TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/12 E2 317255-1/2008

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Veröffentlicht am 12.08.2008
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Spruch

E2 317.255-1/2008-7E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. HUBER-HUBER als Einzelrichter über die Beschwerde des R.A., geb. 00.00.1990, StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 15.01.2008, FZ. 07 03.860-BAS nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2008 zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird stattgegeben und R.A. der Status eines Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass R.A. kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

 

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 21.04.2007 illegal in das Bundesgebiet von Österreich ein und stellte am 22.04.2007 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er gab an, 1990 geboren zu sein, aus Afghanistan zu kommen und der Volksgruppe der Hazare sowie der sunnitischen Religion anzugehören.

 

2. Am 01.08.2007 und am 25.09.2007 erfolgte die asylbehördliche Einvernahme des Beschwerdeführers. Der Beschwerdeführer gab an, seine Heimat verlassen zu haben, weil er dort mit dem Tode bedroht wurde. Seine Eltern und seine Brüder seien nach dem Zusammenbruch des Talibanregimes von ihm namentlich bekannten Männern getötet worden. Zunächst sein Vater und sein älterer Bruder, ca. ein Jahr später auch seine Mutter und sein jüngerer Bruder. Dabei drangen die Täter in das Haus der Familie ein. Der Beschwerdeführer befand sich zur Zeit des zweiten Anschlages in einem anderen Zimmer und konnte daher flüchten. Später hätte ihm ein Nachbar mitgeteilt, dass diese Personen auch ihn töten würden. Als Grund für die Ermordung seiner Familie gab der BF an, dass diese Männer für Morde Rache nahmen, die sein Vater und sein älterer Bruder begangen hatten. Letztendlich blieb ihm nur die Flucht aus Afghanistan.

 

3. Das Bundesasylamt wies mit dem Bescheid vom 15.01.2008, Zahl: 07 03.860-BAS den Antrag auf internationalen Schutz des BF gem. § 3 Abs. 1 AsylG ab und erkannte den Status des Asylberechtigten nicht zu (Spruchpunkt I); darüber hinaus erkannte es aber dem Antragsteller gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte dem Antragsteller eine befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 15.01.2009 (Spruchpunkt III.).

 

4. Gegen Spruchpunkt I des bezeichneten Bescheides, zugestellt am 17.01.2008, richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 28.01.2008.

 

5. Der Asylgerichtshof - zum gegebenen Zeitpunkt noch als Unabhängiger Bundesasylsenat - führte in der Sache des BF am 06.05.2008 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der BF; sowie als dessen gesetzlicher Vertreter die Jugendwohlfahrt der BH Feldkirch, vertreten durch Frau MMag. Elisabeth POHN, und ein Dolmetscher für die Sprache Dari teilnahmen. Ein geladener Vertreter des Bundesasylamtes ist zur öffentlichen mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht erschienen.

 

6. Am 22.06.2008 erreichte der BF die Volljährigkeit.

 

II. Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens:

 

1. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wurde Beweis erhoben durch:

 

Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Verfahrensakt;

 

Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung;

 

Einsichtnahme in folgende Länderdokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat und die Herkunftsregion des BF sowie deren Erörterung in der mündlichen Verhandlung:

 

Home Office, Country of Origin Information Report Afghanistan vom 07.09.2007

 

Anfragebeantwortung von Accord zum Thema "Kreis der von der Blutrache betroffenen Familienangehörigen unter Afghanen"

 

Bericht des auswärtigen Amtes Berlin vom 07.03.2008 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan mit Stand Februar 2008

 

UNHCR Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender aus dem Jahre 2008

 

Bericht Country Report Afghanistan vom 21-22.06.2007

 

III. Der Asylgerichtshof geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem Sachverhalt aus:

 

2.1. Zur Person des BF:

 

Der BF ist Staatsangehöriger der islamischen Republik Afghanistan, zur Volksgruppe der Hazare zugehörig und lebte die letzten fünf Jahre bis zu seiner Ausreise in Kabul. Der BF stammt aus dem Dorf D. im Bundesland Parvan. Ende des Jahres 2006 hat er, ohne im Besitz von Reisedokumenten zu sein, Afghanistan verlassen und ist nach Österreich gereist, wo er am 21.04.2007 illegal einreiste und am 22.04.2007 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

 

2.2. Zum Asylvorbringen des BF:

 

