TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/28 B2 252491-0/2008

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Veröffentlicht am 28.07.2008
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Spruch

B2 252.491-0/2008/7E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. MAGELE als Einzelrichter über die Beschwerde der W.R., geb. 00.00.1952, StA. der Russischen Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.08.2004, FZ. 04 08.988-BAE, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 29.04.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde von W.R. vom 23.08.2004 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.08.2004, Zahl: 04 08.988-BAE wird stattgegeben und W.R. gemäß § 7 AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG) idF BG BGBl. I Nr. 126/2002, Asyl gewährt. Gemäß § 12 leg. cit. wird festgestellt, dass W.R. damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Gang des Verfahrens:

 

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, ist am 26.04.2004 illegal in das Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag einen Antrag gemäß § 3 AsylG gestellt. Daraufhin wurde sie am 08.07.2004 vom Bundesasylamt, Außenstelle Eisenstadt, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die russische Sprache niederschriftlich befragt.

 

Ihr damaliges Vorbringen wurde im Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Eisenstadt, vom 10.08.2004, Zahl: 04 08.988-BAE, richtig und vollständig wiedergegeben, sodass der diesbezügliche Teil des erstinstanzlichen Bescheides auch zum Inhalt des gegenständlichen Erkenntnisses erhoben wird.

 

2. Das Bundesasylamt, Außenstelle Eisenstadt, hat mit Bescheid vom 10.08.2004, Zahl: 04 08.988-BAE, den Antrag der Beschwerdeführerin gemäß § 7 AsylG abgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG zulässig ist. Gemäß § 8 Abs. 2 AsylG wurde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.

 

3. Gegen diesen Bescheid hat die Beschwerdeführerin fristgerecht berufen und im Wesentlichen ausgeführt, dass die Behörde es unterlassen habe, allenfalls vorhandene Zweifel über den Inhalt des Vorbringens der Beschwerdeführerin durch entsprechende Erhebungen zu beseitigen. Zu ihren Fluchtgründen führte die Beschwerdeführerin aus, sie habe in Tschetschenien zwei Häuser besessen. Nach der Ermordung ihres Mannes im Jahr 2002 sei im August Frau K.H., eine Angehörige eines hohen russischen Beamten in das Nebenhaus eingezogen. Ab diesem Zeitpunkt seien immer sehr viele Menschen im Hof gewesen und seien russische Soldaten gekommen, die Kontrollen durchgeführt hätten. Sie habe ihrem Sohn den Kontakt mit den Nachbarn verboten, da sie Angst gehabt habe, er könne dadurch Probleme bekommen, er sei jedoch einmal zusammengeschlagen worden, weil er sich geweigert habe, Botengänge für die Nachbarn zu machen.

 

Weiters führte die Beschwerdeführerin aus, sie habe eines Tages im gemeinsamen Keller der beiden Häuser Säcke mit Waffen entdeckt. Da sie Angst gehabt habe, im Falle einer Kontrolle mit den Waffen in Verbindung gebracht zu werden, sei sie mit der Absicht auszuwandern zu ihrem Bruder nach A. gefahren. Sie habe dort aber nicht bleiben können, da das Haus des Bruders zu klein gewesen sei, darüber hinaus habe sie sich nicht anmelden und registrieren lassen können. Es sei auch für ihre Söhne gefährlich gewesen, da es dort eine Jugendgang gegeben habe. Sie sei daher wieder zurückgefahren. Da sie ihrer Nachbarin aber nicht habe kündigen können, habe sie ihr Gold und ihre Kühe verkauft und sei mit ihren Kindern geflohen.

 

Die Beschwerdeführerin brachte weiter vor, ethnischen Tschetschenen stehe in der Russischen Föderation keine interne Fluchtalternative zur Verfügung. Zudem habe die Behörde die Voraussetzungen des Refoulementverbotes nicht geprüft und stehe ihrer Rückkehr nach Tschetschenien ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK entgegen, da in ihrer Heimat ständig schwere Menschenrechtsverletzungen geschähen.

 

Am 11.07.2005 wurde dem Unabhängigen Bundesasylsenat eine psychotherapeutische Stellungnahme des Vereins xy vorgelegt (vgl. 0Z 1 des UBAS-Aktes), wonach die Beschwerdeführerin seit November 2004 durch den Verein betreut werde und spezifische Traumasymptome sowie somatische Symptome zeige. Sie leide an Kopf- und Leberschmerzen und Herzbeschwerden und sei wegen ihrer depressiven Zustände und Schlafstörungen in medikamentöser Behandlung.

 

Am 14.06.2007 langte beim Unabhängigen Bundesasylsenat ein psychiatrischer Befund des Vereins xy ein (vgl. OZ 3 des UBAS-Aktes), wonach die Beschwerdeführerin unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leide und in medikamentöser sowie psychotherapeutischer Behandlung sei.

 

4. Am 29.04.2008 führte der Unabhängige Bundesasylsenat eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung durch, an welcher die nunmehrige Beschwerdeführerin und ihr rechtsfreundlicher Vertreter teilgenommen haben (siehe Verhandlungsprotokoll OZ 6Z). Das Bundesasylamt verzichtete schriftlich auf die Teilnahme an der Verhandlung.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin und den amtswegigen Ermittlungen gelangt die Behörde nach unten angeführter Beweiswürdigung zu folgenden Feststellungen:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Russland, Angehörige der Volksgruppe der Tschetschenen und wurde am 00.00.1952 in Kirgisistan geboren. Von 1959 bis 1964 besuchte sie in Tschetschenien die Grundschule. Im Jahr 1982 heiratete sie in G. ihren Ehemann, mit dem sie in der Folge in einem Haus lebte, das sie bis zu ihrer Ausreise bewohnte. Der Ehemann der Beschwerdeführerin wurde im Jahr 2002 von Unbekannten ermordet. Die Beschwerdeführerin besaß in Tschetschenien zwei Häuser, von denen ihr eines nach dem Tod ihres Ehemannes von den Russen abgenommen wurde.

 

Im Heimatort der Beschwerdeführerin wurde die Familie mehrmals von russischen Soldaten aufgesucht und wurde bei Kontrollen nach dem Aufenthaltsort des Ehemannes der Beschwerdeführerin gefragt, der die tschetschenischen Rebellen unterstützt hatte.

 

Vor ihrer Ausreise war die Beschwerdeführerin mit ihren Kindern nach A. zu ihrem Bruder gezogen, wo sie drei Jahre lebte. Die Beschwerdeführerin arbeitete dort am Bazar, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Da die Familie dort jedoch keine Anmeldung besaß und vom Bruder nicht länger unterstützt werden konnte, beschloss sie, nach Tschetschenien zurückzukehren.

