TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/08 S8 400050-1/2008

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Veröffentlicht am 08.08.2008
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Spruch

S8 400.050-1/2008/8E E R K E N N T N I S

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. BÜCHELE als Einzelrichter über die Beschwerde des M. T., geb. 00.00.1990, StA. Russische Föderation, vertreten durch Mag. Gerhard BOUSKA, SOS-Kinderdorf Clearing-house in 5026 Salzburg-Aigen, Schwanthalerstraße 43a, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 09.06.2008, Zahl: 08 02.622-EAST-WEST, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005, stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Der Verfahrensgang vor der erstinstanzlichen Bescheiderlassung ergibt sich aus dem erstinstanzlichen Verwaltungsakt.

 

Das Bundesasylamt hat mit dem angefochtenen Bescheid vom 09.06.2007, Zahl: 08 02.622-EAST-WEST, den Asylantrag des Beschwerdeführers ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und gleichzeitig ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Asylantrages gemäß Artikel 16 Abs.1 lit. c Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (kurz: Dublin-Verordnung) Polen zuständig sei. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung zulässig sei.

 

2. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Berufung erhoben, worin Ausführungen zur Lage in Polen, welche nicht sicher sei, getätigt wurden und Verletzung der nach Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte geltend gemacht wurde. Er sei in Tschetschenien von "Kadyrov-Leuten" schwer misshandelt worden, weil er sich weigerte eine Dienstverpflichtung für den Sicherheitsdienst einzugehen. Er habe Tschetschenien verlassen müssen, weil er dort seines Lebens nicht mehr sicher gewesen sei. Er sei gesundheitlich schwer beeinträchtig und leide unter Depression und Panikattacken. In Polen sei er von Tschetschenischen Landsleuten bedroht worden, weil er den "Kadyrov-Leuten" zugerechnet worden sei. Er sei in Polen nicht sicher und könne deshalb dorthin nicht mehr zurück. Bezüglich der schweren Erkrankung des Berufungswerbers sei das Beweisverfahren mangelhaft geblieben. Die ärztliche Beurteilung im Asylverfahren, dass kein Gesundheitsrisiko bei der Überstellung nach Polen bestünde, sei falsch; eine Selbstgefährdung auf Grund seines gesundheitlichen Zustandes könne nicht ausgeschlossen werden. Er benötige seinen Bruder, der in Österreich als anerkannter Asylwerber mit seiner Familie lebe, zu seiner finanziellen, psychologischen Unterstützung.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die gegenständliche Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem der Berufungsbehörde vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

Mit Datum 01.01.2006 ist das neue Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 4/2008, (in der Folge: AsylG 2005) in Kraft getreten und ist somit auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

 

2.1. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin-Verordnung zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs.1 Z1 AsylG 2005 ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs.3 und Abs.4 AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden. Die Dublin-Verordnung ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der ersten Säule der Europäischen Union (vgl. Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

2.1.1. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs.1 Dublin-Verordnung) Kriterien der Art. 6 bis Art. 12 bzw. Art. 14 und Art. 15 Dublin-Verordnung, beziehungsweise dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin-Verordnung zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit Polens gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung besteht. Eine solche Zuständigkeit wurde von Polen auch ausdrücklich anerkannt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

2.1.2. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Berufung - noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

2.1.2.1. Der Berufungswerber hat vorgebracht, dass sein Bruder in Österreich mit seiner Familie als anerkannter Asylwerber lebe, dessen Unterstützung er auf Grund seiner gesundheitlichen Situation dringend benötige.