Der BF lebte gemeinsam mit seinen Eltern sowie seinen beiden Brüdern in D.. Bei seinem Vater und seinem älteren Bruder M. handelte es sich um Taliban-Kämpfer. In ihrer Funktion töteten sie eine Person namens R. und Familienangehörige von H. und R.M.. Die beiden Letztgenannten waren Kommandanten der Taliban-Gegner und einflussreiche, bekannte Persönlichkeiten in der Region S.. Im Zeitpunkt des Regimezusammenbruchs der Taliban im Jahr 2001 nahmen die zwei Brüder und R.H. und M. Rache für ihre Familienangehörigen. Sie töteten sowohl den Vater als auch den älteren Bruder des BF. Ein Jahr darauf wurden auch die Mutter und der jüngere Bruder des BF ermordet. Der BF selbst entging nur deshalb seiner Ermordung, weil er in einem anderen Zimmer geschlafen hatte. Da er durch die Schüsse aus dem Nebenzimmer geweckt wurde, konnte er rechtzeitig aus dem Haus entkommen und flüchtete nach Kabul. Ungefähr ein Monat später kehrte der BF nochmals zu seinem Elternhaus zurück. Von einem Nachbar wurde ihm das Grab seiner Mutter und seines jüngeren Bruders gezeigt. Die Mörder haben auch öffentlich davon gesprochen, dass sie den BF ebenfalls töten, wenn er hier bleiben würde. Entsprechendes wurde ihm zumindest von seinem Nachbarn mitgeteilt. Der BF ging daher wieder nach Kabul, wo er bis zu seiner Ausreise im Jahr 2006 blieb. Der entscheidende Anstoß für die Flucht war, dass ihn sein Onkel in Kabul finden konnte. Dieser erklärte dem BF, dass sich seine Tante um ihn sorge, da jene Personen, die seine Ermordung wollten, wüssten, dass er sich in Kabul befindet. Es wäre nur eine Frage der Zeit bis sie ihn finden und töten würden. Daher müsse er Afghanistan unbedingt verlassen. Einen Monat nach diesem Gespräch verließ der BF Afghanistan.

 

Das Vorbringen ist - wie in der Beweiswürdigung noch näher darzustellen sein wird - glaubwürdig. Folglich ist die Feststellung zu treffen, dass der BF sein Heimatland aus Gründen verlassen hat, die in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - nämlich seiner eigenen Familie - liegen.

 

2.3. Zur Lage in Afghanistan werden die o. a. Länderberichte herangezogen und der Entscheidung als Feststellungen zu Grunde gelegt, wobei sich folgendes ergibt:

 

Die Sicherheitslage variiert in Afghanistan regional und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt. Neben Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft bedrohen die Rivalitäten lokaler Machthaber und Milizenführer die Sicherheitssituation.

 

Die Sicherheitskräfte befinden sich erst im Wiederaufbau. Die Polizei trägt in Afghanistan neben der Armee die Hauptlast bei der Bekämpfung der Aufstandsbewegungen und hat hohe Verluste zu beklagen. Die Afghanische Nationalpolizei (ANP) ist eine primär paramilitärische Organisation, bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz agiert sie allerdings ungenügend. Die Loyalität einzelner Polizeikommandeure gilt weniger dem Staat als lokalen bzw. regionalen Machthabern. Es wird noch erheblicher Anstrengungen seitens der internationalen Gemeinschaft bedürfen, bis ein Mindestmaß an Professionalität durch die afghanischen Polizeikräfte gewährleistet werden kann. Die afghanische Regierung versucht zwar gegenüber den ehemaligen afghanischen Taliban-Anhängern und -Kämpfern keine Vergeltung zu üben. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass lokale Kommandeure Racheakte verüben.

Das auswärtige Amt führt dazu in dem oben zitierten Bericht aus:

"Eine große Gefahr für die Menschenrechte geht von lokalen Machthabern und Kommandeuren aus. Es handelt sich hierbei meist um Anführer von Milizen, die nicht mit staatlichen Befugnissen ausgestattet sind. Die Zentralregierung hat auf viele dieser Menschenrechtsverletzer praktisch keinen Einfluss. Sie kann diese Täter weder kontrollieren noch ihre Taten untersuchen oder sie verurteilen. Wegen des desolaten Zustands des Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen häufig ohne Sanktionen. "Warlords", Drogenbarone, Regionalkommandeure und Milizenführer unterdrücken in ihrem Machtbereich jegliche Opposition, oft mit harten Sanktionen. Lokale Machthaber (Clanchefs, Milizenführer) inhaftieren politisch Andersdenkende ohne förmliches Gerichtsverfahren und sollen geheime, ¿persönliche' Gefängnisse unterhalten, teilweise um politische Gegner einzuschüchtern, teilweise um Lösegelder zu erpressen."

