TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/06 S1 316841-2/2008

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Veröffentlicht am 06.08.2008
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Spruch

S1 316.841-2/2008/3E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Dr. Filzwieser als Einzelrichter über die Beschwerde der D.A., geb. 00.00.1979, StA. Russland, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 11.07.2008, FZ. 08 02.828 EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 5, 10 AsylG idF BGBL. I Nr. 4/2008 als unbegründet abgewiesen.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Behörde ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt. Die Beschwerdeführerin stellte am 26.10.2007 - gemeinsam mit ihrem Gatten M.S. (GZ: 316.840-1/2E-VIII/23/08) und ihren zwei minderjährigen Töchtern M.L. (GZ: S1 316.842-2/2008/1) und M.R. (GZ: S1 316.843-2/2008/1) - den Antrag, ihr internationalen Schutz zu gewähren.

 

2. Am selben Tag hat vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Traiskirchen eine Erstbefragung sowie am 21.11.2007 eine Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, in Gegenwart eines Rechtsberaters, stattgefunden.

 

3. Am 29.10.2007 richtete das Bundesasylamt an Polen ein Ersuchen um Wiederaufnahme der Beschwerdeführerin gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II VO), welches am selben Tag elektronisch über DubliNET übermittelt wurde.

 

4. Am 30.10.2007 bestätigte die Beschwerdeführerin mit ihrer Unterschrift den Erhalt der Mitteilung des Bundesasylamtes gemäß § 29 Abs. 3 Z. 4 AsylG vom 10.04.2008, wonach beabsichtigt sei, den Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da Konsultationen mit Polen geführt würden. Die Mitteilung über die Führung von Konsultationen wurde der Beschwerdeführerin sohin innerhalb der 20-Tagesfrist nach der Antragseinbringung, übermittelt.

 

5. Mit Schreiben vom 30.10.2007, eingelangt beim Bundesasylamt am 31.10.2007, stimmten die polnischen Behörden der Übernahme der Beschwerdeführerin zur Prüfung des Asylantrags gem. Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II-VO zu.

 

6. Am 15.11.2007 wurde die Beschwerdeführerin von Frau Dr. I.H., MSc, Ärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutische Medizin, untersucht. Im Rahmen der gutachterlichen Stellungnahme kam die Ärztin zu der Schlussfolgerung, dass bei der Beschwerdeführerin keine belastungsabhängige psychische Störung festgestellt werden konnte und dass aus medizinischer Sicht einer Ausweisung nach Polen nichts entgegenstehe.

 

7. Mit Bescheid vom 17.11.2007, Zl. 07 10.012-EAST Ost wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs 1 AsylG in Spruchteil I. zurück und erklärte Polen gemäß Art 16 Abs. 1 lit. c EG-VO 343/2003 als zur Prüfung des Antrags zuständig. In Spruchteil II. wurde die Antragstellerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen.

 

8. Der seinerzeitige Unabhängige Bundesasylsenat hat die dagegen gerichtete gemeinsame Berufung der Beschwerdeführerin mit ihrem Ehegatten und Kindern, mit Bescheid vom 14.01.2007, Zl. 316.841-1/2E-VIII/23/08 gemäß §§ 5, 10 AsylG abgewiesen, dies im Wesentlichen mit der Begründung, dass im vorliegenden Fall keine reale Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung bestehe. Die erkennende Behörde könne auch keinen Anhaltspunkt dafür finden, dass etwa durch die Rückschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen eine Verletzung von Art. 8 EMRK drohen würde. Da solcherart keine Verletzung von Bestimmungen der EMRK zu befürchten sei, hätte auch keine Veranlassung der österreichischen Asylbehörden bestanden, von dem in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO vorgesehenem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen und eine inhaltliche Prüfung des Asylantrages vorzunehmen.

 

9. Der oben genannte Bescheid des UBAS wurde am 29.01.2008 zugestellt und erwuchs in Rechtskraft.

 

10. Am 29.01.2008 erfolgte die Überstellung der Beschwerdeführerin mit ihren minderjährigen Töchtern nach Polen. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin M.S. tauchte unter, womit die Überstellung vereitelt wurde.

 

11. Am 26.03.2008 stellte die Beschwerdeführerin erneut in Österreich - gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern M.L. (GZ: S1 316.842-2/2008/1) und M.R. (GZ: S1 316.843-2/2008/1) - den Antrag, ihr internationalen Schutz zu gewähren.

 

12. Am selben Tag hat vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes in Traiskirchen eine Erstbefragung sowie am 14.05.2008 eine Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, in Gegenwart eines Rechtsberaters, stattgefunden.

