TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/28 E2 312775-1/2008

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Veröffentlicht am 28.07.2008
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Spruch

E2 312.775-1/2008-11E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. HUBER-HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde des U.M., geb. 00.001982, StA. Russische Förderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.05.2007, FZ. 06 08.899-BAG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 11.03.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 stattgegeben und der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass U.M. kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

 

1. Die Beschwerdeführer (im Folgenden: BF1 U.M., BF2 U.Z. und BF3 U.N.) stellten nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet von Österreich am 25.08.2006 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Verfahren gegen die BW wurden aufgrund des familiären Zusammenhangs verbunden und unter einem geführt.

 

2. Das Bundesasylamt wies mit Bescheide vom 25.05.2007, Zahlen: 06 08.899-BAG (U.M.), 06 08.900-BAG (U.Z.) und 06 08.901-BAG (U.N.) den jeweiligen Antrag auf internationalen Schutz der BF gem. § 3 Abs. 1 AsylG ab und erkannte des Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I); darüber hinaus erkannte es aber den Antragstellern gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte den Antragstellern eine befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 24.05.2008 (Spruchpunkt III.).

 

3. Gegen Spruchpunkt I der bezeichneten Bescheide, zugestellt am 29.05.2007, richten sich die fristgerecht eingebrachten Beschwerden vom 04.06.2007.

 

4. Der Asylgerichtshof - zum gegebenen Zeitpunkt noch als Unabhängiger Bundesasylsenat - führte in der Sache der BF am 11.03.2008 (OZ 9Z) eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher die BF; sowie deren gewillkürter Vertreter Dr. Gerhard MORY und ein Dolmetscher für die russische Sprache teilnahmen. Ein geladener Vertreter des Bundesasylamtes ist zur öffentlichen mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht erschienen.

 

II. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens:

 

1. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wurde Beweis erhoben durch:

 

Einsicht in die dem Asylgerichtshof vorliegenden Verwaltungsakten;

 

Einvernahme der BF1 und BF2 im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung;

 

Einsichtnahme in folgende Länderdokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat und die Herkunftsregion der BF sowie deren Erörterung in der mündlichen Verhandlung:

 

Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe von K.A. zum Thema "Nordkaukasus - Entwicklungen in Tschetschenien sowie in Dagestan, Kabardino-Balkarien, Inguschetien und Nordossetien", Jänner 2007

 

APA- Bericht vom 18.09.2007

 

Erkenntnisse des Bundesasylamtes für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration zur Russischen Förderation - Tschetschenienkonflikt - Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion - Oktober 2007

 

Bericht des auswärtigen Amtes Berlin vom 13.01.2008 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Förderation mit Stand Dezember 2007

 

Zugriff auf die Homepage von "Dagestannews" am 10.03.2008, Keywords vom 07.03.2007 bis 02.03.2008 (Auflistung von Anschlägen und sicherheitsrelevanten Ereignissen, vor allem in Dagestan)

 

III. Der Asylgerichtshof geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem Sachverhalt aus:

 

2.1. Zur Person der BF:

 

Die BF (Eltern mit minderjährigem Sohn) sind Staatsangehörige der Russischen Förderation, zur Volksgruppe der Tschetschenen zugehörig und stammen aus der unmittelbar an Tschetschenien angrenzenden russischen Teilrepublik Dagestan. Die BF 1 und 2 haben am 00.00.2004 geheiratet und lebten seither bis zu ihrer Ausreise in einer gemeinsamen Wohnung in der Nähe von K., im Heimatdorf des BF1, O., ca. 15 Kilometer von K. entfernt. Im Juni 2006 haben sie, ohne im Besitz von Reisedokumenten zu sein, Dagestan gemeinsam verlassen und sind nach Österreich gereist, wo sie am 24.08.2006 illegal einreisten und den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

 

Die BF konnten mehrere Krankenhausaufenthalte in Dagestan dokumentieren. So befand sich die BF 2 vom 00.00. bis 00.00.2004 auf einer gynäkologischen Station eines Krankenhauses in stationärer Behandlung, vom 00.00.2004 bis 00.00.2005 beim Familienplanungszentrum in K. in ambulanter Behandlung und vom 00. bis 00.00.2005 auf eine neurologischen Station (Diagnose: Schädelhirntrauma) in stationärer Behandlung. Der BF 1 befand sich am 00.00.2005 in einem Krankenhaus in K. und vom 00.00. bis 00.00.2006 wegen einer Nierenerkrankung ebenfalls in einem Krankenhaus in K..