 

Während des weiteren Aufenthaltes in Tschetschenien wurde das Haus der Beschwerdeführerin häufig von russischen Soldaten aufgesucht, die sich nach Auskunft der Nachbarn der Beschwerdeführerin nach der Familie erkundigten. Insbesondere wurde auch nach dem älteren Sohn der Beschwerdeführerin gefragt, welcher zwei Mal von Russen und tschetschenischen Unterstützern verhaftet und in der Haft misshandelt wurde. Die Söhne der Beschwerdeführerin hielten sich bei Kontrollen im Keller versteckt. Im Nachbarhaus der Beschwerdeführerin zog eine Angehörige eines hohen russischen Beamten ein, wogegen die Beschwerdeführerin nichts unternehmen konnte, jedoch bemühte sich die Beschwerdeführerin, dass ihre Söhne nicht mit der Familie K. in Kontakt kamen. Im Jahr 2002 entdeckte die Beschwerdeführerin Waffen im Keller, deren Ursprung ihr unbekannt waren, sodass sie befürchtete, mit diesen in Verbindung gebracht zu werden.

 

Die Beschwerdeführerin verließ im Dezember 2003 gemeinsam mit ihrer Tochter und ihren zwei Söhnen die Russische Föderation mit dem Zug. Im Zuge der Reise ging die Tochter der Beschwerdeführerin verloren und wurde von der Familie getrennt, reiste jedoch ein Jahr später mit ihrem Lebensgefährten wieder nach Österreich ein.

 

Ein Bruder der Beschwerdeführerin lebt in A.. Das Haus der Beschwerdeführerin in Tschetschenien wird von einem Bruder ihres verstorbenen Ehemannes bewohnt. Darüber hinaus verfügt die Beschwerdeführerin über keine Verwandten oder Bekannten in Tschetschenien.

 

Die Beschwerdeführerin lebt derzeit mit zwei nunmehr volljährigen Söhnen, die ebenfalls Asylwerber sind, in Österreich. Die volljährige Tochter der Beschwerdeführerin lebt mit ihrem Lebensgefährten und zwei Kindern ebenfalls in Österreich.

 

1.2. Zur Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) wird festgestellt:

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 89 Subjekte der Russischen Föderation. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Ihre historisch verwurzelten Unabhängigkeitsbestrebungen führten in jüngster Geschichte zu zwei Kriegen mit dem föderalen Zentrum Russlands. Der erste Tschetschenienkrieg (1994 - 1996) endete mit einer de facto Unabhängigkeit der Teilrepublik. In der darauf folgenden Phase war die Situation in Tschetschenien durch heftige innere Machtkämpfe, islamistische Tendenzen, die Einführung einer rückständigen Version der Sharia-Gerichtsbarkeit, hohe und über die Grenzen der Republik ausstrahlende Drogenkriminalität, Entführungen und Übergriffe bewaffneter tschetschenischer Banden auf Nachbarrepubliken gekennzeichnet. Zur instabilen Lage trug indes auch die systematische Isolierung Tschetscheniens bei, die Nichterfüllung der Wiederaufbau-Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag durch Moskau sowie die allumfassende Korruption, an der der Wiederaufbau bis heute (auch) scheitert.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 30.08.2005, S. 5).

 

Laut Präsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen. Bei der Parlamentswahl errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk.

 

Nach dem Rücktritt des tschetschenischen Ministerpräsidenten Sergej Abramow im Februar 2006 hat der tschetschenische Präsident Alu Alchanow am 02.03.2006 den bisherigen stellvertretenden Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow zum neuen Regierungschef ernannt. Das Parlament bestätigte die Ernennung.

 

Staatliche Repressionen: Besonders seit Beginn des sog. "Zweiten Tschetschenienkrieges" (Herbst 1999) werden auch die in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation lebenden Tschetschenen - allein in Moskau gibt es etwa 200.000, davon jedoch laut Volkszählung von 2002 lediglich 14.465 offiziell registrierte - Ziel benachteiligender Praktiken der Behörden.

Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über verstärkte Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen, z.T. ohne rechtliche Begründung, Festnahmen, Strafverfahren aufgrund fingierter Beweise und Kündigungsdruck auf Arbeitgeber und Vermieter. Tschetschenen haben auch weiterhin Schwierigkeiten, eine Wohnortregistrierung auf legalem Wege zu erlangen...

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 17.03.2007, S. 7)

 

Auch nach der Ermordung des tschetschenischen Präsident Ahmed Kadyrow am 09.05.2004 setzte Moskau seine Strategie des "politischen Prozesses" fort, Verantwortung in Moskau-freundliche tschetschenische Hände zu übertragen. Am 29.08.2004 wurde der bisherige Innenminister Alu Alchanow zum neuen Präsidenten gewählt. Unabhängige Beobachter kritisierten die Wahl als stark manipuliert. "Starker Mann" in der Republik ist der Sohn des ermordeten Präsidenten, Ramsan Kadyrow, Vize-Premier und Befehlshaber über den Sicherheitsdienst, die "Kadyrowzy", denen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Morde) zur Last gelegt werden.

 

Seit dem Mord an Kadyrow nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den Rebellen und den russischen/tschetschenischen Sicherheitskräften an Umfang und Schärfe zu. Die Kette der durch die Rebellen verübten Terror- und Selbstmordanschläge in- und außerhalb Tschetscheniens reißt nicht ab. Höhepunkt war Anfang September 2004 die blutige Geiselnahme in der Schule von Beslan/Nordossetien, bei der 330 Menschen, davon 168 Kinder, getötet und hunderte Kinder und Erwachsene z.T. schwer verletzt wurden.

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in letzter Zeit etwas verbessert (in den Nachbarrepubliken Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien hingegen eher verschlechtert). Der zivile Wiederaufbau der völlig zerstörten Republik konzentriert sich auf die Hauptstadt Grosny. Von den im föderalen Budget 2006 für den Wiederaufbau vorgesehenen Mitteln ist im ersten Halbjahr 2006 noch kein Anteil ausgezahlt worden.

