TE AsylGH Erkenntnis 2008/08/12 268242-2/2008

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Veröffentlicht am 12.08.2008
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Spruch

B17 268.242-2/2008/4E

 

E R K E N N T N I S

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Perl als Einzelrichter über die Beschwerde des A.N., geb. 00.00.1970, StA. Bolivien, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.05.2007, Zahl: 03 34.004-BAW, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 28.04.2008 zu Recht erkannt:

 

I. Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 AsylG 1997 idF BGBl. 126/2002 hinsichtlich Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

 

II. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III. stattgegeben und dieser ersatzlos behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

 

I. Verfahrensgang und entscheidungsrelevanter Sachverhalt:

 

1. Verfahrensgang

 

1.1. Der Beschwerdeführer reiste am 28.09.2003 in das Bundesgebiet ein und stellte am 31.10.2003 - während damals aufrechter Schubhaft - einen Asylantrag beim Bundesasylamt Wien, in dem er im Wesentlichen ausführte, dass er von asylrelevanter Verfolgung bedroht sei und um Ladung zu einer Einvernahme ersuche, um seine Fluchtgründe eingehend darlegen zu können.

 

Im Hinblick auf seinen Asylantrag gab der Beschwerdeführer am 22.12.2003 bezüglich seiner Fluchtgründe an, dass er am 28.09.2003 in Wien angekommen sei und ihn am 15.10.2003 seine Lebensgefährtin aus Bolivien angerufen habe, um ihm mitzuteilen, dass sie von der Polizei bedroht worden sei und deshalb Bolivien verlassen müsse. Sie würde auch nach Österreich kommen, wo der Beschwerdeführer um Asyl ansuchen könnte. Da seine Lebensgefährtin, mit der er auch eine Tochter habe, in Bolivien bedroht worden sei, könne auch er nicht in sein Vaterland zurückkehren.

 

1.2. In einer Niederschrift vom 28.10.2003 vor der Bundespolizeidirektion Wien/ Fremdenpolizeiliches Büro gab der Beschwerdeführer zu Protokoll, dass er am 28.09.2003 von Slowenien kommend mit einem Autobus nach Österreich eingereist sei. Der Zweck seiner Einreise sei der Besuch bei seinem in Österreich lebenden Bruder, der mit einer Österreicherin verheiratet sei, gewesen. Nach Erörterung der Bestimmungen des § 57 FrG gab er an, dass er in seinem Heimatland weder strafrechtlich noch politisch verfolgt werde.

 

1.3. In einer weiteren Einvernahme am 03.11.2003 gab der sich noch immer in Schubhaft befindende Beschwerdeführer vor der Bundespolizeidirektion Wien an, dass er jedenfalls in Österreich bleiben wolle, da er ein Problem in Bolivien habe, welches er beim Bundesasylamt erklären werde. Er habe bisher nicht gewusst, dass ihm ein Asylantrag helfen könne, aber nun sehe er diesen als einzige Möglichkeit, um mit seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter in Österreich bleiben zu können. Sie hätten aber auch Probleme in Bolivien.

 

1.4. In der Niederschrift vom 01.06.2005 gab der Beschwerdeführer gegenüber dem Bundesasylamt an, dass er Bolivien das erste Mal am 04.05.1996 mit einem Musikerkollegen verlassen habe. Er sei noch einmal im Jahr 2000 (Anm.: die ursprüngliche Angabe des Jahres 2001 wurde vom Beschwerdeführer nachträglich bzw. später als Irrtum bezeichnet) in sein Heimatland zurückgekehrt, da seine Lebensgefährtin dort Probleme gehabt hätte. Auch er selbst habe schon seit dem Jahr 1985 Probleme in Bolivien gehabt, da er als Sohn eines Bergmannes ein Lied für die Bergleute komponiert habe und seitdem auf einer "schwarzen Liste" stünde. Er habe damals Angst gehabt, weil auch Schulkollegen von ihm verschwunden seien und daher habe er dann versteckt gelebt. Auf dieser besagten Liste seien die Kinder der Bergleute notiert gewesen und diese seien der Regierung nicht angenehm gewesen, weil diese Kinder niemals vergessen hätten, dass ihre Väter umgebracht wurden. Durch das von ihm in den 80er Jahren komponierte Lied habe sich die Regierung angegriffen gefühlt und ihn gesucht. Gefunden habe man ihn allerdings nicht. Es sei ihm erst im Jahre 1996 die Flucht gelungen, da er bis zu diesem Zeitpunkt nicht über die nötigen finanziellen Mitteln verfügt habe.

 

Bei seiner Rückkehr nach Bolivien im Jahr 2000 habe er keine Probleme gehabt, da er von Argentinien über den Landweg eingereist sei. Trotz seiner Angst vor Verfolgung sei er wieder nach Bolivien zurückgekehrt, da er sich große Sorgen um seine Lebensgefährtin gemacht habe. Er habe erst jetzt einen Asylantrag gestellt, da er gedacht habe, dass sich seine Probleme in Bolivien bessern würden. Da seine Lebensgefährtin auch Probleme habe, könne auch er nicht nach Bolivien zurückkehren.

 

1.5. Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 31.01.2006, Zl. 03 34.004-BAW, den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I), seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Bolivien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II) und dessen Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Bolivien gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 ausgesprochen (Spruchpunkt III).

 

1.6. Mit Schreiben vom 16.02.2006 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, fristgerecht Berufung.

 

1.7. Der Unabhängige Bundesasylsenat hat mit Bescheid vom 15.11.2006, Zl. 268.242/0-XX/50/06, der damaligen Berufung des Beschwerdeführers stattgegeben und den bekämpften Bescheid gemäß § 66 Abs. 2 AVG behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurückverwiesen.

 

Der Unabhängige Bundesasylsenat hat seinen Bescheid mit erheblichen Mängeln im Bereich der Sachverhaltsfeststellungen - insbesondere, dass die von der Erstbehörde dem Bescheid vom 31.01.2006 zu Grunde gelegten Länderinformationen zu Bolivien zwar aus dem Jahr 2005 stammen, aber das Ergebnis der vor der Bescheiderlassung abgehaltenen Präsidentschaftswahlen dabei nicht berücksichtigt wurde - begründet.

 

1.8. Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 24.05.2007, Zl. 03 34.004-BAW, den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 neuerlich abgewiesen (Spruchpunkt I), seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Bolivien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II) und dessen Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Bolivien gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 ausgesprochen (Spruchpunkt III).

 

Das Bundesasylamt ging in diesem Bescheid im Wesentlichen von der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens aus. Das gesamte Vorbringen des Beschwerdeführers erweise sich als sehr vage, schablonenhaft und widersprüchlich. Dazu führte das Bundesasylamt im Wesentlichen aus:

 

" Die Quintessenz seiner Aussage beläuft sich darauf, dass er in Bolivien von der Regierung verfolgt worden wäre, da sein Vater ein ehemaliger Bergwerksarbeiter gewesen sei. Laut eigenen Angaben, seien die Kinder dieser Bergarbeiter nach einer Tragödie im Jahr 1985 dem Staat nicht mehr genehm, da damals mehrere Bergarbeiter getötet oder verschleppt worden wären. Aufgrund eines Liedes, welches der Antragsteller geschrieben habe, hätte sich die bolivianische Regierung von ihm bedroht gefühlt und ihn verfolgt. Er selbst hätte jedoch keine konkreten Verfolgungshandlungen gegen seine Person feststellen können, da er die meiste Zeit versteckt gelebt hätte, jedoch trotzdem weiterhin zur Schule hätte gehen können. Der Inhalt des Liedes würde die Tragödie beschreiben, welche den Bergarbeitern im Jahr 1985 widerfahren ist. Seine Probleme hätten schon im Jahr 1985 begonnen, er habe jedoch bis zum Jahr 1996 keine finanzielle Möglichkeit zur Ausreise gesehen.