 

Während ihres Aufenthaltes in Österreich hatte die BF 2 mehrere ärztliche Untersuchungen und Behandlungen wie aus folgenden Unterlagen hervorgeht:

 

Arztbrief über stationären Aufenthalt im Landesklinikum B. vom 00.00.2006 bis 00.00.2006 mit der Diagnose: Dissoziativer Stupor, Anpassungsstörung (ängstlich depressive Reaktion), hochgradiger V.(erdacht) a.(uf) PTSD, Cervikalsyndrom mit Cephalea, Zustand nach Schädelhirntrauma durch Misshandlung (Beilage 1 zur Verhandlungsschrift OZ 9Z);

 

CT des Gehirnschädels im Landesklinikum B. am 00.00.2006 mit unauffälligem Ergebnis (Beilage 2 zur Verhandlungsschrift OZ 9Z);

 

stationärer Aufenthalt vom 00.00.2007 bis 00.00.2007 im Allgemeinen Krankenhaus V., geburtshilfliche Abteilung, mit der Diagnose:

Cephalea (mutmaßlich analgetika-induzierter Kopfschmerz) bzw. Migräne mit Aura, Schwangerschaft (III, SSW 19/5), anamnestisch:

Zustand für körperliche Misshandlung vor einigen Jahren (Beilage 3 zur Verhandlungsschrift OZ 9Z);

 

Fachärztlicher Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Dr. G.F. nach Untersuchung am 15.02.2007 mit der Diagnose: Depressive Angststörung F43.21 (Beilage 4 zur Verhandlungsschrift OZ 9Z)

 

Fachärztlicher Befundbericht der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Dr. G.F. nach Untersuchung am 22.05.2007 mit der Diagnose: Depressive Angststörung F43.21 (Beilage 5 zur Verhandlungsschrift OZ 9Z)

 

2.2. Zum Asylvorbringen der BF:

 

Bereits einige Wochen nach der Eheschließung hat eine erste Hausdurchsuchung in der Wohnung der BF stattgefunden. Die dagestanischen "OMON"-Leute hatten dem BF 1 zur Last gelegt, einen Tag zuvor Widerstandskämpfern geholfen zu haben, indem er seinen Schwager mit einem Freund bei sich übernachten ließ. Im August 2004 ist der BF 1 von "Kadyrov"-Leuten festgenommen und ihm von diesen unterstellt worden, dass er an Kriegshandlungen teilgenommen hätte. Bei dieser Festnahme hat man den BF 1 schwer misshandelt und danach verletzt in das Krankenhaus gebracht. Zum Zeitpunkt der Festnahme des BF 1 war die BF 2 schwanger. Da bei der Festnahme des BF 1 auch die BF2 von den Sicherheitsorganen durch Schläge mit einem Gewehr schwer misshandelt wurde, hat diese ein Monat später eine "Fehlgeburt" erlitten. Das Kind sei im Mutterleib abgestorben.

 

In der Folge sind die BF noch mehrmals von Sicherheitskräften der Russischen Förderation, aber auch von dagestanisch- tschetschnischen Sicherheitskräften bzw. gemischten Sicherheitskräften zu Hause aufgesucht, misshandelt und der BF1 außerdem noch einmal festgenommen worden. Bei den Anhaltungen wurde er von den Sicherheitsorganen geschlagen und verletzt. Der Schwager des BF 1 (Ehemann seiner Schwester), welcher von den BF als Grund für das Einsetzen von Verfolgungshandlungen bezeichnet wird, habe im ersten Tschetschenien-Krieg als Widerstandskämpfer teilgenommen. Dessen Freund werde die Beteiligung an einem Sprengstoffanschlag anlässlich einer Militärparade zur Last gelegt. Da der BF 1 die beiden in seiner Wohnung übernachten ließ, wird er der Unterstützung von Widerstandskämpfern verdächtigt.

 

Das Vorbringen ist - wie in der Beweiswürdigung noch näher darzustellen sein wird - glaubwürdig. Folglich ist die Feststellung zu treffen, dass die BF ihr Heimatland aus Gründen verlassen haben, die in der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tschetschenen bzw. in einer ihnen unterstellten politischen Gesinnung - nämlich der Unterstützung des tschetschenischen Widerstandes gegen die Zentralmacht der russischen Föderation - liegen.