 

Wie man schon aus dem Familienbegriff des Art. 15 Dublin-Verordnung und dem Gebot, die Dublin-Verordnung im Einklang mit der EMRK auszulegen (vgl. Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II-Verordnung - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007), erkennt, kann aber eine familiäre Beziehung wie im vorliegenden Fall, sofern sie hinreichend intensiv ist auch ausnahmsweise zu einem durchsetzbaren Zwang zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung zur Vermeidung einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen. Hinzu kommt aber entscheidend, dass der Beschwerdeführer an einer psychischen Erkrankung leidet. Die dadurch erhöhte Vulnerabilität des noch minderjährigen Beschwerdeführers vermag eine Zusammenführung mit Familienangehörigen im weiteren Sinn, beziehungsweise Bezugspersonen angezeigter lassen erscheinen als im Normalfall. Dies kann im Ausnahmefall wiederum zur zwingenden Annahme des Selbsteintrittsrechts führen (vgl. ausdrücklich Filzwieser/Liebminger, Dublin II-Verordnung, K14. zu Art. 15, vgl. weiter der Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 13.07.2007, Zl. 312.942-1/3E-XV/53/07).

 

Um dies alles feststellen zu können, muss die Erstbehörde ergänzende Erhebungen durchführen, ob eine derartige enge, auf Dauer ausgerichtete Beziehung, respektive ein exzeptionelles Abhängigkeitsverhältnis derzeit mit dem Bruder des Beschwerdeführers gegeben ist. Zum Verwandten des Beschwerdeführers in Österreich hat die Erstbehörde zwar im angefochtenen Bescheid Ausführungen getätigt. Sie hat sich jedoch nicht mit der (privat)fachgutachtlichen Stellungnahme der Klinik unter dem Aspekt der möglichen Verletzung der Recht nach Art. 3 iVm Art. 8 EMRK zum Beschwerdeführer auseinandergesetzt.

 

Im vorliegenden Fall bringt der Beschwerdeführer - wie bereits bei der Befragung im Verfahren vor dem Bundesasylamt - vor, dass er in der Klinik untersucht worden sei; dabei sei eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt worden und auch auf physische Auffälligkeiten hingewiesen worden.

 

2.1.2.2. Es ist nach der Aktenlage daher nicht ausgeschlossen, dass das zwingende Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Österreichs auf Grund einer möglichen Verletzung der nach Art. 3 und Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte ausgeübt werden muss.

 

Nach einer so erfolgten Feststellung des Eingriffs in von Art. 3 iVm Art. 8 EMRK geschützte Rechte des Beschwerdeführers hat eine nachvollziehbare Abwägung mit den öffentlichen Interessen an der Effektuierung der Ausweisungsentscheidung neuerlich zu erfolgen.

 

2.1.3. Zusammenfassend ist noch einmal klarzustellen, dass das Bundesasylamt auf Basis der aufgetragenen ergänzenden Ermittlungen klar festzustellen haben wird, ob derzeit eine enge dauerhafte Beziehung des Berufungswerbers zur Bezugspersonen/Verwandten vorliegt. Sodann ist eine Ausweisung unter Beachtung seines psychischen Krankheitszustandes, sowohl unter Gesichtspunkten des Art. 3 als auch Art. 8 EMRK nur zulässig, wenn die erwähnte Interessensabwägung zu Lasten des Berufungswerbers ausfällt; dies auch unter Beachtung des Gebots der effektiven Vollziehung der Dublin-Verordnung aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. Dies hat auch die Europäische Kommission in ihrer jüngsten Evaluation die Bedeutung des Selbsteintrittsrechts zur Wahrung menschenrechtlicher Gesichtspunkte hervorgestrichen (06.06.2007, Seite 7 Mitte). Beim ergänzenden Verfahren hat sich das Bundesasylamt auch mit der (privat)fachgutachtlichen Stellungnahme der Klinik unter den oben aufgezeigten Gesichtspunkten zum Beschwerdeführer auseinanderzusetzen.

 

2.2. Gemäß § 41 Abs. 4 AsylG 2005 konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden. - eine unverzügliche Erledigung der Berufung unmöglich ist.

Schlagworte
Abhängigkeitsverhältnis, familiäre Situation, gesundheitliche Beeinträchtigung, Gutachten, Intensität, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung
Zuletzt aktualisiert am
15.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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