 

Die Zeitangaben des Antragstellers erwiesen sich während der Einvernahme als überwiegend widersprüchlich. Insbesondere konnte er das Jahr seiner letzten Ausreise nicht konkret zuordnen. Weiters behauptete er, er wäre nur einmal im Jahr 2001 im Heimatland aufhältig gewesen und seine Lebensgefährtin im Jahr 2001 ebenfalls nur ein einziges Mal nach Europa gereist ist, um ihn zu besuchen. Seine leibliche Tochter wurde jedoch bereits am 00.00.2001 geboren und somit wäre eine biologische Vaterschaft praktisch ausgeschlossen. Später korrigierte er seine Angaben und erklärte, es wäre auch möglich, dass sein letzter Aufenthalt in Bolivien im Jahr 2000 stattgefunden hätte, er wäre sich mit den Datumsangaben im Allgemeinen etwas unsicher.

 

Auch die Tatsache, dass er bis 1996 in seinem Heimatland leben konnte, obwohl er schon seit 1985 mit Problemen zu kämpfen gehabt hätte, lässt sein gesamtes Vorbringen unglaubwürdig erscheinen. Es ist nur wenig nachvollziehbar, dass jemand, der akute Angst vor einer Verfolgung zu gewärtigen hat, über elf Jahre im Heimatland verweilt. Da aus seinen Angaben hervorgeht, dass dieser zwar im Jahr 1996 ausgereist sei, aber erst im Jahr 2003 einen Asylantrag eingebracht hat, wird weiters die Annahme verstärkt, dass es sich bei seinem Vorbringen nicht um in der Realität tatsächlich erlebte Ereignisse handelt. Dieser Verdacht wird ebenso dahingehend untermauert, als das der Antragsteller im Jahr 2000 bzw 2001 freiwillig nach Bolivien zurückgekehrt ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Antragsteller angesichts einer tatsächlichen Bedrohung nicht ins Heimatland zurückgekehrt wäre. Außerdem muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass er bei mehreren vorhergehenden, polizeilichen Einvernahmen keine Verfolgung im Heimatstaat geltend gemacht hat."

 

Weiters habe der Beschwerdeführer in der Niederschrift vor der Bundespolizeidirektion Wien, am 28.10.2003 angegeben, dass der Grund seiner Einreise nach Österreich ein Besuch bei seinem Bruder gewesen wäre und er im Heimatland keiner politischen oder strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sei. Diese Aussage sei ihm bei einer weiteren niederschriftlichen Einvernahme vorgehalten worden, worauf er geantwortet habe, dass er nicht wisse, warum er dies gesagt habe.

 

In einer Gesamtschau betrachtet sei das Bundesasylamt zu dem Schluss gekommen, dass der maßgebende Sachverhalt nicht den Tatsachen entspreche.

 

1.9. Der Asylwerber, vertreten durch RA Dr. Lennart Binder, erhob mit Schreiben vom 13.06.2007 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 24.05.2007,

 

Zl. 03 34.004-BAW, neuerlich fristgerecht Berufung (nunmehr Beschwerde).

 

Gegen die erstinstanzliche Entscheidung wurde dabei u.a. vorgebracht, dass der Beschwerdeführer bereits im Jahr 1985 Probleme mit der Regierung gehabt hätte, welche 1996 massiv und bedrohlich geworden seien. Es habe damit begonnen, dass die Bergwerke in Bolivien geschlossen wurden und danach Demonstrationen stattgefunden hätten. Als Sohn eines Bergmannes sei der Beschwerdeführer auch auf eine sogenannte "schwarze Liste" gesetzt worden und von der Polizei gesucht worden. Der Beschwerdeführer habe studiert und einige seiner Schulkollegen seien damals spurlos verschwunden. Der Beschwerdeführer habe daraufhin immer wieder seine Wohnung gewechselt und habe unter falschem Namen Zimmer angemietet, um von der Polizei nicht gefunden zu werden.

 

Er habe lange Zeit für seine Flucht arbeiten und sparen müssen und sei dann nach Österreich geflüchtet. Mittlerweile sei es auch seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter gelungen nach Österreich zu flüchten.

 

Die divergierenden zeitlichen Angaben hätten sich dadurch ergeben, dass es aufgrund der Zeitspanne zwischen dem Beginn der Probleme des Beschwerdeführers und der Vielzahl der Ereignisse, die passiert seien, lebensnahe sei, sich mit zeitlichen Angaben zu irren. Der Beschwerdeführer habe in seinem Heimatland studiert und die Kosten für seine Flucht erst verdienen müssen, was in Bolivien nicht einfach sei. Aufgrund der genauen Vorbereitung seiner Flucht sei auch der lange Aufenthalt trotz Verfolgung zu begründen. Der Beschwerdeführer werde in seiner Heimat Bolivien von der Polizei gesucht und verfolgt. Im Falle einer Rückkehr drohe ihm Verfolgung und Inhaftierung. Dem Beschwerdeführer sei daher Asyl zu gewähren.

 

Zum Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens wurde angeführt, dass es die Behörde verabsäumt habe, sich mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers und der aktuellen Situation auseinanderzusetzen.

 

Die Verpflichtung, ein amtswegiges Ermittlungsverfahren durchzuführen, bedeute, dass die konkrete und aktuelle Situation untersucht werde. Dies sei im vorliegenden Fall verabsäumt worden, insbesondere dadurch, dass dem Bundesasylamt genügend Material vorliegen müsse, aus dem die Verfolgungssituation erkennbar wäre.

 

Zum Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung wurde vorgebracht, dass sich die Behörde nicht mit der konkreten Situation des Beschwerdeführers auseinandergesetzt habe und daher eine rechtliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers nicht möglich gewesen sei.

 

Eine Ausweisung widerspreche daher Art. 8 EMRK. Von einer Ausweisung sei daher unter Berücksichtigung der nahen Familienangehörigen Abstand zu nehmen.

 

Es wurde daher der Antrag gestellt,

 

a) dem Beschwerdeführer Asyl zu gewähren;

 

b) allenfalls den angefochtenen Bescheid aufzuheben und zur Ergänzung des Verfahrens an die 1.Instanz zurückzuverweisen;

 

c) eine mündliche Berufungsverhandlung anzuberaumen;

 

d) allenfalls festzustellen, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung, Abschiebung und Ausweisung unzulässig ist.

 

1.10. Mit Schreiben vom 02.04.2008 wurden - vom vormals zuständigen Unabhängigen Bundesasylsenat - die Ladungen zur öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung den Verfahrensparteien unter Anschluss der aktuellen Länderberichte und -feststellungen zu Bolivien übermittelt.

 

1.11. Das Bundesasylamt gab mit Schreiben vom 10.04.2008 bekannt, an der Berufungsverhandlung vom 28.04.2008 nicht teilnehmen zu können, und beantragte die Abweisung der gegenständlichen Berufung (nunmehr Beschwerde).

 

1.12. Am 28.04.2008 fand im Beisein des Beschwerdeführers, seiner Lebensgefährtin und seiner Tochter sowie in Begleitung ihrer Rechtsvertreterin bei dem vormals zuständigen Unabhängigen Bundesasylsenat eine öffentlich mündliche Berufungsverhandlung statt. Vom Beschwerdeführer wurde eine Vollmacht vorgelegt, mittels welcher er sowohl dem Verein für MigrantInnen als auch dessen Obmann RA Dr. Lennart Binder Vollmacht erteilte. Im Zuge dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer nochmals ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt.

 

Auf die konkrete Frage, ob die Beschwerdeführer mit dem Inhalt der Berichte bzw. Gutachten und Stellungnahmen einverstanden seien, oder ob es aus ihrer Sicht dazu Anmerkungen oder Ergänzungen gäbe, gab der Beschwerdeführer an, diese Unterlagen nicht zu kennen. Die Vertreterin der Beschwerdeführer führte sodann aus, die Unterlagen studiert und auch einiges angemerkt zu haben. Die Dokumentation sei aber sehr umfangreich und die Übersetzung ins Spanische sei nicht einfach gewesen.