 

2.3. Zur Lage in der Russischen Föderation im Allgemeinen bzw. in Dagestan im Besonderen werden die o. a. Länderberichte herangezogen und der Entscheidung als Feststellungen zu Grunde gelegt, wobei sich folgendes ergibt:

 

Die Sicherheitslage in Dagestan ist derzeit schlechter als jene in Tschetschenien. Der Konflikt zwischen den ursprünglichen Streitparteien (Russische Föderation vs. Unabhängigkeitsbestrebungen des tschetschenischen Volkes in der Teilrepublik Tschetschenien) hat sich über die Grenzen von Tschetschenien hinaus auf die angrenzenden Teilrepubliken, wie etwa Inguschetien, Kabardino-Balkarien und vor allem auch Dagestan ausgeweitet. In Dagestan muss von separatistischen Bestrebungen und Aktivitäten insbesondere aber auch von einer allgemein instabilen Sicherheitslage gesprochen werden, von der einerseits die Rechtsorgane der Republik stark betroffen sind, da von verschiedensten Untergrundgruppierungen, teilweise auch mit religiösem ("wahabitischem") Hintergrund zahlreiche Anschläge gegen sie verübt werden. Andererseits wird aber aufgrund der Reaktionen der Sicherheitsorgane auf die Anschläge auch die Zivilbevölkerung sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Es kommt seitens der Sicherheitsorgane zu umfangreichen Menschenrechtsverletzungen und wahrscheinlich auch kriminellen Straftaten, die mangels geeigneter Strukturen und fehlenden Willens der Regierung wohl kaum zu einer Aufklärung geschweige denn zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt dazu in dem oben zitierten Bericht aus:

"Dagestan ist die Kaukasusrepublik mit den meisten interethnischen Konflikten. Dazu kommen gravierende soziale und ökonomische Probleme. Die Arbeitslosigkeit beispielsweise liegt bei über 30 Prozent. Die Ausbreitung der bewaffneten Auseinandersetzungen über die tschetschenischen Grenzen hinaus hat - was vor diesem Hintergrund verständlich ist - vor allem in Richtung Dagestan statt gefunden. Mittlerweile weist Dagestan mehr Gewaltakte auf als Tschetschenien. Hinter den meisten Anschlägen stecken tschetschenische Separatisten, zusammen mit lokalen Handlangern. Diese sind häufig Mitglieder der so genannten Dschamaats - in sich geschlossener militanter islamischer Gemeinden, die der wahhabitischen Glaubensrichtung angehören. Diese extremistischen Organisationen sind mit dem tschetschenischen Untergrund verbunden und werden von diesem auch koordiniert. Allein 2005 wurden in Dagestan 113 Anschläge verübt, bei denen 59 Polizisten, Militärangehörige und Beamte getötet sowie 112 verwundet wurden. Außerdem starben dabei 12 Zivilpersonen; 47 weitere wurden verletzt. Grosse Teile der Bevölkerung Dagestans sind nicht nur verängstigt, sondern auch verärgert über die weit verbreitete Korruption in ihrer Republik und machen ihrem Zorn immer öfter in Demonstrationen Luft, die von den Sicherheitskräften nicht selten mit Gewalt beendet werden. Die DemonstrantInnen protestieren konkret gegen die undurchsichtige, illegale und unfaire Umverteilung des Bodens in den vergangenen Jahren sowie gegen die Unterschlagung von Steuergeldern. Der im Februar 2006 eingesetzte Präsident und ehemalige Sowjetbeamte Muchu Aliev hat zwar einen ehrenhaften Ruf, aber wenig Handhabe gegen die korrupten Beamten. In naher Zukunft werden die gewaltsamen Proteste tendenziell weiter zunehmen, stehen doch im März 2007 in Dagestan Parlamentswahlen an"

 

Aber auch andere Beobachter der Lage wie das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge oder das Auswärtige Amt in Berlin kommen zu ähnlichen Ergebnissen (siehe dazu die im Einzelnen oben angeführten und in der mündlichen Verhandlung erörterten Quellen). Der Asylgerichtshof legt diese Erkenntnisse seiner Entscheidung zu Grunde. Gegendarstellungen liegen nicht vor.