 

Auch die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist derzeit blockiert. Nach Angaben von Präsident Alchanow sind bisher 2 Milliarden Rubel an Kompensationszahlungen geleistet worden. Nichtregierungsorganisationen berichten jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigerten, ihre Dokumente zu bearbeiten oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Der russische Migrationsdienst gibt nach Angaben von Nichtregierungs-organisationen offen zu, dass von den Entschädigungszahlungen 15 Prozent nach Moskau, 15 Prozent an die lokalen Behörden, zehn Prozent an die zuständige Bank und ein gewisser Prozentsatz an den Migrationsdienst selbst gehen. Verschiedene Schätzungen u.a. des (am 01.04.2006 aus seinem Amt ausgeschiedenen) Menschenrechtsbeauftragten des Europarates, Gil Robles, gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen (Bericht Auswärtiges Amt vom 18.08.2006, Seite 17f).

 

Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen internationaler Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien. Auch amnesty international berichtet für 2006 weiterhin von Vergewaltigungen und extralegalen Tötungen der Zivilbevölkerung während Operationen der Sicherheitskräfte. So soll nach Angaben russischer Menschenrechtsorganisationen am 22.06.2006 bei einer Säuberungsaktion im tschetschenischen Dorf Dolinski der 18-jährige Ramsan Michailow getötet worden sein.

 

Schwere Verbrechen und Vergehen werden auch von Seiten der Rebellen begangen, die bei ihren Aktionen Opfer unter der Zivilbevölkerung bewusst in Kauf nehmen und gezielt Anschläge gegen Tschetschenen verüben, die mit den russischen Behörden zusammenarbeiten. ...

 

Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen bleibt weit hinter deren Ausmaß zurück, so dass nach Ansicht von Nichtregierungsorganisationen ein "Klima der Straflosigkeit" entstanden sei. Dies kritisieren auch der (frühere) Berichterstatter des Europarates Rudolf Bindig (Bericht zu Tschetschenien vom 20.09.2004 und zur Russischen Föderation allgemein vom 03.06.2005) und der (ehemalige) Menschenrechtskommissar des Europarates Gil-Robles in seinem Bericht von April 2005. Bisher gibt es nur sehr wenige Fälle von Verurteilungen. Im April 2006 verurteilte ein Gericht in Rostow den Vertragssoldaten Kriwoschenok zu 18 Jahren Haft wegen der Erschießung dreier tschetschenischer Zivilisten im November 2005. Am 06.04.2006 entschied das russische Verfassungsgericht, dass in Tschetschenien bis zur Einführung von Geschworenengerichten (mittlerweile auf 2010 verschoben) Militärgerichte über Verbrechen von Militärangehörigen urteilen. Diese Entscheidung steht im Zusammenhang mit dem zweimaligen Freispruch von vier Angehörigen einer Eliteeinheit in der benachbarten Region Rostow. Die Soldaten waren trotz der Tötung von sechs tschetschenischen Zivilisten in beiden Verfahren freigesprochen worden, was insbesondere bei Tschetschenen Empörung hervorrief und das Gefühl bestärkte, Verbrechen russischer Soldaten blieben straflos.

 

Nach dem Ende des ersten Tschetschenienkrieges wurde 1997 die erste sechs Monate gültige Amnestie erlassen. Nach dem Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges wurde 1999 eine weitere Amnestie verkündet. Sie galt bis zum 15.05.2000. Auf die dritte Amnestieregelung vom 12.05.2003 bis 01.09.2003 gingen weniger als 200 Rebellen ein. Am 22.09.2006 beschloss die Duma eine neue Amnestieverordnung. Sie erfasst Vergehen, die zwischen dem 13.12.1999 und dem 23.09.2006 im Nordkaukasus (Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Tschetschenien, Nordossetien, Karatschajewo-Tscherkessien, Gebiet Stawropol) begangen wurden. Die Amnestie gilt sowohl für Rebellen ("Mitglieder illegaler bewaffneter Formationen" sofern sie bis zum 15.01.2007 die Waffen niederlegen) als auch für Soldaten, erfasst aber keine schweren Verbrechen (u.a. nicht Mord, Vergewaltigung, Entführung, Geiselnahme, schwere Misshandlung, schwerer Raub; für Soldaten: Verkauf von Waffen an Rebellen). Nach Mitteilung des Nationalen Antiterror-Komitees haben sich bis zum Stichtag insgesamt 546 Rebellen gestellt. Etwa 200 Rebellen waren angeblich an Sabotage und Terroraktionen beteiligt, nahezu alle sollen einer illegalen bewaffneten Gruppe angehört haben. Am 24.01.2006 hat das tschetschenische Parlament einen Ausschuss eingerichtet (Vorsitzender: Parlamentspräsident Abdurachmanow), der Diskriminierungen gegen Tschetschenen aufklären und die Suche nach Vermissten überwachen soll. Im Juli 2006 wurde auch in Inguschetien die Bildung einer solchen Kommission beschlossen.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S.19f)

 

Besorgniserregend bleibt die humanitäre Notlage der tschetschenischen Flüchtlinge innerhalb und außerhalb Tschetscheniens. Neben über 200.000 Binnenvertriebenen innerhalb Tschetscheniens befanden sich nach VN-Angaben Ende Oktober 2006 in der Datenbank für humanitäre Hilfe noch 18.874 tschetschenische Binnenvertriebene in Inguschetien (5.291 in Übergangs-, 13.583 in Privatunterkünften). UNHCR weist auf den großen Unterschied zu der Zahl des Föderalen Migrationsdienstes hin, der lediglich von 7.400 tschetschenischen Flüchtlingen in Inguschetien ausgeht und innerhalb Tschetscheniens Mitte November 2006 nur 55.599 Binnenvertriebene registriert hatte. Auch in den übrigen nordkaukasischen Nachbarrepubliken halten sich tschetschenische Binnenflüchtlinge auf: ca. 10.000 in Dagestan, 4.000 in Nordossetien, 10.000 in Kabardino-Balkarien und 23.000 in Karatschajewo-Tscherkessien. Darüber hinaus gibt es praktisch in allen russischen Großstädten eine große, durch Flüchtlinge noch wachsende tschetschenische Diaspora: 200.000 in Moskau (nach Angaben der Tschetschenischen Vertretung in Moskau), 70.000 im Gebiet Rostow, 40.000 in der Region Stawropol und 30.000 in der Wolgaregion (Angaben des tschetschenischen Parlamentspräsidenten Abdurachmanow vom 05.06.2006). Tschetschenische Flüchtlinge leben auch in Georgien (nach letzter offizieller Registrierung vom Septemberr 2006 1.320 tschetschenische Flüchtlinge), Aserbaidschan (ca. 8.000) und Kasachstan (ca. 12.000). Etwa 31.000 tschetschenische Flüchtlinge sollen sich in Westeuropa aufhalten. Die russische Regierung arbeitet auf eine möglichst baldige Rückkehr aller tschetschenischen Flüchtlinge (etwa 500.000) hin. Als Ausdruck einer angeblichen "Normalisierung" der Lage in Tschetschenien wurden die letzten Zeltlager in Inguschetien 2004 aufgelöst. Nach Angaben des Föderalen Migrationsdienstes sollte die Rückführung der tschetschenischen Flüchtlinge nach Tschetschenien bis zum Jahresende 2006 im Wesentlichen abgeschlossen sein. In den ersten neun Monaten des Jahres 2006 seien 15.000 Flüchtlinge nach Tschetschenien zurückgekehrt. Etwa 8.000 wollten hingegen ständig in Inguschetien bleiben (Stand Oktober 2006). Die Lebensbedingungen für die Flüchtlinge in den Übergangsunterkünften in der russischen Teilrepublik Inguschetien sind unter allen Aspekten schwierig. Inguschetien und das russische Katastrophenschutzministerium können nur ein Mindestmaß an humanitärer Hilfe leisten und sind mit der Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Unter Leitung des Koordinationsbüros der Vereinten Nationen (OCHA) leisten zahlreiche internationale und nichtstaatliche Organisationen seit Jahren umfangreiche humanitäre Hilfe in der Region.

