A5 319.415-1/2008/4E
Erkenntnis
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. SCHREFLER-KÖNIG als Vorsitzende und die Richterin Mag. UNTERER als Beisitzerin im Beisein der Schriftführerin Frau Biondo über die Beschwerde des E.I., geb. 00.00.1989, StA. NIGERIA, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.04.2008, FZ. 07 03.779-BAE, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
In Erledigung der Beschwerde von E.I. vom 16.05.2008 wird der bekämpfte Bescheid des Bundesasylamtes behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs. 2 AVG, BGBl. Nr. 51/1991, zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Entscheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
I. Verfahrensgang
I.1. Der Beschwerdeführer gibt an, den im Spruch bezeichneten Namen zu tragen und Staatsangehöriger von Nigeria zu sein. Er brachte am 19.04.2007 einen Antrag auf internationalen Schutz ein und wurde am selben Tag durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie am 26.04.2007, am 08.11.2007 und am 17.04.2008 durch einen Organwalter des Bundesasylamtes ausführlicher zu seinen Fluchtgründen niederschriftlich befragt. Dabei führte er regelmäßig und ausschließlich aus, er sei von den Mitgliedern einer unter anderem an der Universität B. agierenden studentischen Geheimgesellschaft, namens "A.", verfolgt worden, da er sich geweigert habe, dieser Gesellschaft beizutreten. Sein Vater und auch seine Mutter seien bereits von der Studentenverbindung getötet worden.
I.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.04.2008, Zahl 07 03.779-BAE, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Asylwerbers gemäß § 3 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchteil I) und ihm gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria nicht zuerkannt (Spruchteil II). Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG wurde der Asylwerber aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen (Spruchteil III). In der Beweiswürdigung wurde das Fluchtvorbringen und die behauptete Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Geheimgesellschaft "A." kursorisch wiedergegeben und auf Grund seiner widersprüchlichen und unplausiblen Darstellung der fluchtauslösenden Vorfälle als unglaubwürdig gewertet. Feststellungen über die Situation in Nigeria wurden vom Bundesasylamt bezüglich der allgemeinen politischen Lage, der Innenpolitik, der Rückkehrfragen, der medizinischen Versorgung und des Meldewesens getroffen. Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 02.05.2008 rechtswirksam zugestellt.
I.3. Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer durch seinen rechtsfreundlichen Vertreter am 16.05.2008 fristgerecht Beschwerde. Die dazu ergangene Beschwerdeergänzung langte am 13.06.2008 beim Asylgerichtshof ein. Darin wird unter anderem auf die mangelnden Länderfeststellungen hingewiesen, die sich nicht mit dem konkreten Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers befassen würden und daher als Begründung für eine Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz unzureichend wären.
II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
II.1. Gemäß § 28 Abs. 1 Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz nimmt der Asylgerichtshof mit 01.07.2008 seine Tätigkeit auf. Das Bundesgesetz über den Unabhängigen Bundesasylsenat (UBASG), BGBl. I Nr. 77/1997, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 100/2005, tritt mit 01.07.2008 außer Kraft.
II.1.2. Gemäß § 23 AsylGHG sind auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof, sofern sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005, BGBl. Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG) mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.
II.1.3. Gemäß § 9 leg.cit. entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, sofern bundesgesetzlich nicht die Entscheidung durch Einzelrichter oder verstärkte Senate (Kammersenate) vorgesehen ist.
II.1.4. Gemäß § 61 Abs. 1 AsylG entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes und über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht des Bundesasylamtes. Gemäß Abs. 3 entscheidet der Asylgerichtshof durch Einzelrichter über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide wegen Drittstaatssicherheit gemäß § 4, wegen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 5 und wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG sowie über die mit diesen Entscheidungen verbundene Ausweisung.
II. 1.5. Gemäß § 75 Abs. 7 AsylG 2005 sind am 1.7.2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren vom Asylgerichtshof nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen weiterzuführen:
Mitglieder des Unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.
