TE AsylGH Erkenntnis 2008/07/31 S12 400653-1/2008

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Veröffentlicht am 31.07.2008
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Spruch

S12 400.653-1/2008/2E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. Maurer-Kober als Einzelrichterin über die Beschwerde der M.A., geb. 00.00.1975, StA.

Russland, p.A.: European Homecare, Betreuungsstelle Traiskirchen, 2514 Traiskirchen, Otto Glöckelstraße 24-26, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 08.07.2008, FZ. 08 03.543 EAST-Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1.1 Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat ihr Heimatland mit dem Zug verlassen, ist am 21.04.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

 

1.2. Bei der Erstbefragung am Tag der Antragstellung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion L. in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Russisch gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie habe Grozny über Moskau, Brest und Teresopol mit dem Zug nach Butam verlassen. Sie sei vom polnischen Staat untergebracht geworden. Sie habe in Polen keinen Asylantrag gestellt. Man habe ihr die Fingerabdrücke abgenommen und sie habe etwas unterschrieben. In Polen gäbe es keine Sicherheit, weshalb sie nach Österreich weitergereist sei. Ihr Heimatland habe sie wegen der politischen Probleme ihres Ehegatten verlassen.

 

Eine Eurodac-Abfrage vom selben Tag ergab, dass die Beschwerdeführerin bereits am 11.03.2008 in Polen einen Asylantrag gestellt hatte.

 

1.3. Am 28.04.2008 richtete das Bundesasylamt ein Wiederaufnahmeersuchen an die zuständige polnische Behörde.

 

1.4. Mit Schreiben vom 29.04.2008 (eingelangt am 05.05.2008) erklärte sich Polen gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrag zuständig ist (in der Folge: Dublin II-VO), für die Wiederaufnahme des Asylwerbers für zuständig.

 

1.5. Am 08.05.2008 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 29 Abs. 3 AsylG mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, seinen Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen (§§ 4, 5, 68 Abs. 1 AVG, §29 Abs.3 Z 4 AsylG), da Dublin Konsultationen mit Polen seit 28.04.2008 geführt werden (vgl. AS 45f).

 

1.6. Bei der am 06.06.2008 stattgefundenen ärztlichen Untersuchung durch einen Arzt der European Homecare GmbH, Ärztestation, in 2514 Traiskirchen, Otto-Glöckel-Straße 24, haben sich keine sicheren Hinweise auf das Vorliegen einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung oder Traumatisierung ergeben. Im Falle einer Überstellung nach Polen würde daher nicht die reale Gefahr bestehen, dass die Beschwerdeführerin aufgrund einer psychischen Störung in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten bzw. sich die Krankheit in lebensbedrohlichem Ausmaß verschlechtern könnte.

 

1.7. Am 11.06.2008 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, nach erfolgter Rechtsberatung in Anwesenheit eines Rechtsberaters sowie eines geeigneten Dolmetschers für die Sprache Russisch niederschriftlich einvernommen und gab dabei im Wesentlichen an, dass sie körperlich und geistig in der Lage sei, die Einvernahme durchzuführen. Sie sei gemeinsam mit ihrem Ehegatten und ihren zwei minderjährigen Kindern in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Ihr drittes Kind sei in Österreich geboren. Sie sei die gesetzliche Vertreterin ihrer drei minderjährigen Kinder und würden alle von ihr gemachten Angaben auch für ihre Kinder gelten. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtigt sei, ihre Ausweisung nach Polen zu veranlassen, brachte sie vor, dass es in Polen zu gefährlich sei. Sie seien von Wahabiten bedroht worden, die von ihnen Geld gefordert hätten. Sie hätten gedroht, sich an ihrer Familie zu rächen, wenn sie bei der Polizei Anzeige erstatten würden oder es jemandem erzählen würden. Sie habe in Polen keine medizinische Versorgung bekommen. Ihre minderjährige Tochter, D.M., sei erst seit der Behandlung in Österreich auf dem Weg der Besserung. Sie sei zwar in Polen behandelt worden, aber ohne Erfolg. Sie selbst sei während ihrer Schwangerschaft an einer Grippe erkrankt und habe hohes Fieber gehabt. Sie habe gebeten, die Rettung zu verständigen. Ihr sei lediglich gesagt worden, dass die Rettung nur in Notsituationen gerufen werde.

