellungnahme.

 

Der VL gibt den Parteien des Verfahrens Gelegenheit, sich zu den bisherigen Ergebnissen des Beweisverfahrens zu äußern.

 

Die Beweisaufnahme wird geschlossen."

 

Folgende Feststellungen werden auf Grundlage des erstinstanzlichen Verfahrens sowie auf Grundlage der Ergebnisse der am 23.05.2008 durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

 

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Albanien und führt den im Spruch angeführten Namen.

 

Der Beschwerdeführer verließ seinen Herkunftsstaat Albanien wegen ihm drohender Blutrache, ausgelöst durch seinen Onkel. In diesem Zusammenhang wird das oben wiedergegebene Vorbringen des Beschwerdeführers zum Inhalt der Feststellungen erhoben und der gegenständlichen Entscheidung zu Grunde gelegt. Im Falle einer Rückkehr nach Albanien kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführer einer realen Bedrohung maßgeblicher Intensität durch Angehörige der Familie der ehemaligen Ehegattin seines Onkels ausgesetzt wäre.

 

Zur Problematik der Blutrache in Albanien werden folgende Feststellungen getroffen:

 

Die schwierige Transformation, die Albanien nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft durchlaufen hat, hat zu einem Wiederaufleben der archaischen Tradition der Blutrache geführt. Sie stellte eine Form der Selbstjustiz dar und basiert auf Regelungen des traditionellen albanischen Gewohnheitsrechtes. Insbesondere in den ländlichen Gebieten Albaniens, in denen der Staat faktisch nicht präsent war, hat sie bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts die staatliche Rechtsordnung ersetzt. Obwohl die Fälle, in denen Blutrache angewandt werden kann, vom traditionellen albanischen Gewohnheitsrecht eng umgrenzt werden, ist seit den 1990er Jahren eine Verwischung von traditionellen Wertvorstellungen und kriminellen oder politischen Motivationen festzustellen. Die sozialen Folgen dieses Phänomens sind für die Betroffenen beträchtlich. Betroffene Familien isolieren sich, die Männer können keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Kinder, insbesondere Söhne, haben häufig keine Möglichkeit zu einer Schulausbildung. das Ministerium für Arbeit, soziale Sicherheit und Chancengleichheit geht davon aus, dass in Nordalbanien zirka 2000 Familien in Selbstisolation leben. Der albanische Staat lehnt die Blutrache ab, bekämpft sie und kann Schutz vor ihr gewähren, auf Grund seiner begrenzten Kapazitäten und der langsamen und korruptionsanfälligen Justiz jedoch nur mit eingeschränktem Erfolg. Es gibt einige Nichtregierungsorganisationen, die sich um die Schlichtung von Blutrachefehden bemühen.

 

Für potenzielle Blutrache Opfer bzw. Individuen, die von Gruppen des organisierten Verbrechens bedroht werden, sind die inländischen Fluchtalternativen begrenzt. Zwar bieten die Hauptstadt Tirana und andere urbane Zentren eine gewissen Anonymität, die wegen der geringen Größe des Landes und seiner Bevölkerung jedoch jederzeit auffliegen kann. Dies ist der maßgebliche Grund dafür, weshalb auch Zeugenschutzprogramme der albanischen Regierung bisher nur begrenzt erfolgreich gewesen sind. Bei hartnäckiger Verfolgung bieten weder die Flucht an einen anderen Ort im Inland noch die Reise ins Ausland einen völligen Schutz (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Albanien, Jänner 2007).

 

Zentraler Bestandteil der Kanun-Moral ist das Konzept der Ehre, das neben der Verantwortung für die Verteidigung und Bewahrung der Integrität der eigenen Familie auch den Schutz und die Solidarität mit den nichtverwandtschaftlichen, inkorporierten Gruppenmitglieder umfasst, die "Freunde" genannt werden. Der albanische Sprachgebrauch kennt einen einzigen Begriff, der alle Elemente dieser speziellen, institutionalisierten, nichtverwandtschaftlichen Solidarität umfasst: besa (Ehrenwort). Der Bruch der besa gilt laut der Kanun-Moral als denkbar schwerste Ehrverletzung, die die Blutrache fordert. In diesem Sinne können eventuell auch eine Scheidung - wenn die betroffenen Familien wirklich aus einem derart traditionellen sozialen Milieu stammen - als mutwilliger Bruch eines Ehevertrages und in der Folge als Bruch der besa betrachtet werden und dadurch die Rache des vermeintlich Geschädigten auslösen. Allerdings nicht jede Scheidung führt zu einem derartigen Verhalten (Mag. G.M., Gutachten an den Unabhängigen Bundesasylsenat vom 06.11.2001).

 

Diese Feststellungen und Einschätzungen werden durch sämtliche, im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat am 23.05.2008 erörterte und im Rahmen des oben wiedergegeben Verhandlungsprotokolls zitierte Länderberichte und Gutachten bestätigt. Seitens der Parteien des Verwaltungsverfahrens wurden gegen deren Inhalt keine Einwände erhoben.

 

Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers und zu seinen Fluchtgründen beruhen auf dessen Angaben im erstinstanzlic

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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