 

Der Beschwerdeführer gab an, im Mai 1996 erstmals aus Bolivien ausgereist zu sein und sich danach in Miami, Moskau und Budapest aufgehalten zu haben. Grund für die Ausreise sei gewesen, dass sein Vater, welcher Bergarbeiter gewesen sei, Anfang der 80er Jahre unter der Regierung von Hugo Vancer Suarez ermordet worden sei. Der Beschwerdeführer und andere Bergarbeiterkinder hätten aufgrund der Ermordung ihrer Väter einen Protestmarsch ("Marsch für das Leben") veranstaltet. Unter der damaligen Regierung sei damals ein Dekret erlassen worden, welches den Tod für den gesamten Bergbau bedeutet habe. Die Regierung habe weiters eine "schwarze Liste" erstellt, die es bis heute noch gebe. Viele seiner Mitstreiter seien damals auch auf dieser Liste gestanden und würden heute nicht mehr leben. Er habe damals auch ein Lied komponiert. Dieses Lied und das Massaker, welches 1985 in Folge des Dekrets stattfand, hätten ihn dazu veranlasst, Bolivien zu verlassen.

 

Angesprochen auf seine Tätigkeit als Musiker und die mit dieser Tätigkeit im Zusammenhang stehenden Reisen, gab der Beschwerdeführer an, nach Mai 1996 ca. 4 Jahre lang im Ausland (darunter Rumänien, Jugoslawien, Deutschland etc.) gewesen zu sein. Zu Dauer und Orten seines genauen Aufenthaltes befragt, gab der Beschwerdeführer Folgendes an:

 

" Ich kann mich nicht an die genauen Jahreszahlen erinnern, also wann ich wo war. Ich habe als einzige Verdienstquelle meine Tätigkeit als Musiker und habe im Rahmen dieser Tätigkeit viele Länder kennen gelernt, nicht nur Slowenien und Kroatien, sondern auch Italien, Frankreich und viele andere Länder. Ich weiß also nicht mehr genau, wann ich nach Österreich gekommen bin, es stimmt aber auf alle Fälle, dass mein Bruder hier lebt."

 

Nach der Ausstellung seines Reisepasses im Jahr 1999 beim bolivianischen Konsulat in Salzburg befragt, gab der Beschwerdeführer weiters an, dass er damals in Europa seinen Reisepass verloren hätte und in Salzburg einen neuen beantragt habe. Er sei allerdings nur zur Ausstellung des Passes in Salzburg gewesen und habe sich dort nicht länger aufgehalten.

 

Auch konnte der Beschwerdeführer nicht darlegen, dass er trotz seines mehrjährigen Aufenthaltes außerhalb von Bolivien in einem anderen europäischen Staat Aktivitäten zur Erlangung eines legalen Aufenthaltes in einem der anderen europäischen Ländern setzte. Darauf angesprochen, dass er bei seiner Niederschrift im Zuge der Schubhaft angegeben habe, dass er in Bolivien weder einer strafrechtlichen noch politischen Verfolgung ausgesetzt sei, gab der Beschwerdeführer an, sich nicht daran erinnern zu können, dies gesagt zu haben, es aber unter Umständen möglich sein könne, dies erwähnt zu haben, da er bei seiner Verhaftung sehr nervös und verzweifelt gewesen sei. Das Problem in Bolivien seien die Oligarchen, die die Menschen nicht in Ruhe leben lassen würden. Im Falle einer Rückkehr fürchte er um die Sicherheit und Zukunft seiner Tochter.

 

Auf konkrete Bedrohungen angesprochen, führte der Beschwerdeführer aus, dass sich die allgemeine politische Situation trotz der Regierung unter Evo Morales nicht geändert habe und er deswegen nicht in sein Land zurückkehren könne. Präsident Evo Morales sei Opfer einer Verschwörung und jeder, der seine Interessen auch verfolge, sei auch Opfer einer solchen Verschwörung.

 

Der Berufungswerber legte zur Untermauerung seiner Ausführungen über die politische Situation in Bolivien eine DVD und Internetausdrucke vor, welche zum Akt genommen wurden.

 

Zu seinem persönlichen Umfeld befragt, gab der Beschwerdeführer an, dass er außer seiner Lebensgefährten und der gemeinsamen Tochter einen Bruder in Österreich habe, er aber nicht wisse, seit wann sein Bruder in Österreich lebe.

 

Die Verhandlung wurde nach Befragung des Beschwerdeführers auf den 15.05.2008 vertagt und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eingeräumt, bis zum 15.05.2008 eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen (die mit der Ladung übermittelt worden waren) abzugeben. In der öffentlich mündlichen Berufungsverhandlung am 15.05.2008 wurde mit der Befragung der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers fortgesetzt und von der Beschwerdeführervertreterin angemerkt, dass der Inhalt der Länderdokumentation nun durchgearbeitet worden sei und die Beschwerdeführer mit dem Inhalt einverstanden seien.

 

2. Sachverhalt

 

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinen Fluchtgründen wird festgestellt:

 

Der Beschwerdeführer ist bolivianischer Staatsbürger und am 00.00.1969 geboren. Seine Identität steht fest.

 

Die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, Fr. C.M., mit der der Beschwerdeführer ein gemeinsames Kind hat, ist ebenfalls in Österreich aufhältig und der Beschwerdeführer lebt mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind in einem Haushalt.

 

Die Feststellungen bezüglich der Familienverhältnisse zum oben erwähnten Beschwerdeführer sind dem Akt der Erstbehörde sowie auch den Angaben des Beschwerdeführers zu entnehmen und werden von Seiten des Asylgerichtshofes nicht in Zweifel gezogen.

 

2.2. Zur Lage in Bolivien wird festgestellt

 

Allgemeiner Überblick

 

Bolivien hat eine Fläche von 1.098.581 Quadratkilometern und liegt im Herzen Südamerikas. Seit seiner Gründung als Republik (1825) hat Bolivien rund die Hälfte seines ursprünglichen Territoriums eingebüßt. Im Salpeterkrieg (1879-1883) verlor es seinen Zugang zur Pazifikküste an Chile und ist seither Binnenland, was traumatisch wahrgenommen und beklagt wird. Das Land grenzt im Norden und Osten an Brasilien, im Südwesten an Paraguay, im Süden an Argentinien, im Südosten an Chile und im Osten an Peru. Trotz seines relativ geringen wirtschaftlichen und politischen Gewichts haben Entwicklungen in Bolivien daher beträchtliche Ausstrahlung auf die Region; nicht zuletzt die historisch sprichwörtliche politische Instabilität und die Tradition einer der stärksten Arbeiter- und Bauernbewegungen des Halbkontinents. "Rebellion in den Venen", lautet der Titel eines Standardwerks über Bolivien. (Dunkerley, 1984) Che Guevara wollte Mitte der 1960er Jahre von hier aus die Revolution entfachen und "zwei, drei, viele Vietnam" schaffen (Lessmann, 2006). Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1825 hat Bolivien mehr Regierungen erlebt als Jahre; zwischen 1964 und 1982 eine Abfolge teilweise blutiger Militärdiktaturen.