 

1.8. Am 12.06.2008 legte die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme der Association for Legal Intervention vor, aus welcher hervorgeht, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung in Polen nach wie vor sehr schwierig sei. Auf eine Behandlung bzw. Untersuchung müssten Asylwerber sehr lange warten. Was die psychologische Betreuung betreffe habe sich die Situation zwar seit dem Projekt der Ärzte ohne Grenzen verbessert, doch sei die Lage immer noch nicht zufriedenstellend und bestünden nicht die Möglichkeiten auf alle Bedürfnisse der Asylwerber mit psychischen Störungen einzugehen. Es seien zwar Praxen in den Aufnahmezentren eingerichtet, doch hätten die Asylwerber nur einmal oder alle zwei Wochen einmal die Möglichkeit mit einem Therapeuten zu sprechen. Die Möglichkeit einer intensiven psychologischen Betreuung bestehe nicht. Auch seien die in den Aufnahmezentren arbeitenden Psychologen nicht auf das Arbeiten mit Kindern spezialisiert.

 

2. Mit dem angefochtenen Bescheid hat das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom 21.04.2008 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutzes gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates Polen zuständig sei. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG wurde die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und festgestellt, dass demzufolge die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG zulässig sei.

 

3. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und behauptete im Wesentlichen die Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Verfassungswidrigkeit sowie infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Die Behörde habe ihre Ermittlungspflicht verabsäumt und sich im Bescheid nicht mit dem konkreten Vorbringen auseinandergesetzt, sondern lediglich Textbausteine verwendet. Der Arzt der European Homecare GmbH habe bei ihrem Ehegatten eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert und ausgesprochen, dass möglicherweise eine medikamentöse Behandlung notwendig sein könnte. Diesbezüglich sei der Ehegatte der Beschwerdeführerin aber nicht weiter behandelt oder von einem Facharzt untersucht worden. Es sei fraglich, ob der nötige Schutz durch die polnischen Behörden gewährleistet sei. Sie und ihre Familie seien von Wahabiten bedroht worden. Sie sei während ihrer Schwangerschaft an einer schweren Grippe erkrankt und habe die polnische Behörde sich vehement geweigert, die Rettung zu verständigen. Sie habe im April in Österreich einen Sohn geboren und würde daher eine Ausweisung einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bedeuten. Entgegen der länderkundlichen Feststellung im erstinstanzlichen Bescheid sei die medizinische Versorgung in Polen keinesfalls gegeben. Weiters hätten Tschetschenen, die in Polen lediglich eine "Duldung" erhalten hätten, keinen Zugang zu Integrationsmaßnahmen, die nur anerkannten Flüchtlingen zugänglich seien.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird der Entscheidung zugrunde gelegt:

 

1.1. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, hat ihr Heimatland verlassen und ist am 21.04.2008 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat am selben Tag den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

 

Die Beschwerdeführerin ist gemeinsam mit ihrem Ehegatten und ihren zwei minderjährigen Kindern nach Österreich gereist. In Österreich hat sie einen Sohn geboren. Weitere Familienangehörige oder Personen, mit denen sie in einer familienähnlichen Gemeinschaft lebt, hat die Beschwerdeführerin in Österreich, im Bereich der EU, Norwegen oder Island nicht.

 

Polen hat sich mit Schreiben vom 29.04.2008 (eingelangt am 05.05.2008) gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO ausdrücklich für die Wiederaufnahme der Asylwerberin für zuständig erklärt.