 

13. In der Einvernahme am 14.05.2008 gab die Beschwerdeführerin in Gegenwart eines Rechtsberaters an, dass ihrem Mann und ihr von den Leuten Kadyrovs Gefahr drohe. Nach ihrer Abschiebung aus Österreich nach Polen seien zwei Männer aus einem Auto mit dunklen Scheiben zu ihr gekommen und hätten sie nach ihrem Mann gefragt. Auf die Frage woher die Männer wissen sollten, dass die Antragstellerin die Gattin des Mannes ist, den sie suchen, entgegnete sie, die Männer wüssten alles; ihr Mann habe als Taxifahrer für die Widerstandskämpfer gearbeitet. Sie habe den Vorfall bei der Polizei nicht gemeldet. Der Verlegung in ein anderes Flüchtlingslager habe sie nicht zugestimmt, worauf ihr das Taschengeld gestrichen worden sei. Sie sei dort auch medizinisch versorgt worden. Sie wolle in Österreich bleiben, weil es hier ruhig sei und sie vor den Leuten Kadyrovs sicher sei.

 

14. Am 31.03.2008 richtete das Bundesasylamt an Polen ein Ersuchen um Wiederaufnahme der Beschwerdeführerin gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II VO), welches am selben Tag elektronisch über DubliNET übermittelt wurde.

 

15. Am 04.04.2008 bestätigte die Beschwerdeführerin mit ihrer Unterschrift den Erhalt der Mitteilung des Bundesasylamtes gemäß § 29 Abs. 3 Z. 4 AsylG vom 10.04.2008, wonach beabsichtigt sei, den Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen, da Konsultationen mit Polen geführt würden. Die Mitteilung über die Führung von Konsultationen wurde der Beschwerdeführerin sohin innerhalb der 20-Tagesfrist nach der Antragseinbringung, übermittelt.

 

16. Mit Schreiben vom 20.04.2008, eingelangt beim Bundesasylamt am 04.04.2008, stimmten die polnischen Behörden der Übernahme der Beschwerdeführerin zur Prüfung des Asylantrags gem. Art. 16 Abs. 1 lit. c der Dublin II-VO zu.

 

17. Die Beschwerdeführerin hielt sich vom 15.06.2008 bis 20.06.2008 wegen einer Gallenblasenoperation im Landesklinikum stationär auf (AS 107 des Verwaltungsaktes). Nach telefonischer Rücksprache des Bundesasylamtes mit OA Dr. H.T. wurde mitgeteilt, dass Patienten nach einer derartigen Operation für gewöhnlich zwei Wochen im Krankenstand seien und danach voll arbeitsfähig bzw. belastbar seien. Zusammengefasst stelle die Operation bzw. der gegenwärtige Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin keinesfalls einen Hinderungsgrund für eine Überstellung nach Polen dar (AS 109 des erstinstanzlichen Verwaltungsaktes).

 

18. Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 11.07.2008, Zl: 08 02.828 EAST Ost, den Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG festgestellt, dass die Abschiebung nach Polen zulässig sei.

 

Die Erstbehörde traf in diesem Bescheid umfangreiche Feststellungen zum polnischen Asylverfahren, zur Praxis des Non-Refoulement-Schutzes, der Ausweisung und zur Versorgung von Asylwerbern in Polen.

 

Beweiswürdigend wurde hervorgehoben, dass die Antragstellerin keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht habe, dass sie tatsächliche Gefahr liefe, in Polen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen wäre oder ihm eine Verletzung der in Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte drohe. Die Antragstellerin sei in Polen keinen unmenschlichen Handlungen ausgesetzt gewesen. Die polnischen Sicherheitsbehörden würden der Antragstellerin Schutz gewähren können.

 

19. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht am 24.06.2008 Beschwerde erhoben. Darin wird die Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung, Verfassungswidrigkeit sowie infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht. Damit missachte das Bundesasylamt § 34 Abs. 1 Z 3 iVm § 2 Z 22 AsylG, wonach Verfahren von der gesamten Kernfamilie gemeinsam geführt werden müssen. Die Behörde habe unzulässigerweise das Verfahren ihres Mannes von ihrem getrennt. Sie hätte mit der Entscheidung ihrer Sache abwarten müssen, bis auch die Sache ihres Mannes entscheidungsreif sei. Damit sei die Erlassung des Bescheides aufgrund eines schweren Verfahrensmangels mit Rechtswidrigkeit belastet und aufzuheben, sowie in weiterer Folge das Verfahren ihres Mannes gemeinsam mit ihrem und ihrer gemeinsamen Kinder zu führen. Weiters wir darin ausgeführt, dass Polen für die Beschwerdeführerin und ihre Familie kein sicherer Dublinstaat sei. Sie selbst sei in Polen mehrere Male von Männern mit Bärten, die sie in einem Auto aufsuchten, nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes gefragt worden. Sie würden nach ihm suchen, weil er als Taxifahrer für die Widerstandskämpfer in Tschetschenien gearbeitet habe. Offenbar wüssten ihre Verfolger also, dass sie sich in Polen aufgehalten haben und würden sie deswegen keine Ruhe in Polen finden. Sie würden sich in großer Gefahr befinden. Im Falle einer Abschiebung nach Polen drohe eine Verletzung nach Art. 3 bzw. Art. 2 EMRK.