 

Bolivien hat eine Bevölkerung von annähernd 9 Millionen. Mehr als 60% davon verstehen sich explizit als Angehörige eines von 35 indigenen Völkern. Die größten davon sind Quetchua mit 2.3 Mio. und Aymara mit 1.6 Mio. Menschen. Beide stammen vom Altiplano, der fast 4.000 Meter hoch gelegenen Ebene zwischen Ost- und Westkordillere. Und sie sind so zahlreich, dass in Bolivien, wenn man von indigenen Völkern sprach, implizit stets die kleineren Völker aus dem Tiefland gemeint waren; jedenfalls bis vor wenigen Jahren. Quetchua und Aymara identifizierten sich nach der Revolution von 1952/53 stets mehr nach sozio-ökonomischen Kategorien: als Mineros (Bergarbeiter) oder Trabajadores Campesinos (Kleinbauern) die in der Landarbeitergewerkschaft organisiert waren. Erst mit dem Zusammenbruch des Bergbaus Mitte der 80er Jahre und der indigenistischen Konjunktur im Vorfeld des so genannten Kolumbusjahres zur 500-Jahr-Feier der "Entdeckung Amerikas" (1992) begann man, sich wieder stärker auf seine indianischen Wurzeln zu berufen, die freilich stets auch vorhanden gewesen waren. Nach einem halben Jahrtausend des Ethnozids, der Versklavung und der Unterdrückung, der Inquisition und der "Ausrottung des Aberglaubens", der Ausbeutung, Diskriminierung, Beleidigung und Geringschätzung zeichnet sich Bolivien durch eine unerhört starke Präsenz von Elementen andiner Kulturen aus, deren Wurzeln nicht selten bis in vorinkaische Horizonte zurückreichen; in Kunst und Brauchtum, im Volksglauben, aber auch in der sozialen Organisation und in der Politik: Eine oftmals un- oder missverstandene Kultur des Widerstands, namentlich in Gestalt des Synkretismus und im Fortbestand dörflicher Kollektivität, die wiederum insbesondere in Gemeinschaftsarbeiten (ayni, minga) und in Formen konsensualer Entscheidungsfindung zum Ausdruck kommt.

 

Weder die Revolution von 1952/53, noch die Redemokratisierung nach 1982 schafften es, einen integrativen Prozess des Nation Building in Gang zu setzen und stellten der persistenten andinen Kollektivität das individualistische Konzept des Staatsbürgers entgegen. Die Landreform von 1953, mit ihrem Slogan: "Das Land gehört dem, der es bearbeitet", stellte nicht nur dem Großgrundbesitzer den

 

(klein-)bäuerlichen Privateigentümer gegenüber, sondern gerade auch dem dörflichen Kollektiv. Um es mit den Worten der bolivianischen Soziologin Silvia Rivera Cusicanqui zu sagen: "Die Menschenrechte der Indios werden erst anerkannt, wo sie aufhören Indios zu sein" (Rivera, 1993, 50) - wo sie eine westliche Identität annehmen. Indianische Kultur und Lebensweise wurden stets als minderwertig und als Hindernis für Fortschritt und Entwicklung angesehen und diskriminiert.

 

Diese ethnisch-kulturellen Demarkationslinien decken sich weitgehend mit dem Gegensatz zwischen Arm und Reich. Gemäß dem Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen liegt das Land auf Position 115 und gehört damit zu den so genannten "Ländern mit mittlerem Einkommen". Doch jeder vierte Bolivianer oder Bolivianerin muss mit weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen. (UNDP, 2006, 293) Es herrscht große soziale Ungleichheit: Auf die 10% der ärmsten Bevölkerungsschicht kommen nur 0,3% des Einkommens, auf die reichsten 10% der Bevölkerung 47,2%. (UNDP, 2006, 337)

 

Bolivien ist relativ reich an mineralischen Rohstoffen, aber durch seine Binnenlage und Geografie wirtschaftlich nur schwach integriert. Stets exportierte Bolivien seine Rohstoffe zu relativ unvorteilhaften Bedingungen (Rohstofftrauma): erst Silber, Kautschuk und Zinn, heute Erdöl und Gas. Die terms of trade haben von 1980 (=100) bis zur Jahrtausendwende (2000 = 53) um 47 Prozentpunkte eingebüßt. Das Außenhandelsdefizit war bis vor kurzem chronisch; aktuell werden wegen der großen Nachfrage nach fossilen Brennstoffen Überschüsse erzielt. Trotz mehrerer Schuldenerlasse bleibt die Auslandsverschuldung erheblich und Bolivien ist in hohem Maße von Vorzugskrediten und Zuschüssen abhängig. Im Jahr 2001 entsprachen sie 9,4% des Bruttoinlandsprodukts und finanzierten praktisch 100% der öffentlichen Ausgaben. Es gab immer wieder Zeiten, da reichten die Steuereinnahmen nicht aus, um die Staatsbediensteten zu bezahlen. Man kann daher von einem Aid Regime sprechen.

 

Diese Abhängigkeit von ausländischer Entwicklungsfinanzierung hat Bolivien zum Experimentierfeld für Politiken und Entwicklungskonzepte werden lassen, die anderswo entworfen wurden, vor allem in Washington (Souveränitätstrauma): Von der neoliberalen Strukturanpassung Mitte der 1980er Jahre, über den "Drogenkrieg" bis hin zu den so genannten neoliberalen "Reformen der zweiten Generation", die Mitte der 1990er Jahre weitere Privatisierungen nun mit neuen Aufgabenstellungen für den Staat verbanden.

 

Erst mit der Revolution von 1952 wurde das allgemeine Wahlrecht (auch für Frauen, Indígenas und Arme) eingeführt. Dabei kämpfte das Militär gegen, die Polizei aber mit den Revolutionären, woraus eine historische Rivalität erwuchs, die unter anderem in einem militärischen Putschversuch (aus Anlass der Gründung einer paramilitärischen Drogenpolizei, 1983) und zuletzt im Schusswechsel zwischen Polizei und Militär bei den Unruhen vor dem Präsidentenpalast im Februar 2003 sichtbar wurde.

 

Mit der Revolution von 1952 setzte Bolivien auch der Herrschaft der Minenoligarchie ein Ende. Die Bergwerke wurden verstaatlicht (und später ab Mitte der 80er Jahre wieder privatisiert). Die (indianischen) Bergarbeiter, die eine der Speerspitzen der Revolution gewesen waren, organisierten sich in der machtvollen Minenarbeitergewerkschaft (Federación Sindical de Trabajadores Mineros de Bolivia - FSTMB) als proletarische Speerspitze des trotzkistisch orientierten Gewerkschaftsbundes COB, der selbst in der Epoche der Militärdiktaturen (1964-81) gegen bestimmte Maßnahmen der Regierung Veto einlegen und dieses auch durchsetzen konnte. Ihr Gewicht resultierte aus der damals überragenden Bedeutung des Bergbaus für die Volkswirtschaft und nahm mit dessen Krise ab Mitte der 1980er Jahre rapide ab.

 

Um sich als Partei der Revolution von 1952 eine Massenbasis bei der Landbevölkerung zu sichern, wurde diese vom regierenden Movimiento Nacional Revolucionario - MNR flächendeckend in Sindicatos organisiert, Gewerkschaften, auch wenn es sich hier realiter um Kleinbesitzer handelte. Das konnte nicht zuletzt deshalb gelingen, weil im Schoß dieser Organisationen die oben angeführten Muster andiner dörflicher Organisation fortlebten. Die ländlichen Sindicatos blieben nach außen immer primär Transmissionsriemen bäuerlicher und dörflicher Interessen. 1979 erfolgte dann die Gründung eines Dachverbandes, der Landarbeitergewerkschaft Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos Bolivianos -

CSUTCB.

 