 

3. Beweiswürdigung

 

3.1. Gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt es zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304 vom 30.09.2004, (der durch § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG direkt in das AsylG übernommen wurde) wird festgelegt, dass die Mitgliedsstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten können, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Wenden die Mitgliedsstaaten diesen Grundsatz an und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese nach Abs. 5 keines Nachweises, wenn

 

der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu substantiieren;

 

alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen; und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

 

festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen nicht im Widerspruch stehen;

 

der Antragsteller internationalen Schutz zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war;

 

die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.

 

3.2. Die Feststellungen zur Person der BF ergeben sich aus deren Angaben, aus dem vom BF 1 vorgelegten nationalen Führerschein und dem von der BF 2 vorgelegten Studentenausweis sowie der Heiratsurkunde. Sonstige Personaldokumente, insbesondere Reisepässe wurden von den BF nicht vorgelegt. Internationale Reisepässe hätten sie ohnehin nie besessen und die Inlandspässe seien den BF von den russischen Soldaten im Zuge einer Hausdurchsuchung abgenommen worden.

 

3.3. Die Angaben der BF zu den fluchtauslösenden Ereignissen sind im gesamten Asylverfahren in etwa gleich geblieben und weichen nicht wesentlich von einander ab. Vor dem Hintergrund der in der Berufungsverhandlung erörterten Länder- und Medienberichte ist das Vorbringen nachvollziehbar und plausibel. Auch das Bundesasylamt hat das Vorbringen bereits im erstinstanzlichen Verfahren grundsätzlich für glaubwürdig erachtet. Gemessen an den eingangs zu Punkt 3 erwähnten Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, bestehen nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens für den Asylgerichtshof keine Gründe, die Darstellung der BF in Zweifel zu ziehen. Trotz einiger in der mündlichen Verhandlung zu Tage getretenen Widersprüche und Ungereimtheiten in den Ausführungen der BF kann das geschilderte Vorgehen der Sicherheitsorgane gegen die BF nicht von der Hand gewiesen werden. Dies äußert sich vor allem in den dokumentierten gesundheitlichen Beeinträchtigungen der BF, deren Entstehungsgeschichte sehr wahrscheinlich mit dem Einschreiten der Sicherheitsorgane in Zusammenhang steht. Ein in Dagestan durchaus mögliches, rigoroses und überschießendes Vorgehen der Sicherheitsorgane wiederum ist in den Länderberichten dokumentiert. Davon ausgehend nimmt der Unabhängige Bundesasylsenat an, dass die BF tatsächlich unter massivem Druck stehen, so dass Verwechslungen und Ungenauigkeiten bei der Wiedergabe von Daten und Erzählung von Ereignissen möglich erscheinen und deshalb nicht unbedingt auf eine bewusste Falschdarstellung zu schließen ist. Dieses Ermittlungsergebnis wird auch durch den persönlichen Eindruck, den die BF in der Berufungsverhandlung vermittelten, gestützt.

 

3.4. Die Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation bzw. in Dagestan, zur dortigen Sicherheitslage und Rückkehrsituation stützen sich auf aus der internationalen Berichterstattung allgemein bekannte Tatsachen sowie auf die zitierten aktuellen Quellen. Die Parteien des Verfahrens sind den in der mündlichen Verhandlung erörterten Feststellungen nicht entgegengetreten. Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der mit der internationalen Berichterstattung übereinstimmenden Inhalte besteht für den Asylgerichtshof kein Grund, die Richtigkeit der Länderfeststellungen in Zweifel zu ziehen.

 

IV. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter zu führen.

 

Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor dem nunmehr zuständigen Richter stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

Gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt."

 

2. Gem. § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht. Der Antrag auf internationalen Schutz ist gem. Abs. 3 leg. cit. bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

 

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

 

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

 

3. Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951, BGBL. Nr. 55/1955, iVm Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967, BGBl. Nr. 78/1974, ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und sich nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist gem. § 11 Abs. 1 AsylG der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist gem. Abs. 2 leg. cit. auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

 

4. Zentraler Aspekt des aus Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention übernommenen Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Zu fragen ist daher nicht danach, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht. Zurechnungssubjekt der Verfolgungsgefahr ist der Heimatstaat bzw. bei Staatenlosen der Staat des vorherigen gewöhnlichen Aufenthaltes. Daher muss die Verfolgungsgefahr (bzw. die wohlbegründete Furcht davor) im gesamten Gebiet des Heimatstaates des Asylwerbers bestanden haben (VwGH 9.3.1999, 98/01/0370; VwGH 14.10.1998, 98/01/262).