 

Ein bekanntes und weitverbreitetes Problem in Afghanistan stellt die sog. "Blutrache" dar. Wenn jemand eine andere Person tötet, so schwören dessen Angehörige Rache zu nehmen und es kommt zur Ermordung eines oder mehrerer Familienmitglieder des Täters, um die Gleichwertigkeit zwischen den Familien wiederherzustellen bzw. den Ehrverlust auszugleichen. Der Personenkreis, an denen die Blutrache verübt werden kann, ist im Prinzip unbegrenzt. Die Vergeltung ist allerdings umso wirkungsvoller, je näher das Racheopfer mit demjenigen verwandt ist, dessen Tat gerächt werden soll. Dieses archaische Prinzip wird nach wie vor als anerkannte Maßnahme zur Regelung von Konflikten herangezogen und von den staatlichen Behörden Afghanistans, dessen Verfassung sich auf islamische Grundwerte beruft, weitgehend toleriert. Außerdem kann dagegen auch nichts wegen des immer noch nicht oder nur schwach ausgeprägten zentral-staatlichen Gewaltmonopols unternommen werden. Die fehlenden Einflussmöglichkeiten auf die regionalen Stammes- und Familienstrukturen zeigen dies besonders.

 

In Bezug auf allfällige Ausweichmöglichkeiten von Verfolgten innerhalb Afghanistans ist in dem oben zitierten Bericht des auswärtigen Amtes weiters zu lesen: "Die Lebensbedingungen sind landesweit schlecht. Die Gefährdung des Einzelnen, zu einem Opfer von Gewalt oder einer Menschenrechtsverletzung zu werden, ist im gesamten Land gegeben. Die Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar und wirkt sich dementsprechend auf die Gefährdungssituation des Einzelnen aus. Ob eine Person sich einer möglichen Gefährdung durch ein Ausweichen im Land entziehen kann, hängt maßgeblich von dem Grad ihrer familiären, tribalen und sozialen Vernetzung ab."

 

Der Asylgerichtshof legt diese Erkenntnisse seiner Entscheidung zu Grunde. Gegendarstellungen liegen nicht vor.

 

3. Beweiswürdigung

 

3.1. Gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304 vom 30.09.2004, (der durch § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG direkt in das AsylG übernommen wurde) wird festgelegt, dass die Mitgliedsstaaten es als Pflicht des Antragstellers betrachten können, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrages auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Wenden die Mitgliedsstaaten diesen Grundsatz an und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese nach Abs. 5 keines Nachweises, wenn

 

der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu substantiieren;

 

alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen; und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

 

festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen nicht im Widerspruch stehen;

 

der Antragsteller internationalen Schutz zum frühest möglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war;

 

die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.

 

3.2. Die Feststellungen zur Person des BF ergeben sich aus dessen Angaben und aus der vom BF vorgelegten Geburtsurkunde. Sonstige Personaldokumente, insbesondere ein Reisepass wurden von dem BF nicht vorgelegt. Überhaupt hat der BF auch nie einen Reisepass besessen.

 