Trotz zwei Jahrzehnten formaldemokratischer Stabilität nach dem Ende der Militärdiktaturen und einer Reihe wichtiger Reformen (vgl. Jost, 2003) - Wahlrechtsreform, Parteiengesetz, Einrichtung eines Verfassungsgerichtshofs und eines Wahlüberwachungsgremiums sowie eines Menschenrechts-Ombudsmannes - litt das politische System unter einer profunden Legitimationskrise. Zum einen war es nicht gelungen, einen "Demokratiebonus" zu realisieren. (Toranzo, 1994, 93) Bolivien bleibt das ärmste Land Südamerikas. Die Kaufkraft eines Mindestlohns, die während der Hyperinflation und der neoliberalen Strukturanpassung der 1980er Jahre um 70% gefallen war (Raza, 2000, 75) hat sich davon bis heute nicht erholt. Erst von der neuen Regierung unter Präsident Morales wurde der Mindestlohn Anfang 2006 deutlich angehoben und im Jahr 2007 eine Mindestpension eingeführt. Zwei Drittel der ökonomisch aktiven Bevölkerung schlägt sich in der einen oder anderen Weise (auch) mit Hilfe des informellen Sektors durch (CEDLA/ ILDIS, 1994, 90). Zum anderen wird den traditionellen politischen Parteien inhaltsleere und ideologische Beliebigkeit nachgesagt, nachdem es ab Mitte der 1980er Jahre zu den abenteuerlichsten Koalitionen über alte Feindschaften und ideologische Barrieren hinweg gekommen war. Das traditionsreiche MNR, das die Revolution von 1952/53 getragen hatte, zeichnete auch für die Durchsetzung der Strukturanpassungspolitik Mitte der 1980er Jahre und der so genannten neoliberalen Reformen der zweiten Generation in den 1990ern verantwortlich. Jaime Paz Zamora, Chef des ursprünglich sozialdemokratisch orientierten Movimiento de la Izquierda Revolucionaria (MIR), ging eine Koalition mit Ex-Diktator Hugo Banzers ADN ein und ließ sich im August 1989 mit deren Stimmen zum Präsidenten wählen. Mehr als alles andere werden die politischen Parteien mit Korruption und Nepotismus identifiziert. (vgl. Lazarte, 1998; Ferrufino, 1998) So erklärt es sich, dass Sindicatos, neben Nachbarschaftskomitees, Berufsgenossenschaften und anderen Organisationsformen der Zivilgesellschaft eine so wichtige Rolle spielen: "Die wesentlichsten Fragen der Gesellschaft werden nicht nur nicht über die Parteien kanalisiert, sondern sie werden ohne deren Beteiligung gelöst. In dieser Hinsicht haben die Sindicatos eine beträchtliche Überlegenheit und Effektivität." (Lazarte, 1998, 37)

 

Die sozio-ökonomische und die ethnisch-kulturelle Polarisierung einerseits und der extrem hohe gesellschaftliche Organisationsgrad andererseits haben dazu geführt, dass in den Diskursen zwar beträchtliche politische Radikalität herrscht und politische Auseinandersetzungen oft mit großer Härte geführt werden (Straßenblockaden, gewalttätige Übergriffe von Seiten der Protestierenden wie der Sicherheitskräfte; vgl. zuletzt die blutigen Auseinandersetzungen unter Minenarbeitern in Huanuni Anfang Oktober 2006), dass aber zivilgesellschaftliche Organisationen mit gewählten und allgemein bekannten Führern das Bild bestimmen - und nicht bewaffnete Aufständische, wie in manchen benachbarten Ländern. Soziale Auseinandersetzungen münden vielmehr fast immer in

 

(dann mehr oder weniger erfolgreiche) Verhandlungen zwischen den Akteuren, oft unter Vermittlung der katholischen Kirche oder des Menschenrechts-Ombudsmannes. Mini-Guerillaprojekte hat es in der Nachfolge Che Guevaras bis in die späten 80er Jahre hinein gegeben. Sie sind alle kläglich gescheitert.

 

Politische Entwicklung

 

Die Wahlen vom Dezember 2005 brachten einen politischen Erdrutsch. Die oben beschriebenen sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Konflikte hatten sich ab dem Jahr 2000 in einer Weise zugespitzt, dass Bolivien in der Außenbetrachtung vom "Musterland der Reformen" und "Beispiel demokratischer Stabilität" zum Grenzfall eines "failed state" herabsank: Permanente Proteste und Straßenblockaden lähmten auch das wirtschaftliche Leben und führten zu politischer Anomie. Zwei Präsidenten stürzten. Die Proteste waren von verschiedensten sozialen Bewegungen und Forderungen getragen: Gewerkschaften, Indígena-Gruppen, Landlose, Kokabauern, Lehrer, Polizisten u.a.m. Einigendes Band wurde die Frage des Umgangs mit den nationalen Rohstoffen (Rohstofftrauma und Souveränitätstrauma). In einem Plebiszit sprach sich eine große Mehrheit im Jahr 2004 für die Renationalisierung der Erdöl- und Erdgasressourcen aus, sowie für die Durchführung einer verfassunggebenden Versammlung. Forderungen, welche die damalige Regierung unter Carlos D. Mesa nicht umsetzen konnte oder wollte. Sie trat zurück.

 

Das Movimiento al Socialismo (MAS) des Kokabauern Evo Morales entwickelte sich im Kontext der oben beschriebenen Krise von der singulären Interessenvertretung der Kokabauern zum Kristallisationspunkt für die Masse der Unzufriedenen im Land. Evo Morales gelang die politische Fusion der sozialen mit der ethnisch-kulturellen Frage und die glaubwürdige Besetzung des traumatischen Themas der nationalen Souveränität. Die Wahlen vom 18. Dezember 2005 wurden zur Revolution mit dem Stimmzettel: Sie waren von einer Volksbewegung erzwungen (regulärer Wahltermin wäre erst im Sommer 2007 gewesen). Eine Rekordwahlbeteiligung (84%) führte zu einem Rekordergebnis von 53,7% für MAS, 25 Prozentpunkte vor dem zweiten PODEMOS (29%). Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie (1982) wurde eine absolute Mehrheit erzielt. Und was noch frappierender ist: Die Altparteien sind bis auf das traditionsreiche MNR (mit ganzen 6% der Stimmen) von der politischen Bildfläche verschwunden. Der nunmehrige Vizepräsident sprach nicht zu Unrecht von der Beseitigung eines katastrophalen Patt zwischen den gesellschaftlichen Blöcken. Die Wählerinnen und Wähler wollten den Wandel. Sie haben sich gegen den Stillstand entschieden - und für eine weithin große Unbekannte. Allerdings: Bei den zeitgleichen Wahlen der Departments-Präfekten gingen nur drei von neun Departments an MAS-Kandidaten.

 

Die Umsetzung dieser Revolution mit dem Stimmzettel erweist sich freilich als Revolution mit Hindernissen: enorm komplex und konfliktiv. Evo Morales hat sich eine "Neugründung Boliviens" vorgenommen und möchte Chef einer "Regierung der sozialen Bewegungen" sein. Das ruft den Widerstand derer hervor, die dabei etwas zu verlieren haben. Die massive Einbeziehung von Personen aus bisher unterprivilegierten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen in die Regierungsverantwortung ist ein historisches Novum, das von den traditionellen Eliten mit Misstrauen gesehen wird und vielfach auf Ablehnung stößt, der nicht selten auch mit rassistischen Untertönen Ausdruck verliehen wird.

 

Im Vordergrund der politischen Auseinandersetzung stehen dabei die "Neugründung Boliviens" durch eine verfassunggebende Versammlung und die Autonomiefrage. Die Regierung beeilte sich mit der Umsetzung der Ergebnisse des Referendums aus dem Jahr 2004 und legte bereits am 4. März 2006 ein Ley de Convocatoria a la Asamblea Constituyente und ein Ley de Convocatoria al Referendum para las Autonomías vor, die beide vom Kongress im Konsens mit der Opposition verabschiedet wurden. Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung (Constituyente) vom 2. Juli 2006 wurde die MAS in ihrer absoluten Mehrheit bestätigt. Sie erhielt 50,7% der Stimmen und damit 137 der 255 Sitze. Das bedeutet ein Minus von 3% gegenüber den Parlamentswahlen vom Dezember 2005. Die wichtigste Oppositionspartei, die neoliberale PODEMOS, hat ihr Wahlergebnis vom Dezember 2005 nahezu halbiert und erreichte nur 15,3% der Stimmen, die sozialliberale UN 7%. Indes verfehlte Morales eine Zweidrittelmehrheit im Verfassungskonvent, die er sich als Wahlziel gesetzt hatte. Die hätte er gebraucht, um einen Verfassungsentwurf im Alleingang auszuarbeiten und zu verabschieden. Die Constituyente trat am 6. August 2006 in Sucre zusammen und war lange Zeit hindurch paralysiert; ihr Arbeitszeitraum wurde schließlich bis zum 14. Dezember 2007 verlängert.