 

Für 2007 planen UNHCR und Dänischer Flüchtlingsrat humanitäre Projekte im Nordkaukasus mit etwa 80 Millionen US$. Aus Sicherheitsgründen ist die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen in Tschetschenien zwar nur eingeschränkt möglich, doch angesichts der zunehmenden Stabilisierung der Sicherheitslage in Tschetschenien plant UNHCR die Wiedereröffnung eines Büros in Grosny. Gleichzeitig fahren die russischen Migrationsbehörden die Versorgung der Binnenflüchtlinge in Inguschetien allmählich zurück mit dem Ziel, ihre Rückkehr nach Tschetschenien zu beschleunigen.

 

In Tschetschenien wurden für die Flüchtlinge provisorische Unterkünfte errichtet, die nach offiziellen Angaben besser eingerichtet sein sollen als die früheren Lager in Inguschetien. Die Kapazitäten der inzwischen in Tschetschenien fertig gestellten zeitweiligen Unterkünfte reichen jedoch nicht für alle Flüchtlinge. Außerdem berichten UNICEF und andere VN-Organisationen von desolaten sanitären Verhältnissen und schlechten Lebensbedingungen in großen Teilen der von ihnen betreuten Übergangsunterkünfte in Grosny (Mangel an Medikamenten und Nahrungsmitteln, unbefriedigende Sicherheitslage). Nachdem man bislang von einer durch Flüchtlinge, Auswanderung und Kriegsopfer erheblich gesunkenen Einwohnerzahl für Tschetschenien ausgegangen war (Schätzungen schwankten zwischen 450.000 und 800.000), ergab die Volkszählung im Oktober 2002 nach offiziellen Angaben eine Zahl von über einer Million (1.088.816). Unabhängige Beobachter und Nichtregierungsorganisationen stehen diesem Ergebnis jedoch sehr kritisch gegenüber und gehen teilweise von einer Mehrfachregistrierung von Personen aus, weil es finanzielle Anreize für eine Registrierung gibt.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S. 21f)

 

Menschenrechtslage

 

Der Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation hat eingeräumt, dass es bei Verhaftungen, Polizeigewahrsam und Untersuchungshaft immer wieder zu Folter sowie grausamer und erniedrigender Behandlung durch Polizei und Ermittlungsbehörden kommt, und hat seine Kritik gegenüber den vergangenen Jahren verschärft. Besonders kritisch sei die Situation vor Beginn von Strafverfahren im Rahmen der sog. "Operativen Ermittlungstätigkeit".

...

 

Besonders kritisch ist die Situation hinsichtlich Folter und unmenschlicher Behandlung - so Berichte und Einschätzung von NRO'en, aber auch von internationalen Gremien wie dem Europarat - in Tschetschenien. Der Konflikt hat sich jedoch auch auf weitere Teile des Nordkaukasus (insbesondere Dagestan, Inguschetien) ausgeweitet. Russische und tschetschenische Sicherheitskräfte sowie tschetschenische Rebellen begehen in dieser Region schwere Menschenrechtsverletzungen.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S 5, 17, 18, 25)

 

Sicherheits- und Versorgungslage in Tschetschenien

 

Die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien ist nicht gewährleistet. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (sie umfassen mit Ausnahme schwer zugänglicher Gebirgsregionen das ganze Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, "Säuberungsaktionen", Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppe von Ramsan Kadyrow, andererseits unter Guerilla-Aktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen. Zwar hat auch nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen die Anzahl von Gewaltakten sowohl von Seiten der durch Fahndungserfolge der russischen und tschetschenischen Sicherheitskräfte geschwächten Rebellen als auch von Seiten der Sicherheitskräfte selbst zuletzt abgenommen, doch sind immer noch willkürliche Überfälle bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschläge an der Tagesordnung (Bericht Auswärtiges Amt vom 18.08.2006, Seite 19).

 

Im Zusammenhang mit der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern von Terrorakten hat sich der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands signifikant erhöht. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) seien verschärft worden. Dem Auswärtigen Amt sind jedoch keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt geworden. Am 24.01.2006 hat das tschetschenische Parlament eine Ausschuss eingerichtet (Vorsitzender: Parlamentspräsident Abdurachamnow), der Diskriminierungen gegen Tschetschenen aufklären und die Suche nach Vermissten überwachen soll. Die Bevölkerung begegnet Tschetschenen größtenteils mit Misstrauen. Hier wirken sich latenter Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Teilen der russischen Bevölkerung und insbesondere die negative Wahrnehmung der Tschetschenen aus. Berichte über Kontakte der tschetschenischen Rebellen zu den Taliban und Osama Bin Laden, die Geiselnahme 2002 in Moskau und die Anschläge 2004 haben dies noch verstärkt (Bericht Auswärtiges Amt vom 18.08.2006, Seite 19f).

 

Ein großes Problem ist die häusliche Gewalt. Das Innenministerium gibt an, dass 2006 etwa 14.000 Frauen von ihrem Partner oder einem Angehörigen getötet worden seien. Laut einem Bericht von amnesty international ("Nowhere to turn to - Violence against women in the family", Dezember 2005) stirbt in Russland jede Stunde eine Frau durch Gewalt in der Familie. Ursachen seien Alkoholismus und Passivität der Polizei.