 

1.2. Die in § 28 Abs. 2 AsylG festgelegte zwanzigtägige Frist zur Erlassung eines zurückweisenden Bescheides nach § 5 AsylG gilt nicht, weil dem Beschwerdeführer das Führen von Konsultationen gemäß der Dublin II-VO binnen Frist mitgeteilt wurde, weshalb kein Übergang der Zuständigkeit an Österreich wegen Fristüberschreitung eingetreten ist.

 

2. Der festgestellte Sachverhalt gründet sich auf folgende Beweiswürdigung:

 

Die oben angeführten Feststellungen ergeben sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt, insbesondere aus den Angaben der Beschwerdeführerin bei der Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 21.04.2008, aus der niederschriftlichen Einvernahme der Beschwerdeführerin vom 11.06.2008 sowie aus der Zuständigkeitserklärung Polens vom 29.04.2008.

 

3. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

3.1. Gemäß §§ 73 Abs. 1 und 75 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 (in der Folge AsylG) iVm § 1 AsylG ist das oben angeführte Gesetz auf Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, die ab dem 01.01.2006 gestellt wurden. Daraus folgt, dass für das gegenständliche Verfahren das AsylG 2005 anzuwenden war.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffes "Berufung" der Begriff "Beschwerde tritt.

 

3.2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin II-VO zur Prüfung des Antrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Behörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 5 Abs. 3 AsylG ist, sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

 

Die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin II-VO ist als negative Prozessvoraussetzung hinsichtlich des Asylverfahrens in Österreich konstruiert. Gegenstand des vorliegenden Berufungsverfahrens ist somit die Frage der Zurückweisung des Asylantrages wegen Zuständigkeit eines anderen Staates.

 

Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO wird ein Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt, von jenem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III (Dublin II-VO) als zuständiger Staat bestimmt wird. Kapitel III enthält in den Artikeln 6 bis 13 Dublin II-VO die Zuständigkeitskriterien, die nach Art. 5 Abs. 1 Dublin II-VO "in der in diesem Kapitel genannten Reihenfolge" Anwendung finden.

 

3.3. Gemäß Art. 16 Abs. 1 lit c Dublin II-VO ist der Mitgliedstaat, der nach der Dublin II-VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist, gehalten, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Antrages unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 wieder aufzunehmen.

 

Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz zurückgewiesen wird. Gemäß § 10 Abs. 2 AsylG sind Ausweisungen nach Abs. 1 unzulässig, wenn 1. dem Fremden im Einzelfall ein nicht auf dieses Bundesgesetz gestütztes Aufenthaltsrecht zukommt oder 2. diese eine Verletzung von Art. 8 EMRK darstellen würden. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ist, wenn die Durchführung der Ausweisung aus Gründen, die in der Person des Asylwerbers liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, gleichzeitig mit der Ausweisung auszusprechen, dass die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben ist. Gemäß § 10 Abs. 4 AsylG gilt eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung gemäß Abs. 1 Z 1 verbunden ist, stets auch als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat. Besteht eine durchsetzbare Ausweisung, hat der Fremde unverzüglich auszureisen.

 

Gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ist der Antrag zuzulassen, wenn das Bundesasylamt nicht binnen zwanzig Tagen nach seiner Einbringung entscheidet, dass er zurückzuweisen ist, es sei denn, es werden Konsultationen gemäß der Dublin II-VO oder einem entsprechenden Vertrag geführt. Dass solche Verhandlungen geführt werden, ist dem Asylwerber innerhalb der 20-Tages-Frist mitzuteilen.

 

3.4. Im gegenständlichen Fall ist das Bundesasylamt ausgehend davon, dass die Beschwerdeführerin bereits in Polen einen Asylantrag gestellt hat und, dass Polen einer Übernahme der Beschwerdeführerin auf Grundlage des Art. 16 (1) c Dublin II-VO am 29.04.2008 zustimmte, zu Recht von einer Zuständigkeit Polens zur Prüfung des Asylantrages ausgegangen.