 

Der Ehegatte der Beschwerdeführerin M.S. wurde am 29.07.2008 nach Polen/Warschau überstellt (Aktenvermerk der B-Referentin vom 31.07.2008).

 

Die gegenständliche Beschwerde samt erstinstanzlichem Verwaltungsakt langte am 30.07.2008 beim Asylgerichtshof ein.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die gegenständliche Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG idF BGBL. I Nr. 100/2005) und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

Gemäß § 23 AsylGHG sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt.

 

2.1. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.02.2003 zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs 3 und Abs 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden. Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw 14 und Art. 15 Dublin II VO, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

2.1.1.1. Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit der Republik Polen gemäß Art. 16 Abs 1 lit c Dublin II VO kraft vorangegangener erster Asylantragstellung in der Europäischen Union gemäß Art 13 Dublin II VO weiterhin besteht. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben und ist diese im Verfahren nicht bestritten worden.

 

Ebenso unbestrittenermaßen ist im Asylverfahren der Beschwerdeführerin noch keine Sachentscheidung in Polen gefallen.

 

2.1.1.2. Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006, Zl. 2005/20/0444). Das Konsultationsverfahren erfolgte mängelfrei.

 

Im Lichte des Art. 7 VO 1560/2003 ergibt sich auch keine Verpflichtung seitens der beteiligten Mitgliedstaaten oder seitens der Regelungen der Dublin II VO, dass die Überstellung in einer Weise durchgeführt wird, die potentiell belastenden Zwangscharakter aufweist.

 

2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs 2 Dublin II VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11 festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs 2 Dublin II VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des VwGH zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich richtigerweise an die Rechtsprechung des EGMR an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art. 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, Zl. 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, Zl 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, Zl. 98/18/0317; vgl auch VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059): "Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl VwGH 17.02.1998, Zl. 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art. 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art. 16 Abs 1 lit. e Dublin II VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, Zl. 2002/20/0582, VwGH 31.05.2005, Zl. 2005/20/0025, VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO, K13. zu Art 19 Dublin II VO).

 

Weiterhin hatte der Asylgerichtshof folgende Umstände zu berücksichtigen:

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen.

 

Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen hat, diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II VO², K8-K13. zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat jüngst festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, Zl. 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären (dementsprechend in ihrer Undifferenziertheit verfehlt, Feßl/Holzschuster, AsylG 2005, 225ff). Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte, als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls gemeinschaftsrechtswidrig.

 

2.1.2.1. Mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK

 

Es leben den Angaben der Beschwerdeführerin nach (abgesehen von ihren minderjährigen zwei Töchtern M.L. und M.R., die ebenfalls Asylwerberinnen im Familienverfahren der Beschwerdeführerin sind) keine Angehörigen der Kernfamilie der Beschwerdeführerin in Österreich, zu denen eine außergewöhnliche Nahebeziehung im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses bestehe. Aufgrund der bereits erfolgten Überstellung des Ehegatten der Beschwerdeführerin nach Polen brauchte auf das diesbezügliche Familienverhältnis in Österreich nicht mehr eingegangen zu werden. Die Frage der Zulässigkeit dieser Überstellung zum erfolgten Zeitpunkt (eine rechtskräftige Entscheidung zu dessen Person seitens des ehemaligen UBAS lag jedenfalls vor) liegt außerhalb des vorliegenden Verfahrensgegenstandes und war daher darauf nicht mehr näher einzugehen. Folglich würde die Beschwerdeführerin bei einer Überstellung nach Polen in ihren durch Art. 8 EMRK verfassungsrechtlich gewährleistetem Recht auf Achtung und Privat- und Familienlebens nicht verletzt werden. Es liegen auch sonst keine Hinweise auf eine bereits erfolgte außergewöhnliche Integration in Österreich, etwa aufgrund sehr langer Verfahrensdauer, vor (vgl VfGH vom 29.09.2007, Zl. B 1150/07, VfGH vom 01.10.2007, Zl. G 179, 180/07).