 

5. Im gegenständlichen Fall haben die BF ein massives Vorgehen der staatlichen Sicherheitsorgane gegen ihre Person im Zuge von Hausdurchsuchungen geltend gemacht, wobei vor dem Hintergrund der herrschenden Verhältnisse davon auszugehen ist, dass die Sicherheitsorgane bei der Durchführung ihrer Aktionen nicht im Besitz von rechtsstaatlich abgesicherten Ermächtigungen dazu waren. Bei diesen Durchsuchungen und Festnahmen des BF 1 ist es zu schweren Misshandlungen des BF 1 und der BF 2 gekommen, die Verletzungen zur Folge gehabt haben. Bei den BF handelt es sich um ethnische Tschetschenen. Die staatlichen Organe der dagestanischen Behörden sind derzeit mit sich häufenden Angriffen und Anschlägen von im Untergrund agierenden Kriminellen, Separatisten und religiös motivierten ("wahabitischen") Gruppen und Einzelpersonen konfrontiert. Wie den einschlägigen Berichten zu entnehmen ist, reagieren sie darauf mit rigorosen und oftmals sehr unangemessenen Maßnahmen, wobei es vielfach zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Von diesen sehr oft im großen Stil durchgeführten Maßnahmen ("Säuberungsaktionen") wird insbesondere auch die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen; d.h. die Sicherheitsorgane führen verstärkt repressive Maßnahmen (Festnahmen, Durchsuchungen, Befragungen etc.) gegen Bevölkerungsteile durch, von denen sie annehmen, dass diese in einer besonderen Nähe zu den oben angeführten Gruppierungen stehen. Es ist durchaus vorstellbar, dass in dieser angespannten Lage schon geringste Anlässe - wie z.B. die Beherbergung von ortsfremden Personen in der eigenen Wohnung - im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe wie jene der Tschetschenen, die im gesamten nordkaukasischen Raum vorwiegend für separatistische Bestrebungen verantwortlich gemacht werden - Kriterien darstellen können, die derartige Maßnahmen der behördlichen Organe auslösen. Im konkreten Fall ist es daher nachvollziehbar, dass dem BF 1 eine Nähe zu separatistischen Gruppierungen unterstellt wird, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob jene Personen, denen die BF für eine Nacht Unterkunft gegeben haben, tatsächlich Widerstandskämpfer bzw. Verdächtige eines Sprengstoffanschlages waren. Es ist naheliegend, dass dabei allein schon die Volksgruppenzugehörigkeit der BF eine Rolle gespielt hat und so gesehen eine Grundlage (wenn auch nicht die einzige) für das Vorgehen gegen die BF bildete. Dafür spricht auch, dass die BF mehrmals und immer wieder von Sicherheitsorganen aufgesucht wurden, ohne konkrete Anhaltspunkte für einen Zusammenhang mit sicherheitsrelevanten Ereignissen gegen die BF zu haben, die über die bloße Volksgruppenzugehörigkeit hinausgehen. Im vorliegenden Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass allein daraus eine vermeintliche Kollaboration mit dem Widerstand angenommen wurde. Für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgung aus Gründen der politischen Gesinnung reicht es aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwaren ist (VwGH 20.09.1997, 96/01/0871,; 12.09.2002, 2001/20/0310).

 