 

3.5. Zu prüfen bleibt daher, ob Österreich im gegenständlichen Fall verpflichtet wäre, im Hinblick auf Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

 

3.5.1. Der Verfassungsgerichtshof sprach in seinem Erkenntnis vom 08.03.2001, G 117/00 u.a. VfSlg 16.122, aus, dass § 5 AsylG nicht isoliert zu sehen sei; das im Dubliner Übereinkommen festgelegte Selbsteintrittsrecht Österreichs verpflichte - als Teil der österreichischen Rechtsordnung - die Asylbehörde unter bestimmten Voraussetzungen zur Sachentscheidung in der Asylsache und damit mittelbar dazu, keine Zuständigkeitsbestimmung im Sinne des § 5 vorzunehmen. Eine strikte, zu einer Grundrechtswidrigkeit führende Auslegung (und somit Handhabung) des § 5 Abs. 1 AsylG sei durch die Heranziehung des Selbsteintrittsrechtes zu vermeiden. Dieser Rechtsansicht schloss sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23.01.2003, Zl. 2000/01/0498, an.

 

Hatte der Verfassungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 15.10.2005, G 237/03 u.a. ausgesprochen, dass jene zum Dubliner Übereinkommen angestellten Überlegungen auch für das Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin-VO zutreffen, ergänzte er in seinem Erkenntnis vom 17.06.2005, B 336/05-11, dies dahingehend, dass die Mitgliedstaaten nicht nachzuprüfen haben, ob ein bestimmter Mitgliedstaat generell sicher sei, da die entsprechende Vergewisserung durch den Rat erfolgt sei; eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung eines Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat im Einzelfall sei jedoch gemeinschaftsrechtlich zulässig. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass Grundrechte des betreffenden Asylwerbers etwa durch eine Kettenabschiebung bedroht sind, sei aus verfassungsrechtlichen Gründen das Eintrittsrecht zwingend auszuüben.

 

In seinem Erkenntnis vom 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582 (dem ein - die Zuständigkeit Italiens nach dem Dubliner Übereinkommen betreffender - Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates zugrunde lag) sowie in dem (bereits die Dublin-VO betreffenden) Erkenntnis vom 31.05.2005, Zl. 2005/20/0095-9, führte der Verwaltungsgerichtshof aus, dass in Verfahren wie dem gegenständlichen eine Gefahrenprognose zu treffen ist, ob ein - über die bloße Möglichkeit hinausgehendes - ausreichend substantiiertes "real risk" besteht, dass ein aufgrund der Dublin-VO in den zuständigen Mitgliedstaat ausgewiesener Asylwerber trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens, also auch im Falle der Glaubhaftmachung des von ihm behaupteten Bedrohungsbildes, im Zielstaat der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt ist, wobei insbesondere zu prüfen sei, ob der Zielstaat rechtliche Sonderpositionen vertritt, nach denen auch bei der Zugrundelegung der Behauptungen des Asylwerbers eine Schutzverweigerung zu erwarten wäre. Weiters wird ausgesprochen, dass geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat für sich allein genommen keine ausreichende Grundlage dafür sind, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

 

3.5.2. Im gegenständlichen Fall kann nun nicht gesagt werden, dass die Beschwerdeführerin ausreichend substantiiert und glaubhaft dargelegt hätte, dass ihr durch eine Rückverbringung nach Polen die - über eine bloße Möglichkeit hinausgehende - Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Während des gesamten Verfahrens hat die Beschwerdeführerin keine substantiierten Gründe vorgebracht, die gegen eine Überstellung nach Polen sprechen, sondern hat sich im Wesentlichen auf eine allgemeine Kritik an der Situation in Polen beschränkt.

 

Die Beschwerdeführerin stützt ihr Vorbringen darauf, dass sie im April in Österreich eine Tochter geboren habe und daher eine Überstellung nach Polen ihre durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte verletzen würde. Dazu ist darauf hinzuweisen, dass im gegenständlichen Fall seit der Geburt des M.M. (00.00.2008 geb.) bereits mehr als drei Monate vergangen sind. Weder im Hinblick auf die Beschwerdeführerin selbst, noch auf den letztgeborenen Sohn, haben sich Hinweise auf einen bedenklichen Gesundheitszustand ergeben, daher ist davon auszugehen, dass eine gemeinsame Überstellung von Mutter und Kind nach Polen keine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt.