Verfahren gegen abweisende Bescheide, in denen eine mündliche Verhandlung noch nicht stattgefunden hat, sind von dem nach der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes zuständigen Senat weiterzuführen.
Verfahren gegen abweisende Bescheide, die von nicht zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannten Mitgliedern des Unabhängigen Bundesasylsenates geführt wurden, sind nach Maßgabe der ersten Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes vom zuständigen Senat weiterzuführen.
II.1.6. Gemäß § 66 Abs. 2 AVG kann die Berufungsbehörde, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen. Gemäß Abs. 3 leg. cit. kann die Berufungsbehörde jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist.
Auch der Asylgerichtshof ist zur Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG berechtigt. Eine kassatorische Entscheidung darf von der Berufungsbehörde nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint. Die Berufungsbehörde hat dabei zunächst in rechtlicher Gebundenheit zu beurteilen, ob angesichts der Ergänzungsbedürftigkeit des ihr vorliegenden Sachverhaltes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als "unvermeidlich erscheint". Für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG ist es aber unerheblich, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine Vernehmung erforderlich ist (vgl. etwa VwGH 14.3.2001, 2000/08/0200; zum Begriff "mündliche Verhandlung" im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG siehe VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084).
II.1.7. Im vorliegenden Fall liegt nach Ansicht des Asylgerichtshofes eine Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens vor, weil es die Behörde offensichtlich unterlassen hat, sich erkennbar mit der konkreten - möglichen - Situation des Berufungswerbers auseinanderzusetzen. So enthält der angefochtene Bescheid zwar Feststellungen betreffend das politische System sowie die Innenpolitik Nigerias, es fehlt jedoch gänzlich jeglicher Bezug zu dem individuellen Vorbringen des Berufungswerbers. Es finden sich weder allgemeine Feststellungen zu den in Nigeria unzweifelhaft existierenden Kulten und Geheimgesellschaften, noch spezielle Feststellungen zu der Geheimgesellschaft "A.". Die Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid berücksichtigen ferner nicht wichtige, im gegenständlichen Fall relevante Elemente, wie das Rechts- bzw. das Rechtschutzsystem in Nigeria, die (In-)Effizienz der nigerianischen Sicherheitsbehörden, gegen diese - zumeist verbotenen - Gesellschaften und Verbindungen vorzugehen, oder die mögliche Problematik eines Zwangsbeitritts in eine solche Geheimgesellschaft.
Zur Abgrenzung eines konkreten, von einem Asylwerber getätigten Fluchtvorbringens, ist zur allgemeinen Situation im Herkunftsstaat eine - je nach Fall unterschiedlich detaillierte - Ermittlung der individuellen Sachlage des Asylwerbers notwendig, um eine abschließende Beurteilung für eine darauf ergehende Entscheidung im Asylverfahren zu erlangen.
Es wird somit als nicht ausreichend angesehen, das Ermittlungsverfahren ausschließlich auf die Glaubwürdigkeit des Asylwerbers im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahmen zu reduzieren. Vielmehr ist die zuständige Behörde daran gehalten, den entscheidungsrelevanten Sachverhalt sowie die gebotenen und zumutbaren Ermittlungen innerhalb der Grenzen des ihr Möglichen von Amts wegen durchzuführen. Die Amtswegigkeit gilt insbesondere für das Beweisverfahren (Vgl. Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Auflage aus 2006, S. 147).
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs die Feststellungen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat dem Berufungswerber vorzuhalten sind, und diesem auch die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen ist; zumal die Länderfeststellungen Bestandteil des zu ermittelnden Sachverhalts sind.