3.3. Die Angaben des BF zu den fluchtauslösenden Ereignissen sind im gesamten Asylverfahren in etwa gleich geblieben und weichen nicht wesentlich von einander ab. Vor dem Hintergrund der in der Berufungsverhandlung erörterten Länder- und Medienberichte ist das Vorbringen nachvollziehbar und plausibel. Das Bundesasylamt hat das Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren jedoch in mehreren Punkten als oberflächlich und widersprüchlich angesehen und daher für unglaubwürdig erachtet. Sämtliche Widersprüche, die vom BAA zur Begründung der Unglaubwürdigkeit des BF herangezogen wurden, sind aber leicht erklärbar. So wurde die Aussage des BF bezweifelt, sich in der Nacht der Ermordung seiner Mutter und seines jüngeren Bruders nach S. und anschließend für ein Monat nach Kabul begeben zu haben. Ein 12-jähriges Kind würde zu einem in der Nähe lebenden Nachbarn flüchten und versuchen zu erfahren, was mit seinen Angehörigen passiert sei. Der Asylgerichtshof zweifelt hier aber nicht an den Schilderungen des BF. Dieser beschrieb seine Flucht bis ins kleinste Detail. Er hörte die Schüsse aus dem Nebenzimmer und flüchtete daher. Das Schicksal seiner Mutter und seines kleineren Bruders wird ihm zum damaligen Zeitpunkt bereits klar gewesen sein. In einem derartigen Fall ist es vernünftig nicht sofort in die nähere Umgebung des Anschlages zurückzukehren, sondern für eine Weile unterzutauchen. Es ist auch glaubhaft, dass er die Attentäter, die seinen Vater und seinen Bruder ermordeten, zwar nicht gesehen hatte, die Namen jedoch von Schilderungen seiner Mutter kannte. Diese Aussage beinhaltet keinen Widerspruch, ist nicht widerlegbar und kein Grund an der Glaubwürdigkeit des BF zu zweifeln. Es ist daher unrichtig, dem BF anzulasten, die Unwahrheit gesagt zu haben. Ähnlich verhält es sich mit den weiteren Widersprüchen, die das BAA aufzudecken versucht. Insbesondere lässt sich auch erklären, wie der Onkel den BF in Kabul fand. In der mündlichen Verhandlung vom 06.05.2008 teilte der BF mit, dass der Onkel die Information über den Aufenthaltsort des Neffen vom Nachbarn des elterlichen Hauses erlangt habe. Der BF nannte diesem gegenüber beim Verlassen seines Heimatortes Kabul als ersten Ort seiner Flucht. Das BAA führt schließlich in seiner Beweiswürdigung aus, dass auch in Wirklichkeit keine Bedrohung vorliege. Schließlich habe der BF die letzten fünf Jahre in Afghanistan ohne jeglichen Zwischenfall gelebt. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich der BF immer nur an seinem Arbeitsplatz befand und sonst keinerlei Kontakt zu anderen Personen hatte. Die gesamte Zeit hielt er sich versteckt. Die vom BAA angeführten Gründe die Aussagen des BF als unglaubwürdig zu belegen, sind damit nicht stichhaltig. Gemessen an den eingangs zu Punkt 3 erwähnten Bestimmungen der Richtlinie 2004/83/EG über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, bestehen nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens für den Asylgerichtshof daher keine Gründe, die Darstellung des BF in Zweifel zu ziehen. Trotz einiger in den erstinstanzlichen Einvernahmen vom 01.08.2007 und 25.09.2007 zu Tage getretenen kleineren Ungereimtheiten in den Ausführungen des BF ist das Geschilderte durchaus glaubhaft. Die Schilderungen des Beschwerdeführers zur Problematik der Blutrache stimmen auch mit den Länderberichten zu Afghanistan überein. Davon ausgehend nimmt der Asylgerichtshof an, dass der BF unter psychischen Druck steht, so dass Ungenauigkeiten bei der Wiedergabe von Daten und Erzählungen von Ereignissen möglich erscheinen und deshalb nicht unbedingt auf eine bewusste Falschdarstellung zu schließen ist. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die vom BF geschilderten traumatischen Ereignisse bereits mehrere Jahre zurückliegen und sich diese in seiner Kindheit abspielten. Dieses Ermittlungsergebnis wird schließlich durch den persönlichen Eindruck, den der BF in der Berufungsverhandlung vermittelte, gestützt.

 

3.4. Die Feststellungen zur Situation in der islamischen Republik Afghanistan, insbesondere zur dortigen Sicherheitslage und zum Problem der Blutrache, stützen sich auf aus der internationalen Berichterstattung allgemein bekannte Tatsachen sowie auf die zitierten aktuellen Quellen. Die Parteien des Verfahrens sind den in der mündlichen Verhandlung erörterten Feststellungen nicht entgegengetreten. Angesichts der Seriosität der genannten Quellen und der mit der internationalen Berichterstattung übereinstimmenden Inhalte besteht für den Asylgerichtshof kein Grund, die Richtigkeit der Länderfeststellungen in Zweifel zu ziehen.

 

IV. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

1. Gemäß § 75 Abs. 7 Z 1 Asylgesetz 2005 idF Art. 2 BG BGBl. I 4/2008 sind Verfahren, die am 1. Juli 2008 beim unabhängigen Bundesasylsenat anhängig sind, vom Asylgerichtshof weiterzuführen; Mitglieder des unabhängigen Bundesasylsenates, die zu Richtern des Asylgerichtshofes ernannt worden sind, haben alle bei ihnen anhängigen Verfahren, in denen bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, als Einzelrichter zu führen.