 

Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Frauen in Tschetschenien in besonderem Maße unter Menschenrechtsverletzungen zu leiden hätten (u.a. zahlreiche Fälle von Vergewaltigungen). Sie kritisieren, dass diese Fälle von den russischen Behörden nicht oder nicht konsequent genug verfolgt würden. Schutzmöglichkeiten für Frauen gibt es in Russland kaum: laut Angaben des Ministeriums für Gesundheit und Soziales gibt es landesweit 23 staatliche Frauenhäuser. In Tschetschenien, soweit dem Auswärtigen Amt bekannt, werden Schutzmöglichkeiten von einzelnen lokalen Nichtregierungsorganisationen in völlig unzureichendem Umfang bereitgestellt.

 

Nach Beobachtungen des ehemaligen Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ist die Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu zwingen, eine Besorgnis erregende Entwicklung. Diese hält nach glaubhaften Berichten von Menschenrechtsorganisationen (2006) an. Im Dezember 2004 wurden acht Verwandte des früheren Präsidenten Aslan Maschadow, darunter eine Schwester und zwei Brüder, entführt, vermutlich von Angehörigen der Sicherheitstruppe von Ramsan Kadyrow. Sieben von ihnen wurden am 31.05.2005 wieder freigelassen; ein Neffe befindet sich noch wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer illegalen bewaffneten Gruppe in Haft. Der tschetschenische Ministerpräsident Ramsan Kadyrow hat sich öffentlich für gesetzliche Regelungen ausgesprochen, die die Strafverfolgung von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen ermöglichen.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S. 15, 16, 19)

 

Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und Presse berichten, dass es auch nach Beginn des von offizieller Seite festgestellten "politischen Prozesses" zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung komme. Insbesondere werden Mord, Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, willkürlichen Festnahmen, Sachbeschädigungen und Diebstähle genannt. Dies sei häufig darauf zurückzuführen, dass reales Ziel der in Tschetschenien eingesetzten Zeitsoldaten, Milizionäre und Geheimdienstangehörigen Geldbeschaffung und Karriere sei. Den "Kadyrowzy" werden von Menschenrechtsorganisationen zahlreiche dieser Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt. Nach Human Rights Watch tragen die "Kadyrowzy" seit 2004/05 die Hauptverantwortung für Verschleppungen.

 

An erster Stelle der Menschenrechtsverletzungen steht das "Verschwindenlassen" von Zivilisten. 2006 wurden laut "Memorial" 172 Personen entführt, von denen 86 befreit und neun getötet worden seien; 60 seien verschwunden, 17 im Gefängnis. Da Memorial nur etwa 25 - 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein. Seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Jahre 1999 seien insgesamt etwa 5.000 Personen verschwunden. In einer amtlichen Datenbank über Personen, die seit 1991 entführt wurden, befanden sich im Januar 2006 nach Angaben von Präsident Alu Alchanow die Namen von 2.548 Personen.

 

Eine Liste der Menschenrechtsorganisation "Mütter Tschetscheniens", deren Erstellung im Rahmen eines Menschenrechtsprojektes durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, dokumentiert die Fälle von 451 seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges (1999) spurlos verschwundenen Menschen und schaltet Zivil- und Militärbehörden ein. Auf keine der Anfragen der "Mütter Tschetscheniens" an die russischen und tschetschenischen Behörden gab es bisher eine positive Reaktion bzgl. des Verbleibes der verschwundenen Personen (Stand: Anfang 2007); in keinem Fall ist es gelungen, eine vermisste Person lebend wieder zu finden.

 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verurteilte Russland am 27.07.2006 zur Zahlung von 35.000 Euro an die Familie des im Februar 2000 spurlos verschwundenen Chadschi-Murat Jandijew wegen Verletzung des Rechts auf Leben. Das Gericht stellte fest, dass Russland das Verbot der willkürlichen Festnahme verletzt und dem Festgenommenen keinen ausreichenden Rechtsschutz gewährt hatte. Seitdem ist es zu weiteren ähnlichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Russland wegen Entführungen und Tötungen in Tschetschenien gekommen.

 

Die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft, insbesondere in Grosny. Internationalen Hilfsorganisationen ist es nur sehr begrenzt und punktuell möglich, Lebensmittel in das Krisengebiet zu liefern. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern jedoch in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau Tschetscheniens sachgerecht verwendet werden. Das IKRK hat bis Ende Oktober 2006 für humanitäre Projekte im Nordkaukasus rund 16 Mio. US$ ausgegeben. Für das Jahr 2007 plant das IKRK mit einem Budget von ca. 18,55 Mio. US$ für die Region. Offiziell waren in Tschetschenien im September 2006 329.900 Menschen arbeitslos gemeldet, von denen 275.900 Arbeitslosengeld erhielten. Das reale Pro-Kopf-Einkommen beträgt in Tschetschenien nach den offiziellen Statistiken etwa ein Zehntel des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum, weil die Industrie überwiegend zerstört ist. Viel Geld wird mit illegalem Verkauf von Erdöl und Benzin verdient; zahlreiche Familien leben von Geldern, die ein Ernährer aus dem Ausland schickt.

 

Etwa 50% des Wohnraums ist seit dem ersten Krieg (1994-1996) in Tschetschenien zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist nach Angaben des tschetschenischen Präsidenten Alu Alchanow vom 19.10.2006 noch nicht abgeschlossen. Bisher seien an 40.000 Personen Zahlungen in Höhe von über zwei Milliarden Rubel erfolgt. Für das Jahr 2007 seien auf Grund der zugewiesenen Mittel Kompensationszahlungen an 10.000-15.000 Personen geplant.

 

Nichtregierungsorganisationen berichten jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsberechtigung erhalte. Viele Rückkehrer bekämen bei ihrer Ankunft in Grosny keine Entschädigung, weil die Behörden sich weigern würden, ihre Dokumente zu bearbeiten, oder weil ihre Namen von der Liste der Berechtigten verschwunden seien. Der russische Migrationsdienst gibt nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen offen zu, dass von den Entschädigungszahlungen 15 % nach Moskau, 15 % an die lokalen Behörden, zehn Prozent an die zuständige Bank und ein gewisser Prozentsatz an den Migrationsdienst selbst gehen. Verschiedene Schätzungen, u.a. des ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten des Europarates Gil Robles gehen davon aus, dass 30-50% der Kompensationssummen als Schmiergelder gezahlt werden müssen.