 

Zum Vorbringen der Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdeschrift, wonach die Gesundheitsversorgung in Polen mangelhaft sei, ist auf die im angefochtenen Bescheid getroffenen - auf aktuellen und glaubwürdigen Quellen beruhenden - Feststellungen zu Versorgung von Asylwerbern in den Aufnahmezentren sowie insbesondere zu medizinischen Versorgung zu verweisen, wonach Asylwerber in Polen eine umfassende kostenlose medizinische Versorgung zur Verfügung steht. Ferner sind auch Operationen und Behandlungen außerhalb des Aufnahmezentrums in dringenden Fällen möglich. Der Umstand, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten im Zielland schlechter sind als im Aufenthaltsland, und allfälligerweise "erhebliche Kosten" verursachen, ist nicht ausschlaggebend.

 

Die Beschwerdeführerin hat sohin kein Vorbringen erstattet, welches die Annahme rechtfertigen könnte, dass ihr in Polen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

Ein konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische Asylwerber unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist nicht erstattet worden. In diesem Zusammenhang ist lediglich der Vollständigkeit halber anzuführen, dass von Seiten Polens keine systemwidrigen Verletzungen der Verpflichtungen aus der Dublin II-VO bekannt sind. Auch geringe Asylanerkennungsquoten im Zielstaat sind für sich genommen keine ausreichende Grundlage dafür, dass die österreichischen Asylbehörden vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müssten (vgl. u. a. VwGH vom 31.05.2008, Zl. 2005/20/0095). Im Übrigen erhalten Antragsteller aus Tschetschenien in Polen zumindest tolerierten Aufenthalt.

 

Soweit aus dem Vorbringen bzw. aus der Beschwerde herauszulesen ist, dass die Beschwerdeführerin in Polen möglicherweise kein Asyl erhalten werde und nach Russland abgeschoben werden könnte, ist ihm entgegenzuhalten, dass es nicht Aufgabe der österreichischen Asylbehörden sein kann "hypothetische Überlegungen über den möglichen Ausgang" eines von einem anderen Staat zu führenden Asylverfahrens anzustellen (vgl. u. a. VwGH vom 31.05.2008, Zl. 2005/20/0095).

 

Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach sie in Polen von Wahabiten bedroht worden sei, kann in Ermangelung konkreter Untermauerungen nicht als ausreichend substantiiert und daher nicht als relevant im Hinblick auf eine maßgebliche wahrscheinliche Verletzung des Art. 3 EMRK gewertet werden. Von Amtswegen ist nicht bekannt, dass der polnische Staat grundsätzlich die Menschenrechte nicht achte oder an sich nicht in der Lage sei, Menschenrechte sowie Leib und Leben von Menschen zu schützen, und dem Beschwerdeführer bei allfälligen gegen ihn gerichteten kriminellen Handlungen in Polen nicht die Möglichkeit offen stünde, diese zur Anzeige zu bringen und staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin in Polen im Falle eventueller Übergriffe gegen seine Person, welche im Übrigen in jedem Land möglich wären, an die polnischen Behörden wenden und von diesen Schutz erwarten könnte. Die Beschwerdeführerin wäre daher allfälligen Übergriffen nicht schutzlos ausgeliefert, vielmehr würde die Möglichkeit bestehen, sich an die polnische Polizei zu wenden und Anzeige zu erstatten.

 

Somit kann im konkreten Fall auch vor diesem Hintergrund bei einer Überstellung nach Polen kein reales Risiko für die Beschwerdeführerin erblickt werden.