 

Die zur 2/3-Mehrheit notwendigen 170+x Stimmen wurden verfehlt, so dass 85+x der Opposition nahe stehende Constituyentes den Verfassungsprozess blockieren konnten. Sie forderten das Prinzip der 2/3 Mehrheiten auch für die tägliche Arbeit in der Constituyente. Das Einberufungsgesetz trifft dazu keine Festlegungen. 1 Nachdem man sich dergestalt Wochen lang noch nicht einmal auf eine Geschäftsordnung für die Debatten hatte einigen können, peitschte die Fraktion der MAS in einer nächtlichen Sitzung das Prinzip der einfachen Mehrheit durch, was zu Tumulten im Sitzungssaal und einem Aufruf der Opposition zum Generalstreik führte. Beide Seiten mobilisierten ihre Basis. MAS-Anhänger riefen zur Blockade der Oppositions-Hochburg Santa Cruz auf. Sowohl dies, als auch der Generalstreik scheiterten zwar, doch noch bevor es im Rahmen der Constituyente zu irgendwelchen inhaltlichen Debatten kam, hatte die Straße das Gesetz des Handelns an sich gezogen. Die Polarisierung folgte dem Gegensatz zwischen Hochland und Tiefland (dazu sogleich mehr).

 

Bis Ende des Jahres 2006 beherrschte ein Hungerstreik von Oppositionspolitikern "für die 2/3" und "zur Verteidigung der Demokratie" die Schlagzeilen sowie eine zunehmende Zahl gewalttätiger Zusammenstöße zwischen Anhängern des Regierungslagers und der Opposition in den Tieflanddepartments. So genannte Encuentros Territoriales, bei denen die Constituyentes Vorschläge aus den Regionen aufnehmen sollten, verliefen Anfang 2007 in den Autonomiehochburgen bereits tumultartig. In Santa Cruz wurde der Versuch abgebrochen, nachdem Constituyentes der MAS tätlich angegriffen worden waren. Eine einseitige Entscheidung der Regierung, aus der Energiesteuer Impuesto Directo de Hidrocarburos (IDH) zu Lasten der Departments eine Rentenreform zu finanzieren, hat die Gräben weiter vertieft.

 

Kaum war der Weihnachtsfriede vorbei, da forderte der Präfekt des Departments Cochabamba, Manfredo Reyes Villa, im Januar 2007 ein Autonomiereferendum, obwohl sich sein Department keine sechs Monate vorher im Referendum mit deutlicher Mehrheit gegen die Autonomieoption ausgesprochen hatte. Eine erfolgreiche Provokation:

Es kam zu gewalttätigen Unruhen, die Präfektur wurde angezündet. Reyes Villa floh in die Oppositionshochburg Santa Cruz und es sah nicht gut aus, dass der Präsident der Republik zum Dialog und zur Mäßigung aufrief, wo er doch gleichzeitig noch immer auch Präsident der cocaleros - der organisierten Kokabauern - des Chapare ist, die den Protest gegen den Präfekten anführten. Die Opposition sprach von einer "stalinistischen Verschwörung", mit deren Hilfe oppositionelle Departmentspräfekten "aufgerollt" werden sollten. Und zeitgleiche Demonstrationen gegen den Präfekten von La Paz schienen diese Sicht der Dinge zu bestätigen.

 

Inzwischen arbeitete die Constituyente leidlich und kam in den Kommissionen in erstaunlich vielen Fragen zu Übereinstimmungen, da bahnte sich mit der Hauptstadtfrage der nächste Konflikt an. Mit dem Niedergang des Bergbaus im benachbarten Potosí war Ende des 19. Jahrhunderts der Regierungssitz von Sucre nach La Paz verlegt worden. Das schmucke Kolonialstädtchen Sucre mit seinen heute 200.000 Einwohnern blieb nominelle Hauptstadt, behielt den Obersten Gerichtshof und war nun auch Sitz der Constituyente. Man empfand dies in Sucre als historische Ungerechtigkeit, doch konnte man damit hundert Jahre lang gut leben ohne dass die Frage eine ernsthafte Rolle gespielt hätte. Bis nun plötzlich Sucre und Santa Cruz verlangten, Sucre solle wieder vollwertige Hauptstadt werden und die Mehrheitsfraktion auf Antrag von La Paz die Behandlung dieser Frage in der Constituyente ablehnte. Abgesehen von der fehlenden Infrastruktur und den horrenden Kosten: Kompromissangebote, bestimmte Behörden nach Sucre zu verlegen, wurden ausgeschlagen, capitalidad plena gefordert und die Stimmung weiter angeheizt, bis es zu Verfolgungen von MAS-Anhängern und regierungsnaher Constituyentes kam und die verfassunggebende Versammlung im Chaos endete.2 Gegner der Hauptstadtforderung und Anhänger der MAS wurden steckbrieflich als "Verräter" angeprangert. Die Constituyente musste erst in einen Militärkomplex außerhalb der Stadt verlegt werden und schließlich ihren Tagungsort Sucre ganz verlassen, weil dort die Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden konnte. Der Departmentspräfekt David Sánchez (Mitglied der MAS), der sich um Vermittlung bemühte, musste sein Amt niederlegen und hat unter massiven Drohungen gegen sich und seine Familie - unter anderem war sein Haus angezündet worden - im benachbarten Perú um Asyl angesucht. Die Polizei zog aus Sucre ab. Bei gewalttätigen Demonstrationen gab es drei Tote. (vgl. AI: UA 318/07) Der Verfassungsentwurf wurde dann in Oruro verabschiedet, die Oppositionsfraktionen nahmen - bis auf die der UN - daran nicht mehr teil (nur 165 der 255 Mitglieder waren noch anwesend) und wollen die neue Verfassung nicht respektieren, egal wie die gesetzlich vorgeschriebene Volksabstimmung darüber ausgeht. Während die Regierung den Verfassungsentwurf mit einem Volksfest in La Paz feierte, verabschiedeten in den vier Tieflanddepartments "Bürgerkomitees" jeweils eigene Autonomiestatuten.3 (Mutmaßliche) Anhänger der MAS werden dort bedroht und verfolgt; in Santa Cruz wurden, wie in Sucre, mit Hilfe von Steckbriefen regelrechte Hetzjagden heraufbeschworen.4 Die Armeeführung bekundete wiederholt ihre Loyalität zum Präsidenten, weil es die Situation erfordert.

 

Bolivien, so scheint es, befindet sich wieder an der Schwelle zur Unregierbarkeit und könnte auseinander brechen. Regierung und MAS haben sich letztlich auch durch die absurdesten Provokationen immer wieder auf das Glatteis einer zunehmenden Polarisierung und Konfrontation ziehen lassen. Trotz erstaunlich weitgehender Einigungen: letztlich haben sie es nicht verstanden, innerhalb der Constituyente zu einem 2/3-Konsens zu kommen. Fragen drängen sich auf: Wieso konnte die Regierung über Wochen und Monate zunehmend weniger die Sicherheit der Constituyentes gewährleisten, bis sie schließlich mit dem Abzug der Polizei aus Sucre ganz zusammenbrach? Wieso wurde keine Bannmeile geschaffen? Warum verhält man sich noch immer so, als wäre man eine außerparlamentarische Opposition und schickt statt der staatlichen Ordnungskräfte irgendwelche sozialen Organisationen los, um Sicherheit zu schaffen? Das geschah zum Schutz der Constituyente in Sucre und später in Oruro. Während der Beratungen über die Durchführung der Referenden war der Kongress Ende Februar 2008 von der MAS nahe stehenden sozialen Organisationen umringt und es kam zu Pöbeleien gegen oppositionelle Abgeordnete; wenigstens zweimal wurden ("bürgerliche") Friedensdemonstranten in La Paz von MAS-nahen Gegendemonstranten attackiert. Man will eine Regierung der sozialen Bewegungen sein und deren Mobilisierung aufrechterhalten, doch gefährdet man dadurch die Rechtstaatlichkeit und das Ansehen der Regierung. Andererseits scheint Morales auf eine Deeskalationsstrategie zu setzen und wie bei den Auseinandersetzungen zwischen Bergarbeitern in Huanuni vom Herbst 2006 Blutvergießen durch die offiziellen Sicherheitskräfte zu vermeiden. Sein Wahlsieg kam 2005 auch durch die Unterstützung jener zustande, die die ständigen Auseinandersetzungen satt hatten. Die Scharfmacher lassen in Abwesenheit inhaltlicher und personeller Alternativen keine Gelegenheit aus um Situationen zu schaffen, wo die Regierung Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleisten kann, was auf sie zurückfallen würde und nicht auf die Unruhestifter. Ein Strickmuster, ganz wie bei den Vorbereitungen des Putsches gegen Allende in Chile im Jahr 1973.