 

Die medizinische Versorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch die Zerstörungen und Kämpfe - besonders in der Hauptstadt Grosny - waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionstüchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten. So stehen beispielsweise seit April 2006 am Republikanischen Krankenhaus in Grosny zehn Dialysegeräte zur Verfügung, so dass Patienten mit Nierenerkrankungen nunmehr auch in Tschetschenien behandelt werden können.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S. 18ff)

 

Sicherheitslage für Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens

 

Nach dem Rebellenüberfall auf die Städte Nasran und Karabulak und das Dorf Slepzowskaja in Inguschetien am 22.06.2004 durchkämmten inguschetische Sicherheitskräfte zahlreiche Dörfer und Gemeinden, in denen tschetschenische Flüchtlinge leben. Dabei nahmen sie viele Menschen fest. Menschenrechtler kritisierten, dass die Behörden wahllos Flüchtlinge unter Druck gesetzt und kriminalisiert hätten. In dem tschetschenischen Flüchtlingslager Altijewo bei Nasran sollen von 60 festgenommenen Personen lediglich 23 wieder freigelassen worden sein. Zu zahlreichen Festnahmen kam es zur selben Zeit auch bei Antirebellenoperationen der Sicherheitskräfte entlang der inguschetisch-tschetschenischen Grenze.

 

Nach der Moskauer Geiselnahme 2002 hat sich im Zusammenhang mit der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands signifikant erhöht. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen, bei denen einziges Kriterium die ethnische Zugehörigkeit sei. Personenkontrollen auf der Straße, in der U-Bahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) seien verschärft worden.

 

Die Terroranschläge im August 2004 (Absturz zweier Flugzeuge in Südrussland, Sprengstoffanschläge an einer Bushaltestelle und am Rigaer Bahnhof in Moskau) und die Geiselnahme in der Schule von Beslan/ Nordossetien am 01.09.2004 haben diesen Druck noch weiter erhöht, zumal die Sicherheitsbehörden befürchten, dass weitere Selbstmordattentäter eingeschleust werden.

 

... Die russische Strafprozessordnung lässt ... bei der Fahndung nach Tatverdächtigen eine ganze Reihe erkennungsdienstlicher Maßnahmen zu.

 

Kaukasisch aussehende Personen stehen unter einer Art Generalverdacht, so dass in der Tat verstärkte Kontrollmaßnahmen aller Art (Ausweiskontrollen, Wohnungsdurchsuchungen, Abnahme von Fingerabdrücken) zu befürchten sind. ...

 

(Es) ist angesichts der andauernden Aktualität des innenpolitischen Problems Tschetschenien einschließlich anhaltender Anschläge auch in Moskau davon auszugehen, dass rückgeführten Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden gewidmet wird, insbesondere solchen Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 18.08.2006, S. 19ff).

 

Der ungelöste Tschetschenienkonflikt hat längst auch auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus übergegriffen und destabilisiert die gesamte Region. Neben Tschetschenien sind Inguschetien und Dagestan am meisten betroffen. Die gesamte Region ist wirtschaftlich und sozial eine der am stärksten benachteiligten in der Russischen Föderation. Sie leidet in ganz besonderem Maße unter Korruption, ethnischen Spannungen und der Machtausübung durch einzelne Clans.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S. 23)

 

Ausweichmöglichkeiten und Relokation

 

Die Weiterreise von tschetschenischen Flüchtlingen in andere Teile der Russischen Föderation ist grundsätzlich möglich, trifft aber sowohl auf Transportprobleme als auch auf fehlende Aufnahmekapazitäten (vgl. II.3.2.). Soweit zur Weiterreise die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch genommen werden muss, kann sie bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür begegnen. In großen Städten (z.B. in Moskau und St. Petersburg) wird der Zuzug von Personen jeglicher Volkszugehörigkeit erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen.

 

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen besonders in Moskau, häufig die Registrierung (s. IV.2.1.) verweigert wird. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ist Voraussetzung für den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen sowie zum kostenlosen Gesundheitssystem und legalem Arbeitsmarkt. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Viele Vermieter weigern sich, entsprechende Vordrucke auszufüllen, u.a. weil sie ihre Mieteinnahmen nicht versteuern wollen. Dies ist ein generelles Problem, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit des Mieters. Kaukasier haben laut Angaben von Menschenrechtsvertretern jedoch größere Probleme haben als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden.

 

Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im Allgemeinen und gegenüber Rückgeführten im Besonderen bei der Niederlassung verstärkt.

Nichtregierungsinstitutionen berichten auch, dass vereinzelt Registrierungsbehörden kein Interesse haben, Tschetschenen in ihrem Kreis registriert wohnen zu haben. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich an dieser Vorgehensweise der Behörden in absehbarer Zeit nichts ändern.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S 16f)

 

Bisher liegen dem Auswärtigen Amt auch keine gesicherten Erkenntnisse darüber vor, ob tschetschenische Volkszugehörige nach ihrer Rückführung nach Russland besonderen Repressionen ausgesetzt sind. Solange der Tschetschenien-Konflikt anhält, ist davon auszugehen, dass abgeschobenen Tschetschenen besondere Aufmerksamkeit durch russische Behörden erfahren. Dies gilt insbesondere für solche Personen, die sich in der Tschetschenienfrage engagiert haben bzw. denen die russischen Behörden ein solches Engagement unterstellen. In einem Rückführungsfall im November 2005 konnte die rückgeführte Person den Flughafen Domodjedowo zwar nach der Grenzkontrolle verlassen, wurde aber nach Erkenntnissen von Memorial in Grosny aufgrund eines Haftbefehls wegen Diebstahls verhaftet. Darüber hinaus sind dem Auswärtigen Amt keine Probleme zurückgeführter Tschetschenen bekannt geworden.

 

Wegen der intensiven Fahndung nach den Drahtziehern und Teilnehmern von Terrorakten bleibt der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen in Moskau und anderen Teilen Russlands aber signifikant erhöht. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von einer verschärften Kampagne der Miliz gegen Tschetschenen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit; kaukasisch aussehende Personen stünden unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen (Ausweis, Fingerabdrücke) auf der Straße, in der UBahn und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) seien verschärft worden. Dem Auswärtigem Amt sind jedoch keine Anweisungen der russischen Innenbehörden zur spezifischen erkennungsdienstlichen Behandlung von Tschetschenen bekannt geworden.

 

Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Diese Rechte sind in der Verfassung verankert. Jedoch wird in der Praxis an vielen Orten (u.a. in großen Städten, wie z.B. Moskau und St. Petersburg) der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit anti-kaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen.