 

2.1.2.2. Kritik am polnischen Asylwesen

 

Hiezu ist einleitend festzuhalten, dass die seinerzeitige Judikatur zu § 4 AsylG 1997 und vor dem Beitritt zur Europäischen Union am 01.04.2006 nicht mehr unmittelbar relevant ist (zuletzt VwGH 25.04.2006, Zl. 2006/19/0673). Konkretes Vorbringen, das geeignet wäre, anzunehmen, dass Polen in Hinblick auf tschetschenische AsylwerberInnen unzumutbare rechtliche Sonderpositionen vertreten würde, ist nicht erstattet worden. Der bloße Umstand, dass eine Reihe von Asylverfahren negativ endet (wobei in Polen notorischerweise AntragstellerInnen aus Tschetschenien zumindest tolerierten Aufenthalt erhalten) ist mangels Bestehen eines allgemeinen Konsens über eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen in Russland (auch in Österreich wird eine solche in der Regel nicht bejaht) und mangels verifizierbarer Angaben über ein Fehlverhalten polnischer Behörden im vorliegenden Fall kein ausreichendes Argument die Regelvermutung des § 5 Abs 3 AsylG erschüttern zu können.

 

2.1.2.2.1 Hervorzuheben ist insbesondere, dass bei tschetschenischen AntragstellerInnen aus Tschetschenien aus Polen praktisch keine Abschiebungen in die Russische Föderation erfolgen (siehe im Erstbescheid, Seite 16 unten zitierte Mitteilung der polnischen Asylbehörde vom 18.03.2008). Die Einführung des "subsidiären Schutzstatus" neben Flüchtlingsstatus und "tolerated stay" lässt ebenso keine potentielle Gefährdung tschetschenischer Schutzsuchender erkennen, sodass auf die näheren Details des Inkrafttretens der jeweiligen Regelungen und des genauen Inhalts vorangegangener Gesetzesänderungen hier mangels Entscheidungsrelevanz nicht näher einzugehen war, da jedenfalls keine dieser Gesetzesänderungen Grund zur Annahme gibt, dass Polen nunmehr allgemein oder im Besonderen gegenüber tschetschenischen Schutzsuchenden bedenkliche Sonderpositionen verträte.

 

2.1.2.3. Bedrohung durch russische/tschetschenische Staatsangehörige in Polen

 

Bezüglich der von der Beschwerdeführerin in den Raum gestellten Sicherheitsbedenken In Polen (Angst vor Kadyrov-Leuten, welche sie aufgesucht haben sollen und Angst davor von den Verfolgern aufgrund der geographischen Nähe Polens zu Russland aufgefunden zu werden) schließt sich der Asylgerichtshof der diesbezüglich schlüssigen Beweiswürdigung des Bundesasylamtes (Seite 19 und 20 des Erstbescheides) an. Dem wurde auch in der Berufungsschrift nichts Konkretes entgegengesetzt. Im Übrigen hat sich die Beschwerdeführerin wegen der behaupteten Verfolgung durch Kadyrov-Leuten in Polen nicht an die polnische Polizei gewandt und einer Verlegung ihres Flüchtlingslagers hat sie nicht zugestimmt, obwohl dies aus Sicherheitsgründen angebracht gewesen wäre - wenn man den Ausführungen der Beschwerdeführerin folgte. Jedenfalls wäre die Beschwerdeführerin allfällig befürchteten Angriffen nicht wehrlos ausgesetzt, sondern es steht ihr die Möglichkeit offen, allfällige gegen sie gerichtete kriminelle Handlungen in Polen bei der Polizei zur Anzeige zu bringen und dort staatlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Somit kann im konkreten Fall bei einer Rückkehr insgesamt kein reales Risiko für die Beschwerdeführerin erblickt werden.

 

2.1.2.4. Zusammenfassend sieht der Asylgerichtshof im Einklang mit der diesbezüglichen Sichtweise des Bundesasylamtes keinen Anlass, Österreich zwingend zur Anwendung des Art 3 Abs 2 VO 343/2003 infolge drohender Verletzung von Art 3 oder Art 8 EMRK zu verpflichten.

 

2.1.3. Spruchpunkt I der erstinstanzlichen Entscheidung war sohin bei Übernahme der Beweisergebnisse und rechtlichen Würdigung des Bundesasylamtes mit obiger näherer Begründung zu bestätigen.

 

2.2. Spruchpunkt II:

 

Die Erwägungen der Erstbehörde zu Spruchpunkt II waren vollinhaltlich zu übernehmen. Auch im Beschwerdeverfahren sind keine Hinweise hervorgekommen, die eine Aussetzung der Überstellung der Beschwerdeführerin erforderlich erscheinen ließen. Diese erweist sich daher bezogen auf den Entscheidungszeitpunkt als zulässig.

 

2.3. Gemäß § 41 Abs 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. Eine gesonderte Erwägung bezüglich einer allfälligen Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung konnte angesichts des Spruchinhaltes entfallen.

 

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Ausweisung, Familienverfahren, Rechtsschutzstandard
Zuletzt aktualisiert am
15.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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