 

Ist damit Evo Morales' wichtigstes Projekt, das einer Neugründung Boliviens, gescheitert? Dass ein solches Projekt den Widerstand derer hervorrufen würde, die dabei etwas zu verlieren haben, war klar. Aber die MAS ist wohl auch Opfer ihrer Unerfahrenheit und ihres Ehrgeizes geworden, als sie das von ihr selbst in der Opposition geforderte Projekt einer Constituyente möglichst schnell umsetzen wollte. Das hat sich gerächt. Trotzdem: Letztlich wurde der Verfassungsprozess von außen blockiert. Die einzige strittige Frage, die innerhalb der Constituyente offen geblieben war5, wird nun in einem Referendum dem Volk zur Entscheidung vorgelegt, bevor der Gesamtentwurf dann ebenfalls in die Volksabstimmung geht, wie es der Artikel 26 des Einberufungsgesetzes vorsieht. Ungeachtet des von ihr selbst angezettelten und von der Regierung nicht verhinderten Chaos:

Anders als die Opposition behauptet, wurde der Verfassungsentwurf sehr wohl mit den gesetzlich notwendigen zwei Drittel der Stimmen verabschiedet - zwei Drittel "der Anwesenden" fordert das auch in diesem Punkt schlecht gemachte, aber im Konsens auch von den Oppositionsfraktionen mit verabschiedete Einberufungsgesetz. (Vgl. FN 1)

 

Gleichzeitig hat Morales den oppositionellen Präfekten vorgeschlagen, ihr politisches Schicksal und seines ebenfalls zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen, was diese ablehnten. Der Nationale Wahlgerichtshof hat sich inzwischen (Stand Anfang März 2008) geweigert, die Referenden durchzuführen, weil diese formal vom Kongress beschlossen werden müssten.

 

"Geisterthemen" bestimmten die politische Auseinandersetzung, hinter denen sich Machtfragen verbargen. Sachfragen traten demgegenüber in den Hintergrund. Auch die haben es in sich, obwohl hier Einigungen nicht unmöglich erscheinen. Die brisanteste ist die der Autonomie, wie sie die Tieflanddepartments für sich gefordert hatten. Traditionelle und neue Eliten des Tieflands im Osten, insbesondere in den an Erdöl- und -gasvorkommen reichen Departments Santa Cruz und Tarija, begegneten den sozialen Forderungen und Protestbewegungen, wie sie sich besonders im Hochland artikulierten, mit Autonomieforderungen und Separationsdrohungen. Lange vor der MAS-Regierung strebte ein Comité Pro Santa Cruz nach mehr Autonomie. Nach Informationen der spanischen Tageszeitung "El País" (30.1.2005) kommt das Department Santa Cruz für mehr als 30% des bolivianischen Bruttoinlandsprodukts auf, für 54% der bolivianischen Exporte; 43,8% der ausländischen Investitionen sind dort angesiedelt. Die örtlichen Eliten verstehen sich als das dynamische Herz Boliviens, dessen Rhythmus durch den politischen Radikalismus des Hochlands und den Zentralismus von La Paz gestört werde. Im Konflikt Tiefland gegen Hochland stehen jene, die sich als Gewinner der Globalisierung verstehen den Globalisierungsgegnern oder -verlierern gegenüber.6

 

Zeitgleich mit den Wahlen zur Constituyente war darüber abgestimmt worden, ob die Bolivianerinnen und Bolivianer Autonomie wollen, deren konkrete Ausgestaltung ebenfalls der Constituyente selbst vorbehalten sein sollte. MAS hatte zu einem Nein aufgerufen und setzte sich hier landesweit mit 57,5% durch - gegen 42,4% Ja-Stimmen. Allerdings gewann das Autonomie-Referendum in den Departments Santa Cruz (71%), Beni (73%), Tarija (65%) und Pando (52%) jeweils klar; die Hochlanddepartments stimmten dagegen.

 

Die Autonomieoption bezieht sich laut Gesetzestext jedoch nicht auf das landesweite Abstimmungsergebnis sondern soll für jene Departments gelten, deren Bevölkerung mehrheitlich dafür gestimmt hatte. Die Regierung reagierte auf die Autonomieforderungen lange Zeit nur mit einem trotzigen "Nein" und überließ damit das Feld der Opposition. Dergestalt konnte sich das Thema Autonomie zum Kristallisationskern für die nach den Wahlschlappen parteipolitisch heimatlos gewordene politische Rechte entwickeln, die sich zusammen mit den alten Eliten um die Präfekten der Tieflanddepartments und ihre Autonomieforderungen scharte. Ein grober Fehler der MAS!

 

Gleichzeitig wurde bei den Verhandlungen über eine politische und gesellschaftliche Neuordnung im Rahmen der Constituyente auch deutlich, dass die hinter der MAS stehenden sozialen und indigenen Bewegungen keinen monolithischen Block bilden, sondern durchaus auch unterschiedliche Vorstellungen verfolgen. Dabei lassen sich grob Organisationen stärker indigenistischer von solchen stärker gewerkschaftlicher Orientierung unterscheiden. Die Aymara-Organisation CONAMAQ (Consejo Nacional de Ayllus y Markas del Qullasuyu) scherte beispielsweise ganz aus dem Verfassungsprozess aus.

 

Bei den Wahlen vom Dezember 2005 erlebten nicht nur die traditionellen Altparteien einen Sturz in die politische Bedeutungslosigkeit, auch Felípe Quispes Movimiento Indígena Pachacutic (MIP), im Jahr 2002 noch mit 6% der Stimmen erfolgreich und im Parlament vertreten, rutschte unter die 3%-Grenze und verlor den Parteistatus. Die kämpferischen Aymara-Nationalisten mit ihren teilweise ethno-chauvinistischen Ansichten und ihrer Forderung nach einer Nación Aymara, wurden bei den Wahlen vom Dezember 2005 gewissermaßen durch die MAS neutralisiert und haben sich vorerst als Partei, aber wohl nicht mit ihrer ideologischen Ausrichtung aufgelöst, sondern werden diffus dem regierungsnahen Lager zugerechnet. Insofern ist es im "populären", "indigenistischen" oder "linken" Lager zu einer beträchtlichen neuen Unübersichtlichkeit gekommen.

 

Wie auch immer: Der Entwurf zur neuen Verfassung sieht neben Gemeindeautonomie, regionaler Autonomie, Autonomía Indígena

Originaria Campesina auch Autonomien auf Departmentsebene vor: Nach Art. 275 wird diese Möglichkeit durch ein Autonomiereferendum auf Departmentsebene eingeleitet. Die Details der Autonomiestatuten kann demnach jedes Department durch eine Asamblea Autónoma oder einen Consejo Autónomo selbst ausarbeiten - im Rahmen der von der Verfassung vorgegebenen Bedingungen wie etwa der territorialen Integrität (Art. 276). Näheres regelt ein erst noch zu erarbeitendes und von dem, auf der Basis der neuen Verfassung dann zu wählenden, neuen Parlament, mit 2/3 der Stimmen zu verabschiedendes Ley Marco de Autonomías y Descentralización (Art. 272).7

 

Wenn nun in den Tieflanddepartments Bürgerversammlungen zweifelhafter Zusammensetzung und Legitimation Autonomiestatuten verabschieden so ist festzuhalten, dass diese Option in der noch geltenden Verfassung gar nicht vorgesehen ist! Man bewegt sich insofern klar außerhalb des gültigen rechtlichen Rahmens.