 

Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem die Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort ("vorübergehende Registrierung") und ihren Wohnsitz ("dauerhafte Registrierung") melden müssen. Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt und ermöglicht den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt. Das davor geltende "Propiska"-System sah nicht nur die Meldung durch den Bürger, sondern auch die Gestattung oder Verweigerung durch die Behörden vor. Voraussetzung für eine Registrierung ist ein nachweisbarer Wohnraum und die Vorlage des Inlandspasses. Ein von der russischen Auslandsvertretung in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht für eine dauerhafte Registrierung nicht aus. Trotz der Systemumstellung durch das Föderationsgesetz wenden viele Regionalbehörden der Russischen Föderation restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken an. Daher haben Tschetschenen erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass vielen Tschetschenen, besonders in Moskau, die Registrierung verweigert werde.

 

Nach Moskau zurückgeführte Tschetschenen haben in der Regel nur dann eine Chance, in der Stadt Aufnahme zu finden, wenn sie genügend Geld haben oder auf ein Netzwerk von Bekannten oder Verwandten zurückgreifen können. Nach der Moskauer Geiselnahme im Oktober 2002 haben sich administrative Schwierigkeiten und Behördenwillkür gegenüber Tschetschenen im allgemeinen und rückgeführten Tschetschenen im besonderen verstärkt. Angesichts der Terrorgefahr dürfte sich hieran in absehbarer Zeit nichts ändern. Eine verschärfte Neufassung des Aufenthaltsrechts spezifisch für Tschetschenen steht in der Staatsduma bislang nicht auf der Tagesordnung. Die Rücksiedlung nach Tschetschenien wird von Regierungsseite nahe gelegt; ob auch zwangsweise rückgeführt wird, entzieht sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes.

 

Bewohner Tschetscheniens und Inguschetiens, die älter als 14 Jahre sind und sich in Moskau anmelden wollen, erhalten nach Presseberichten seit Frühjahr 2006 von der Miliz einen 40 Fragen umfassenden Fragebogen, der u.a. Fragen zur Clanzugehörigkeit, Einstellung zur Scharia, möglicher Teilnahme an Kämpfen, zu möglichen Kämpfern unter Verwandten oder zur eventuellen Absicht der Teilnahme an Aktivitäten der tschetschenischen/inguschetischen Diaspora in Moskau enthält. Inwieweit diese Fragebögen auch in anderen Städten auszufüllen sind, ist dem Auswärtigen Amt nicht bekannt.

 

Nichtregistrierte Tschetschenen können innerhalb Russlands allenfalls in der tschetschenischen Diaspora untertauchen und dort überleben. Wie ihre Lebensverhältnisse sind, hängt insbesondere davon ab, ob sie über Geld, Familienanschluss, Ausbildung und russische Sprachkenntnisse verfügen. Menschenrechtler beklagen eine Zunahme von Festnahmen wegen fehlender Registrierung oder aufgrund manipulierter Ermittlungsverfahren.

 

Eine Registrierung als Binnenflüchtling (IDP, internally displaced person) und die damit verbundene Gewährung von Aufenthaltsrechten und Sozialleistungen (Wohnung, Schule, medizinische Fürsorge, Arbeitsmöglichkeit) wird in der Russischen Föderation laut Berichten von amnesty international und UNHCR regelmäßig verwehrt.

 

Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor - wenn auch in stark verringerter Zahl - Kontrollposten der föderalen Truppen oder der sog "Kadyrowzy", die gewöhnlich eine "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben. Sie beträgt für Bewohner Tschetscheniens in der Regel zehn Rubel, also ungefähr 30 Cent; für Auswärtige - auch Tschetschenen - liegt sie höher, z.B. an der inguschetisch-tschetschenischen Grenze bei 50 - 100 Rubel, etwa 1,50 - 3 Euro.

 

Tschetschenen leben außerhalb Tschetscheniens und Inguschetiens vor allem in Südrussland (Regionen Kransnodar, Stawropol). Dort ist eine Registrierung auch grundsätzlich leichter möglich als in Moskau, unter anderem weil Wohnraum (Registrierungsvoraussetzung) dort erheblich billiger ist als in Moskau, wo die Preise auf dem freien Wohnungsmarkt ausgesprochen hoch sind. Eine Registrierung ist in vielen Landesteilen oft erst nach Intervention von Nichtregierungsorganisationen, Duma-Abgeordneten oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten oder durch Bestechung möglich. Die Registrierungsregeln gelten einheitlich im ganzen Land. Die tatsächliche Praxis ist jedoch regional unterschiedlich.

 

(Bericht Auswärtiges Amt vom 17.03.2007, S 28f)

 

... Der Häuserkampf beweist einmal mehr, dass Kremlchef Putin die Lage im Nordkaukasus nicht unter Kontrolle hat. Der Kaukasus-Konflikt, der anfangs nur in Tschetschenien tobte, hat längst auf andere Regionen übergegriffen. So sind Anschläge in Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien und Nordossetien an der Tagesordnung. Dabei sind im Nordkaukasus rund 300.000 russische Soldaten zusammengezogen; die Truppenstärke ist höher als in jeder anderen Region Russlands. ... Die Armut, eine Arbeitslosigkeit von 80 Prozent, feudalistische Gesellschaftsstrukturen mit starken Mafia-Clans, die das Gewaltmonopol des Staates gebrochen haben, eine alte Tradition des Waffentragens sowie die "islamisch Karte" seien zusätzliche Faktoren, die zur "Entstaatlichung" beitragen. In den vergangenen 15 Jahren hat denn auch der Kaukasus sieben bewaffnete Konflikte gesehen, keiner von ihnen ist gelöst (Die Presse, 14.10.2005).

 

Der ungelöste Tschetschenienkonflikt hat längst auch auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus übergegriffen und destabilisiert die gesamte Region. Neben Tschetschenien am meisten betroffen sind Inguschetien und Dagestan. Die gesamte Region ist wirtschaftlich und sozial eine der am meisten benachteiligten in der Russischen Föderation. Sie leidet in ganz besonderem Maß unter Korruption, ethnischen Spannungen und der Machtausübung durch einzelne Clans. In Dagestan finden seit Jahresbeginn 2005 nahezu täglich Sprengstoffanschläge und Schießereien mit Toten und Verletzten statt. Ziel von Anschlägen sind Polizeiautos und -patrouillen, Bahnlinien, Gas- und Stromleitungen und öffentliche Gebäude. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Beobachtern verüben dagestanische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen, allen voran Festnahmen und Folter. Diese Übergriffe sind willkürlich, nicht gegen spezielle Bevölkerungsgruppen gerichtet. Rebellen begehen gezielt Anschläge auf Angehörige der Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen und politische Führungskader.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus folgender Beweiswürdigung:

 

2.1. Die Feststellungen zur Person und zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin ergeben sich aus dem bezüglich dieser Feststellungen glaubwürdigen Vorbringen der Beschwerdeführerin in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt vom 08.07.2004 und in der Berufungsverhandlung vom 29.04.2008 sowie aus den im Verfahren vorgelegten Urkunden.