 

Da im vorliegenden Verfahren bereits vor dem 1. Juli 2008 eine mündliche Verhandlung vor dem nunmehr zuständigen Richter stattgefunden hat, ist von einer Einzelrichterzuständigkeit auszugehen.

 

Gemäß § 23 Asylgerichtshofgesetz (Asylgerichtshof-Einrichtungsgesetz; Art. 1 BG BGBl. I 4/2008) sind, soweit sich aus dem Bundes-Verfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930, dem Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und dem Verwaltungsgerichtshofgesetz 1985 - VwGG, BGBl. Nr. 10, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt."

 

2. Gem. § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht. Der Antrag auf internationalen Schutz ist gem. Abs. 3 leg. cit. bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

 

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

 

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

 

3. Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28.07.1951, BGBL. Nr. 55/1955, iVm Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31.01.1967, BGBl. Nr. 78/1974, ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und sich nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist gem. § 11 Abs. 1 AsylG der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist gem. Abs. 2 leg. cit. auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

 

4. Zentraler Aspekt des aus Art 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention übernommenen Flüchtlingsbegriffes ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Zu fragen ist daher nicht danach, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen.

 

Eine asylrelevante Verfolgung kann im Lichte der Genfer Flüchtlingskonvention und der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes weiters nur dann angenommen werden, wenn die Verfolgungshandlungen entweder vom Verfolgerstaat ausgehen oder ihm diese infolge Billigung der Verfolgungshandlungen Dritter zuzurechnen ist (vgl. hiezu etwa VwGH 30.06.2005, Zahl 2002/20/0205), was im letzteren Fall dann Relevanz zeitigen könnte, wenn die staatlichen Behörden nicht schutzwillig oder schutzfähig gegenüber solchen - aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen erfolgenden - Angriffen Dritter sind. An der Schutzwilligkeit würde es dann fehlen, wenn der Staat nicht gewillt ist, von Privatpersonen ausgehende Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, sofern diesen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - Asylrelevanz zukommen sollte (vgl. hiezu etwa VwGH 23.07.1999, Zahl 99/20/0208; VwGH 21.09.2000, Zahl 2000/20/0226). An der Schutzfähigkeit würde es dann mangeln, wenn die von dritter Seite ausgehende Verfolgung von staatlichen Stellen in Folge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (vgl. hiezu etwa VwGH 07.07.1999, Zahl 98/18/0037; VwGH 06.10.1999, Zahl 98/01/0311; VwGH 22.03.2000, Zahl 99/01/0256).

 

5. Verfahrensgegenständlich hat der Beschwerdeführer die Verfolgung durch ehemalige Gegner seines Vaters und seines älteren Bruders geltend gemacht. Diese wollen sich an seiner Familie für begangene Morde seines Vaters und älteren Bruders rächen. Der Grund für die ausgesprochene Bedrohung liegt im System der Blutrache. Wie den einschlägigen Berichten zu entnehmen ist, handelt es sich bei der sog. Blutrache um ein weitverbreitetes Problem in Afghanistan. Die Verfolgung habe sich in der Ermordung seiner Eltern und seiner Brüder bereits realisiert. Er selbst entging lediglich durch Glück diesem Schicksal. Als einziger Überlebender der Familie stünde auch er unter der unmittelbaren Bedrohung der Mörder seiner Familienmitglieder. Der BF macht daher ihm drohende Nachteile aufgrund seiner Verwandtschaft zu seinem Vater und älteren Bruder und damit als Angehöriger der "sozialen Gruppe" der Familie geltend. Somit erfüllt er flüchtlingsrelevante Merkmale im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention. Auch wenn die Geschehnisse nunmehr ca. sechs Jahre zurückliegen, ist eine nach wie vor bestehende wohlbegründete Furcht des Beschwerdeführers aus der von ihm geschilderten Bedrohungslage heraus sowohl in subjektiver Hinsicht und - unter den Gesichtspunkten der aktuellen, geschilderten Sicherheitslage in Afghanistan - auch in objektiver Hinsicht keineswegs auszuschließen. Der von ihm geltend gemachte Blutrachefall erstreckt sich bereits über mehrere Jahre und dürfte keineswegs als abgeschlossen anzusehen sein. Im Falle der Rückkehr hätte der BF unter Umständen einen Angriff auf sein Leben (absolut geschütztes Rechtsgut) und damit eine individuelle konkrete Verfolgung seiner Person zu gewärtigen. Der afghanische Staat ist derzeit nicht in der Lage seine Bürger wirkungsvoll vor Angriffen Dritter zu schützen. Seine Autorität ist im Prinzip auf die Hauptstadt Kabul beschränkt, keinesfalls ist er fähig die Staatsgewalt auf dem gesamten Territorium auszuüben. In den staatlichen Institutionen ist seine Durchsetzungskraft gering. Polizei und Justiz sind vielfach korrupt und lokalen Machthabern verbunden. Ob sich der afghanische Staat ernsthaft bemüht, Übergriffe zu verhindern, kann dahingestellt bleiben. Es mangelt jedenfalls an effektivem Schutz für seine Bürger. Von den staatlichen Behörden ist daher unter Bedachtnahme auf die prekäre Sicherheitslage und den - wie allgemein bekannt - noch immer vorherrschenden Einfluss ehemaliger Regionalkommandanten ("Warlords") kein ausreichender Schutz zu erwarten.