 

Die am 1. Mai 2006 erfolgte die Renationalisierung der Erdöl- und Erdgasvorkommen und damit die Umsetzung des erwähnten Plebiszits von 2004 wird von der Opposition ebenso abgelehnt, wie die außenpolitische Hinwendung zu Kuba und Venezuela und die Landreform. Diese Themen stehen aber klar im Schatten der Autonomiefrage und der "Demokratiefrage": Häufig jenseits konkreter Sachfragen werfen sich beide Lager undemokratisches, totalitäres beziehungsweise illegales Vorgehen vor.

 

Auf Ablehnung der Opposition stößt auch die neue Drogenpolitik des Präsidenten und Kokabauern Evo Morales, die im Bereich der Fahndung und der Beschlagnahmungen bessere Ergebnisse vorweisen kann als die der Vorgängerregierungen und im Bereich des Kokaanbaus zumindest gemischte Resultate. Ihr Ansatz einer Kontrolle und Reduzierung des Anbaus über die sozialen Organisationen der Bauern scheint dort zu funktionieren, wo solche existieren und stark sind. Insgesamt gibt ein Neuanstieg der Anbaufläche um 8% (von 2006-2007) zur Sorge Anlass, der sich auf abgelegene Zonen und Naturschutzgebiete konzentriert. Im Kontext des gegenständlichen Berichts ist dies vielleicht die wichtigste Leistung der Regierung Morales: Die Kokakontrolle geschieht nun im Konsens mit den sozialen Organisationen und friedlich, während sie im letzten Vierteljahrhundert die wichtigste Ursache für soziale Konflikte war, wobei es bei der Vernichtung von Kokafeldern wie beim Widerstand der Bauern dagegen immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen gekommen war. Inwieweit dieser neue Ansatz auch drogenpolitisch erfolgreich sein kann, bleibt abzuwarten.

 

Menschenrechtssituation

 

Systematische, im engeren Sinne politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen hat es in Bolivien seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gegeben und es gibt sie auch weiterhin nicht; in die Regierungszeit von Evo Morales fällt eine Urgent Action von Amnesty International (318/07), die die Vorfälle von Sucre vom 24. und 25. November 2007 zum Thema hat; alle Human Rights Watch - Berichte datieren aus der Zeit vor dem Dezember 2005. Wohl aber gab und gibt es weiterhin Klagen über Übergriffe der schlecht ausgebildeten und unterbezahlten Sicherheitskräfte und Straflosigkeit in solchen Fällen. Polizei und Justiz wird zudem vielfach Korruption vorgeworfen. Hier ist - abgesehen vom Bereich der Kokapolitik - auch durch die neue Regierung bisher wenig geschehen.

 

Aber: Die politische Auseinandersetzung ist wieder härter geworden! Der Regierung werden in diesem Zusammenhang wiederholte (verbale) Angriffe gegen Presse- und Justizorgane vorgeworfen. Auch Bedrohungen und Verfolgungen politischer Gegner haben im Zuge dessen bedenklich zugenommen; in Santa Cruz und Sucre hat man versucht, durch Steckbriefe regelrechte Pogromstimmung zu erzeugen. Diese Aktionen gehen vor allem (aber nicht ausschließlich) von Kreisen aus, die der Opposition nahe stehen. Dabei treten weder Regierungsorgane noch die Opposition als Täter hervor, sondern soziale Organisationen oder Einzelpersonen, die als ihr nahe stehend gelten, so etwa das Comité Cívico von Sucre oder die Juventud Cruceñista in Santa Cruz. Inwieweit es sich im Einzelfall um Verselbständigung handelt oder um Instrumentalisierung, ist schwer auszumachen. Die Lage ist sehr unübersichtlich.

 

In der politischen Auseinandersetzung wie im Alltag wird bemerkenswert geringer Wert auf Verrechtlichung gelegt. Der Verfassungsrechtler Stefan Jost (2003) spricht vom erlebnisorientierten Umgang mit Gesetzestexten und Verfassungsparagraphen; im Alltag beobachten wir eine erschreckende Zunahme von Fällen der Lynchjustiz.

 

Große Probleme liegen daneben nach wie vor im Bereich der sozialen und der kulturellen Menschenrechte, auch wenn sich die neue Regierung gerade hier Großes vorgenommen hat. Führte in der Vergangenheit die prekäre Situation auf dem Arbeitsmarkt zu einer beträchtlichen Arbeitsemigration in die Ballungszentren Argentiniens die übrigens andauert, so führt heute auch die Angst vor zunehmenden politischen Spannungen und/oder sozialen Veränderungen zur Auswanderung gerade von Mittel- und Oberschichtsangehörigen.

 

Gewerkschaften

 

Die Gewerkschaften und insbesondere die Bergarbeitergewerkschaft haben in den letzten 20 Jahren seit 1985 stark an gesellschaftlicher und politischer Bedeutung verloren. Es erscheint nicht sehr plausibel, dass jemand wegen früherer gewerkschaftlicher Tätigkeit von der aktuellen Linksregierung verfolgt wird. Auseinandersetzungen gibt es bei aktuell wieder gestiegenen Preisen für Mineralien zwischen Bergleuten des immer noch vorhandenen staatlichen Sektors und Angehörigen von "Kooperativen", die aus den Stilllegungen und Entlassungen hervorgegangen sind. Es sind dies im Kern Konflikte um Schürfrechte.

 

Quellen:

 

Asamblea Constituyente de Bolivia: "Nueva Constitución Política del Estado Aprobada en grande, detalle y revisión", o.O., Diciembre 2007.

 

AI - Amnesty International: Urgent Action, 13.1.2005, 18.5.2005 und 28.11.2007;

 

Bopp, Franziska/ Ismar, Georg (Hg.): "Bolivien. Neue Wege und alte Gegensätze", Wissenschaftlicher Verlag, Berlin, 2006;

 

CEDLA/ILDIS (Centro de Estudios para el Desarrollo Laboral y Agrario/Instituto Latinoamericano de Investigaciones Sociales):

"Informe Social 1", La Paz, 1994;

 

Dunkerley, James: "Rebellion in the Veins", Verso, London, 1984;

 

Ferrufino Valderrama, Alfonso: "La representatividad del sistema politico en Bolivia: una tarea de la reforma partidaria" in: Manz, Thomas/ Zuazo, Moira (coord.): "Partídos politicos y representación en América Latina", FES-ILDIS, La Paz, 1998;

 

Human Rights Watch: "Bolivia Under Pressure", May 1st 1996;

 

Human Rights Watch: "Human Rights Violations and the War on Drugs", July 1st 1995;

 

Jost, Stefan: "Bolivien: Politisches System und Reformprozess 1993-1997", Leske&Budrich, Opladen, 2003;

 

Lazarte, Jorge: "Partidos políticos, problemas de representatividad y nuevos retos de la democracia. Una reflexión con referencia empírica a la situación en Bolivia" in: Manz, Thomas/Zuazo, Moira (coord.): "Partidos políticos y representación en América Latina", FES-ILDIS, La Paz, 1998;

 

Lessmann, Robert: "Drogenökonomie und internationale Politik", Vervuert-Verlag, Frankfurt/M., 1996;

 

Lessmann, Robert: "Zum Beispiel: Bolivien", Lamuv-Verlag, Göttingen, 2004;

 

Lessmann, Robert: "Che Guevara", Hugendubel-Verlag, Kreuzlingen/ München, 2006;

 

Lessmann, Robert: "Bolivien - Morales: Revolution mit dem Stimmzettel" in: Berger, Herbert/ Gabriel, Leo (Hg.): "Lateinamerika im Aufbruch. Soziale Bewegungen machen Politik", Mandelbaum Verlag, Wien, 2007.

 

Raza, Werner G.: "Desarrollo Sostenible en la Periferia Neoliberal", La Paz, 2000;

 

Rivera Cusicanqui, Silvia: "La Raíz: Colonizadores y Colonizados" in: Albó, Xavier/ Barrios, Raúl (coord.): "Violencias Encubiertas en Bolivia 1", La Paz, o.J.

 

UNDP - United Nations Development Program: "Human Development Report 2006", New Yo

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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