 

Aus der Rechtsprechung des EGMR lässt sich ein systematische, notorische Verletzung fundamentaler Menschenrechte in Polen keinesfalls erkennen und gelten im Übrigen die Mitgliedstaaten der EU als sichere Staaten für Drittstaatsangehörige. Zudem war festzustellen, dass ein im besonderen Maße substantiiertes Vorbringen bzw. das Vorliegen besonderer von dem Beschwerdeführer bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen ließen, im Verfahren nicht hervorgekommen sind. Konkret besteht kein Anhaltspunkt dafür, dass etwa die Beschwerdeführerin im Zuge einer so genannten "ungeprüften Kettenabschiebung" in sein Heimatland, also nach Russland zurückgeschoben werden könnte.

 

Wenn die Beschwerdeführerin in der Beschwerdeschrift behauptet, das Bundesasylamt habe lediglich Textbausteine verwendet und sich nicht darum bemüht, individuell auf den gegenständlichen Fall bezogen zu ermitteln und zu entscheiden, sondern habe allgemeine Phrasen auf den Fall angewendet, so kann dies anhand des gegenständlichen Verfahrens nicht nachvollzogen werden. Aus dem erstinstanzlichen Bescheid geht jedenfalls hervor, dass sich das Bundesasylamt mit dem konkreten Vorbringen der Beschwerdeführerin im angefochtenen Bescheid auseinandergesetzt hat.

 

Der Asylgerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführerin in Polen keine reale Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung drohen würde.

 

3.5.3. Ferner ist eine Überprüfung gemäß Art. 8 EMRK dahingehend vorzunehmen, ob die Beschwerdeführerin über im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK relevante Verbindungen in Österreich verfügt.

 

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

Im gegenständlichen Fall hat die Beschwerdeführerin selbst angegeben, dass sie keine Verwandten in Österreich sowie im Bereich der EU (einschließlich Norwegen und Island) habe, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis oder eine besondere Nahebeziehung bestehe. Folglich würde die Beschwerdeführerin bei einer Überstellung nach Polen in ihrem durch Art. 8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden. Da auch die mit der Beschwerdeführerin gemeinsam eingereisten Familienmitglieder, welche ebenfalls Asylanträge gestellt haben, eine negative Ausweisungsentscheidung erhalten haben und somit die gesamte Familie nach Polen überstellt wird, ist auch in diesem Zusammenhang kein Eingriff in Art. 8 EMRK gegeben.

 

3.5.4. Zusammenfassend kann daher gesagt werden, dass kein Anlass für einen Selbsteintritt Österreichs gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO aufgrund einer drohenden Verletzung von Art. 3, 8 EMRK besteht.

 

3.5.5. Festzuhalten ist auch, dass die in § 28 Abs. 2 AsylG normierte 20-tägige Frist im gegenständlichen Fall eingehalten worden ist.

 

3.5.6. Hinsichtlich Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides ist noch auszuführen, dass keine Hinweise für eine Unzulässigkeit der Ausweisung im Sinne des § 10 Abs. 2 AsylG ersichtlich sind, da weder ein nicht auf das AsylG gestütztes Aufenthaltsrecht aktenkundig ist noch die Beschwerdeführerin in Österreich über Angehörige im Sinne des Art. 8 EMRK verfügt. Darüber hinaus sind auch keine Gründe für einen Durchführungsaufschub gemäß § 10 Abs. 3 AsylG ersichtlich. Was schließlich den seitens des Bundesasylamtes im Bescheidspruch aufgenommenen Ausspruch über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen anbelangt, so ist darauf hinzuweisen, dass die getroffene Ausweisung, da diese mit einer Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG verbunden ist, gemäß § 10 Abs. 4 erster Satz AsylG schon von Gesetzes wegen als Feststellung der Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in den betreffenden Staat gilt.

 

3.5.7. Die Beschwerde erwies sich somit als nicht berechtigt und war daher spruchgemäß abzuweisen.

 

3.5.8. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG abgesehen werden.

Schlagworte
Ausweisung, medizinische Versorgung, Rechtsschutzstandard, Sicherheitslage
Zuletzt aktualisiert am
17.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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