 

Das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu den regelmäßigen Kontrollen des Hauses durch russische Soldaten, zu der Tatsache, dass nach ihrem älteren Sohn gefragt wurde und sich ihre Kinder aufgrund dieser Kontrollen im Keller des Hauses versteckt hielten, war im gesamten Verfahren widerspruchsfrei. Unter den gegebenen Umständen ist es für den Asylgerichtshof nachzuvollziehen, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens die in der Beschwerde bzw. in der mündlichen Berufungsverhandlung getätigten Angaben zur Unterstützungstätigkeit ihres Ehegatten für die tschetschenischen Rebellen nicht früher gemacht hat, zumal sie in der Einvernahme vor dem Bundesasylamt lediglich dahingehend befragt wurde, ob sie selbst Probleme mit den russischen Behörden gehabt habe, es jedoch für die Beschwerdeführerin nicht unbedingt offensichtlich war, dass sie von den Tätigkeiten ihres Mannes vor seinem Tod erzählen sollte.

 

Nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Erkrankungen der Berufungswerberin, bei der eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde, ist es für den Asylgerichtshof nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens keine vollständigen Angaben zu ihren Fluchtgründen machte und nicht in der Lage war, die Umstände der Kontrollen des Hauses durch russische Soldaten aufgrund der Unterstützung der tschetschenischen Rebellen durch ihren Ehemann sowie zu den Festnahmen des älteren Sohnes zu machen. Auch in der mündlichen Berufungsverhandlung konnte die Beschwerdeführerin etwa keine näheren Angaben zu den Verhaftungen ihres älteren Sohnes machen, zumal sie angegeben hat, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause gewesen sei und dass ihr Sohn über diese Vorfälle nicht spreche.

 

Im Übrigen vermittelte die Beschwerdeführerin in der Berufungsverhandlung durch ihr Auftreten und die Spontanität ihrer Antworten den Eindruck, das Erzählte tatsächlich erlebt zu haben. Sie bemühte sich, ihre Lebensgeschichte und die Fluchtgründe zu schildern und vermochte ein durchaus nachvollziehbares Bild der von ihr erlebten Geschehnisse zu zeichnen, sodass der Asylgerichtshof die Angaben der Beschwerdeführerin als glaubwürdig zu Grunde legen kann. Zudem erscheinen die von der Beschwerdeführerin geschilderten Vorkommnisse sowie die damit zusammenhängenden Befürchtungen auch vor dem Hintergrund der oben getroffenen Feststellungen als plausibel.

 

Die Ausführungen zur Unterstützung der tschetschenischen Rebellen durch den Ehegatten der Beschwerdeführerin, zu den häufigen Kontrollen im Haus der Beschwerdeführerin, zum Versteck der Kinder der Beschwerdeführerin im Keller des Hauses decken sich auch mit den Angaben der Söhne der Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung. Die Ausführungen zu den Festnahmen des Sohnes der Beschwerdeführerin wurden im Übrigen auch von der Tochter der Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer mündlichen Verhandlung (vgl. Verhandlungsprotokoll 258.515/0/4Z-XIV/16/05) bestätigt.

 

2.2. Die Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation einschließlich Tschetschenien stützen sich auf die zitierten Quellen und die aktuelle notorische Medienberichterstattung. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen die Verfahrensparteien nicht entgegengetreten sind, besteht für den Asylgerichtshof kein Grund, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.

 

3. In rechtlicher Hinsicht ist dazu Folgendes auszuführen:

 

3.1. Gemäß § 75 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, sind alle am 31.12.2005 anhängigen Verfahren nach den Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 zu Ende zu führen. § 44 AsylG 1997 gilt.

 

Gemäß § 44 Abs. 1 AsylG 1997 idF der AsylG-Novelle 2003 sind Verfahren über Asylanträge, die bis zum 30. April 2004 gestellt worden sind, nach den Bestimmungen des AsylG idF BG BGBl. I 126/2002 zu führen.

 

Die Beschwerdeführerin hat ihren Asylantrag vor dem 1. Mai 2004 gestellt; das Verfahren war am 31. Dezember 2005 anhängig; das Verfahren ist daher nach dem AsylG idF BG BGBl. I 126/2002 zu führen.

 

3.2. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter weiterzuführen.

 

Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor der nunmehr zuständigen Richterin stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

3.3. Gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

Gemäß § 23 AsylG (bzw. § 23 Abs. 1 AsylG idF der AsylGNov. 2003) ist auf Verfahren nach dem AsylG, soweit nicht anderes bestimmt ist, das AVG anzuwenden. Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die Rechtsmittelinstanz, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

3.4. Gemäß § 7 AsylG hat die Behörde Asylwerbern auf Antrag mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn glaubhaft ist, dass ihnen im Herkunftsstaat Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) droht und keiner der in Artikel 1 Abschnitt C oder F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

 

Flüchtling im Sinne des AsylG 1997 ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Zentraler Aspekt der dem § 7 AsylG 1997 zugrunde liegenden, in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung (vgl. VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0034). Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. VwGH vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011; VwGH vom 21.09.2000, Zl. 2000/20/0241 sowie VwGH vom 14.11.1999, Zl. 99/01/0280). Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 19.04.2001, Zl. 99/20/0273 sowie VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0334). Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheiderlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233 sowie VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318).

 

Besteht für den Asylwerber die Möglichkeit, in einem Gebiet seines Heimatstaates, in dem er keine Verfolgung zu befürchten hat, Aufenthalt zu nehmen, und ist ihm dort die Inanspruchnahme inländischen Schutzes auch zumutbar, so liegt eine inländische Fluchtalternative vor, welche die Asylgewährung ausschließt (vgl. VwGH vom 24.03.1999, Zl. 98/01/0352; VwGH vom 15.03.2001, Zl. 99/20/0134 sowie VwGH vom 15.03.2001, Zl. 99/20/0036). Das einer "inländischen Fluchtalterna

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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