Dem Bundesasylamt ist zwar Recht zu geben, wenn es die Ansicht vertritt, dass eine Bürgerkriegssituation alleine, von der alle Bevölkerungsteile gleichermaßen betroffen sind, die Kriterien für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfüllt. Folgt man den Länderberichten, ist speziell in einigen Regionen Dagestans, die durch ihre räumliche Nähe zu Tschetschenien - wie der Wohnort der BF - gekennzeichnet sind, von bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen auszugehen. Der Annahme aber, dass alle Bevölkerungsteile gleichermaßen von der Unbill des bürgerkriegsähnlichen Zustandes betroffen sind, steht schon die allgemeine Lage in Dagestan entgegen, wo von den staatlichen Organen nicht nur verbrecherische sondern auch religiös-separatistische Tendenzen - somit Kriminalität - bekämpft werden. Aufgrund des in der Region vielfach angenommenen oder auch tatsächlichen politischen Hintergrundes krimineller Aktivitäten sind bestimmte Bevölkerungsteile, v. a. solche wie die Tschetschenen, die vorrangig in die Nähe zu separatistischen Bestrebungen gerückt werden, stärker betroffen. Im Einklang mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vergl. VwGH 08.07.2000/99/29/0203) aber ist demnach zu prüfen, ob gegen die BF aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität etc. gerichtete Verfolgung zu werten ist und nicht als mehr oder weniger zufällige Folge im Zuge von Bürgerkriegshandlungen. Erstgenanntes ist im konkreten Fall zutreffend. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die BF gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tschetschenen im besonderen Blickfeld der behördlichen Organe stehen und daher nach bestimmten Ereignissen, bei denen die Sicherheitsorgane zu Schaden kommen, immer wieder zum Ziel von Ermittlungen werden, ohne dass auf Seiten der Sicherheitsbehörden gleich konkrete Anhaltspunkte für eine Beteiligung an Anschlägen etc. vorhanden sind. Gerade bei solchen ("Vorfeld")-Ermittlungen ist es sehr wahrscheinlich, dass die ethnische Zugehörigkeit eine besondere Rolle spielt. Dass die Misshandlungen (Schläge mit einem Gewehrkolben, sonstige Schläge mit Verletzungsfolgen) aufgrund ihre erheblichen Intensität schon an sich relevante Verfolgungshandlungen darstellen, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Jedenfalls erreicht aber das immer wiederkehrende Vorgehen gegen die BF, wenn es dabei auch nicht jedes Mal zu gleichermaßen gravierenden Verletzungen der körperlichen Integrität oder Einschränkungen der Freiheit gekommen ist, in ihrer Gesamtheit die asylrelevante Schwelle. Die Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates ist unter den Umständen, dass die ungerechtfertigten Eingriffe in die persönliche Sphäre der BF von staatlichen Organen ausgehen und eine Verfolgung letztgenannter wegen von ihnen begangener Übergriffe weitgehend unterbleibt, nicht zumutbar. Gerade in solchen Situationen würde sich jede mit Vernunft begabte Person aus Konventionsgründen wohlbegründet fürchten, muss sie doch bei jedem weiteren Anschlag, der in ihrer Nähe gegen staatliche Organe verübt wird, wegen ihrer Volksgruppenzugehörigkeit und schon zuvor erfolgter Ermittlungen gegen sie erneut damit rechnen, zum Ziel von polizeilichen Maßnahmen zu werden, deren Intensität und Rechtfertigung fraglich ist. Es ist daher der Schluss zu ziehen, dass die BF aus Gründen der (unterstellten) politischen Gesinnung oder aus ethnischen Gründen - nämlich der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Tschetschenen - Verfolgungshandlungen seitens staatlicher Organe ausgesetzt waren. Es besteht nicht nur eine entfernte Möglichkeit, sondern die ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass die BF im Falle der Rückkehr in ihre Heimatregion wiederum einer Verfolgungsgefahr aus den gleichen Gründen ausgesetzt werden.

 

6. Es bleibt zu prüfen, ob den BF eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht und ob es ihnen zumutbar ist, davon Gebrauch zu machen. Schon in Ansehung des gesundheitlichen Zustandes der BF, insbesondere der BF 2, kommt der Unabhängige Bundesasylsenat zu der Ansicht, dass den BF die Inanspruchnahme einer allenfalls vorhandenen innerstaatliche Fluchtalternative, d.h. Aufenthaltsbegründung in einem anderen Landesteile innerhalb der Russischen Föderation, nicht zumutbar ist.

 

7. Es gibt keine Hinweise darauf, dass einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Ausschlussgründe oder Endigungsgründe vorliegen würde.

 

8. Der Berufung war daher stattzugeben und den BF der Status des Asylberechtigten zuerkennen.

 

9. Gemäß § 3 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass den Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Schlagworte
Bürgerkrieg, Familienverfahren, gesamte Staatsgebiet, gesundheitliche Beeinträchtigung, Kollaboration, Misshandlung, politische Gesinnung, Sicherheitslage, Volksgruppenzugehörigkeit, Widerstandskämpfer
Zuletzt aktualisiert am
05.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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