 

6. Es bleibt somit zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zur Verfügung steht, d.h. dass er durch Aufenthaltsnahme in einem anderen Teil seines Herkunftslandes der Bedrohung effektiv entgehen kann bzw. wenn dies zutrifft, ob ihm eine solche im Bezug auf seine persönlichen Umstände zuzumuten ist, wobei in daraus resultierenden schlechteren wirtschaftlichen oder sozialen Bedingungen allein keine staatliche Verfolgung erblickt werden könnte, außer der Beschwerdeführer geriete dadurch in eine ausweglose Lage, die ihm jegliche Existenzgrundlage entzieht (VwGH 08.06.2000, 99/20/0597; 19.10.2000, 98/20/0430). Angesichts des massiven Vorgehens in der Ermordung nahezu der gesamten Familie durch offensichtlich einflussreiche Widersacher des Vaters und des älteren Bruders des Beschwerdeführers ist eine weitergehende, überregionale Verfolgungsgefahr für den Berufungswerber auch in einem anderen Landesteil Afghanistans nicht gänzlich auszuschließen. Zumindest zwei der ihn bedrohenden Personen verfügen im Gebiet S. über ausreichenden Einfluss und Macht, um den BF in anderen Gebieten aufzufinden. Ein dauerhafter Schutz wäre für den BF allenfalls nur möglich, wenn er sich ständig versteckt hielte. Dies ist dem BF allerdings nicht zumutbar. Weiters kann dem BF bei der derzeitigen fragilen Sicherheitslage in Afghanistan von Seiten der Staatsmacht oder sonstigen Akteuren in anderen Landesteilen kein ausreichender Schutz vor Verfolgung gewährt werden. Selbst wenn man dies ausschließen könnte, wären immer noch die prekäre Versorgungslage mit lebensnotwendigen Produkten im gesamten Herkunftsstaat des Beschwerdeführers in Betracht zu ziehen und würden diese die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumindest derzeit sehr fraglich erscheinen lassen. Der Asylgerichtshof kommt daher zu der Ansicht, dass dem BF die Inanspruchnahme einer allenfalls vorhandenen innerstaatlichen Fluchtalternative, d.h. Aufenthaltsbegründung in einem anderen Landesteile innerhalb der islamischen Republik Afghanistan, nicht zumutbar ist.

 

7. Es gibt keine Hinweise darauf, dass einer der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Ausschlussgründe oder Endigungsgründe vorliegen würde.

 

8. Dem Beschwerdeführer ist somit begründete Furcht vor Verfolgung aus einem in der Genfer Konvention genannten Gründen zuzugestehen. Er hat glaubhaft gemacht, dass ihm in seinem Herkunftsland Verfolgung aus dem Grund seiner Zugehörigkeit zur (bestimmten) sozialen Gruppe der Familie droht. Der Berufung war daher stattzugeben und dem BF der Status des Asylberechtigten zuerkennen.

 

9. Gemäß § 3 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Schlagworte
Blutrache, Familienverband, inländische Schutzalternative, Lebensgrundlage, Schutzunfähigkeit, Sicherheitslage, soziale Gruppe, Zumutbarkeit
Zuletzt aktualisiert am
05.10.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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