II.1.8. Da der Beschwerdeführer in gegenständlichem Fall ausschließlich eine Verfolgung der Geheimgesellschaft "A." geltend macht und keinen weiteren Grund für seine Flucht aus Nigeria angibt, hätte das Bundesasylamt diesbezüglich relevante Feststellungen erheben, sowie die entsprechenden Ermittlungsschritte in das Verfahren einfließen lassen müssen. Wie sich aus der Beschwerdeschrift zeigt, gibt es zahlreiche, allgemein zugängliche Dokumente, die sich im Speziellen mit Geheimgesellschaften, insbesondere der "A.", befassen, so dass ein erschwerter und mit unverhältnismäßig hohem Aufwand verbundener Zugriff auf diese Berichte, welcher mit dem oben unter II.1.7. zitierten Zumutbarkeitskalkül unvereinbar gewesen wäre, auszuschließen war.
II.1.9. Das erstinstanzliche Verfahren erweist sich daher insgesamt als mangelhaft, so dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, wobei es für die Frage der Unvermeidlichkeit einer mündlichen Verhandlung im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG unerheblich ist, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder nur eine bloße Einvernahme erfolgt (VwGH 21.11.2002, 2000/20/0084 mwN; 21.11.2002, 2002/20/0315; VwGH 11.12.2003, 2003/07/0079).
Im Rahmen einer solchen Verhandlung bzw. Einvernahme wäre zur vollständigen Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes auch die Erörterung der Ermittlungsergebnisse mit dem Berufungswerber notwendig, um diesem auch das in § 43 Abs. 4 AVG verbürgte Recht zur Stellungnahme zu gewährleisten.
II.1.10. Von der durch § 66 Abs. 3 AVG eingeräumten Möglichkeit, die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme selbst durchzuführen, wenn "hiermit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist", war im vorliegenden Fall schon deshalb nicht Gebrauch zu machen, weil das Verfahren vor dem Asylgerichtshof - anders als das erstinstanzliche Asylverfahren - sich als Mehrparteienverfahren darstellt (vgl. § 67b Z 1 AVG), sodass schon aufgrund der dadurch bedingten Erhöhung des administrativ-manipulativen Aufwandes bei Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung, dies unter Berücksichtigung der §§ 51a bis d AVG und der Notwendigkeit der Ladung mehrerer Parteien, keine Kostenersparnis zu erzielen wäre. Hinzu kommt, dass die Vernehmung vor dem Bundesasylamt dezentral durch die Außenstellen in den Bundesländern erfolgt, während der Asylgerichtshof als zentrale Bundesbehörde in Wien (mit einer Außenstelle in Linz) eingerichtet ist, sodass auch diesbezüglich eine Kostenersparnis nicht ersichtlich ist. Im Übrigen liegt eine rechtswidrige Ausübung des Ermessens durch eine auf § 66 Abs. 2 AVG gestützte Entscheidung schon dann nicht vor, wenn die beteiligten Behörden ihren Sitz am selben Ort haben (VwGH 21.11.2002, Zl. 2000/20/0084, unter Verweis auf VwGH 29.01.1987, Zl. 86/08/0243).
II.1.11. Ausgehend von diesen Überlegungen war im vorliegenden Fall dem diesbezüglichen Antrag in der Beschwerde Rechnung zu tragen und das dem Asylgerichtshof gemäß § 66 Abs. 2 und 3 AVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung zu üben. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass im Fall eines gemäß § 66 Abs. 2 AVG ergangenen aufhebenden Bescheides die Verwaltungsbehörden (lediglich) an die die Aufhebung tragenden Gründe und die für die Behebung maßgebliche Rechtsansicht gebunden sind (vgl. z.B. VwGH 22.12.2005, Zl. 2004/07/0010, VwGH 08.07.2004, Zl. 2003/07/0141); durch eine Zurückverweisung nach § 66 Abs. 2 AVG tritt das Verfahren aber in die Lage zurück, in der es sich vor Erlassung des aufgehobenen Bescheides befand (VwGH 22.05.1984, Zl. 84/07/0012), sodass das Bundesasylamt das im Rahmen des Beschwerdeverfahrens erstattete weitere Parteivorbringen zu berücksichtigen und gemäß § 18 Abs. 1 AsylG gegebenenfalls darauf hinzuwirken haben wird, dass dieses ergänzt bzw. vervollständigt wird.